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Das „Schwarzbuch des Kommunismus“: ein ideologisches Machwerk

Eingereicht on 16. Dezember 2017 – 17:19

Im Jahr 1995, sechs Jahre nach dem Fall der Mauer, verfasste der französische Historiker François Furet einen dicken Schinken, den er als Grabstein für den verstorbenen Kommunismus verstanden wissen wollte: „Die Vergangenheit einer Illusion. Essay über die kommunistische Idee im 20.Jahrhundert“. 1997 veröffentlichte eine Gruppe von Historikern unter der Leitung von Stephane Courtois ein noch monumentaleres Werk, das „Schwarzbuch des Kommunismus. Verbrechen, Terror, Repression“. 800 Seiten, um die weltweiten Verbrechen des „Kommunismus“ aufzulisten und die Leichen zu zählen, mit denen seine Geschichte gepflastert ist. Diesmal musste der Kommunismus wieder ausgegraben werden, um ihn noch einmal zu richten. Aus Angst, er könne immer noch als Gespenst umgehen… Der Nationalsozialismus hat sein Nürnberg gehabt. „Wann kommt endlich das Nürnberger Tribunal des Kommunismus?“, fragen die Historiker und Autoren des Buchs, die sich zu Richtern der Geschichte aufgeschwungen haben und deren Urteil schon feststeht: Der Kommunismus, untrennbar mit dem Stalinismus verbunden, war mindestens so kriminell wie der Nationalsozialismus. Dabei werden Orientierungspunkte verwischt, Überzeugungen aus der Fassung gebracht und ein Geschichtsbild entworfen, wonach das 20.Jahrhundert nicht mehr als eine Ansammlung von Leichen, die Oktoberrevolution ein fürchterlicher Irrweg und das kommunistische Ideal ein verhängnisvolles Ungeheuer gewesen sei.

Damit Geschichte sich nicht allein auf Repression reduziert, die Vernunft nicht unter der Raserei begraben wird und Opfer und Täter nicht verwechselt werden, muss vor allem die Oktoberrevolution studiert werden, damit daraus Lehren für die Zukunft gezogen werden können. Ein Ereignis, das viel zu bedeutend war, als dass es von ein paar Historikern, selbsternannten Inquisitoren, eingestampft werden könnte. Aus einer Broschüre mit dem Titel „Kommunismus und Stalinismus“, die in Frankreich als Beilage zu „Rouge“, der Wochenzeitung der französischen Sektion der IV.Internationale erschienen ist, veröffentlichen wir hier den ersten Teil. [Redaktion SoZ*

Daniel Bensaid. Im Jahre 1798, inmitten einer Periode der Reaktion, schrieb Immanuel Kant über die Französische Revolution, ein solches Ereignis werde, trotz Niederlagen und Rückschlägen, nicht in Vergessenheit geraten. Denn die zerrissene Zeit habe auch flüchtig den Blick auf das Versprechen einer Befreiung der Menschheit freigegeben. Kant hatte recht. Unser Problem heute ist herauszufinden, ob das grosse  Versprechen, das mit dem Namen der Oktoberrevolution verbunden ist, dieses Ereignis, das die Welt erschütterte und als Licht aus der Finsternis emporstieg zum Zeitpunkt des ersten weltweiten Abschlachtens der Menschheit, ebenfalls „dem Gedächtnis der Völker anheimgegeben“ werden kann. Es geht darum, Erinnerungsarbeit zu leisten und um dieses Gedächtnis zu kämpfen.

Der 80.Jahrestag der Oktoberrevolution wäre fast unbemerkt vorübergegangen. Dem Schwarzbuch des Kommunismus kommt zumindest das Verdienst zu, die „Frage des Oktober“, eine jener grossen Streitfragen, über die man sich nie einigen wird, erneut aufs Tapet gebracht zu haben. Das Ziel der Operation, vom Projektleiter Stephane Courtois klar verkündet, ist dabei, eine strikte Kontinuität, vollendete Kohärenz zwischen Kommunismus und Stalinismus, zwischen Lenin und Stalin, dem Leuchtfeuer der beginnenden Revolution und der eisigen Dämmerung des Gulag herzustellen: „Stalinist und Kommunist, das ist dasselbe“, schreibt er am 9.11. im „Journal de Dimanche“. Es ist unerlässlich, die Frage zu beantworten, die der grosse sowjetische Historiker Michail Güfter aufgeworfen hat: „Diesen Knoten gilt es zu lösen: Ist der Gang der Ereignisse tatsächlich ein Kontinuum, oder handelt es sich um zwei Ereignisstränge, die eng miteinander verschlungen sind, aber trotz allem auf verschiedene Ursachen verweisen, auf zwei verschiedene politische und moralische Welten?“ („Stalin ist gestern gestorben“, „L’Homme et la societe“, Nr.2/3, 1988.) Eine zentrale Frage, von der sowohl die Fähigkeit abhängt, das zu Ende gehende Jahrhundert zu verstehen, wie auch unsere Handlungslinien in dem aufgewühlten Zeitalter, das vor uns liegt. Wenn der Stalinismus — wie viele behaupten — nicht mehr gewesen ist als eine einfache „Abweichung“ von oder „eine tragische Fortsetzung“ der kommunistischen Idee, dann müssten daraus andere, radikalere Schlussfolgerung hinsichtlich dieser Idee selbst gezogen werden.

Das Gespenst geht wieder um

Das ist es auch, worauf die Autoren des Schwarzbuchs hinaus wollen.  Zunächst verwundert an ihnen der anachronistische Ton des Kalten Kriegers, den Stephane Courtois und einige in der Presse erschienene Artikel anschlagen. Während der Kapitalismus, der schamhaft in „marktwirtschaftliche Demokratie“ umgetauft wird, sich nach dem Zerfall der Sowjetunion gern als Gesellschaftsordnung ohne Alternative und absoluter Sieger am Ende dieses Jahrhunderts darstellt, enthüllt die Verbissenheit der Autoren in Wirklichkeit eine grosse verdrängte Angst: die Angst, es könnten die Verderbtheiten und Plagen des übriggebliebenen Systems umso greller hervortreten, als es mit seinem bürokratischen Double auch sein bestes Alibi verloren hat. Es kommt also darauf an, vorsorglich alles zu verteufeln, was auf eine mögliche andere Zukunft verweist. Denn jetzt, wo die stalinistische Fälschung untergegangen ist, wo die kommunistische Idee nicht länger bürokratisch usurpiert werden kann, kann letztere erneut als Richtschnur dienen, als Gespenst umgehen…

Wieviele glühende alte Stalinisten haben aufgehört, Kommunisten zu sein, weil sie zwischen Stalinismus und Kommunismus nicht zu unterscheiden vermochten, und haben sich mit dem Feuereifer von Konvertiten der liberalen Sache angeschlossen? Stalinismus und Kommunismus sind nicht nur zwei verschiedene, sondern auch zwei gegensätzliche Dinge. Dies in Erinnerung zu rufen, ist nicht die geringste Aufgabe, die wir den zahlreichen kommunistischen Opfern des Stalinismus schulden. Der Stalinismus ist nicht eine Variante des Kommunismus, sondern die Bezeichnung für die bürokratische Konterrevolution. Dass aufrichtige Kämpfer gegen den Nationalsozialismus oder gegen die Folgen der weltweiten Krise zwischen den beiden grossen Kriegen davon nicht immer ein Bewusstsein hatten und ihre manchmal zweifelnden, zerrissenen Existenzen weiter in den Dienst der Sache stellten, ändert daran nichts. Es handelte sich trotzdem um „zwei verschiedene und unversöhnliche politische und moralische Welten“. Diese Antwort ist der von Stephane Courtois entgegengesetzt.

Geschichte auf Zahlen reduziert

Courtois wehrt sich manchmal dagegen, er habe ein Nürnberg des Kommunismus gefordert, wahrscheinlich weil diese Forderung gern von Jean- Marie Le Pen vorgetragen wird und ihn dies stört. Aber das Schwarzbuch macht nicht nur keinen Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus, es banalisiert den Nationalsozialismus, indem es einen angeblich strikt „objektiven“ Vergleichsmassstab einführt, die Zahl der Opfer, und diese angeblich zugunsten des ersteren spricht: 25 Millionen Tote gegen 100 Millionen, 20 Jahre Terror gegen 60 Jahre. Der erste Buchumschlag kündigte noch reisserisch 100 Millionen Tote an. In seiner Aufzählung kommt Stephane Courtois auf 85 Millionen. Auf 15 Millionen mehr oder weniger soll es nicht ankommen. Die Zählmethode ist äusserst fragwürdig. Diese makabre Grossistenrechnung, die Länder, Epochen, Ursachen und Lager ohne Unterschied durcheinanderwirft, hat etwas Zynisches und zutiefst Verachtungsvolles gegenüber den tatsächlichen Opfern. Für die Sowjetunion kommt die Rechnung auf 20 Millionen Opfer, ohne dass gesagt wird, wer genau dazu gezählt wird. In dem Artikel, den Nicolas Werth zum Schwarzbuch dazugesteuert hat (mit 300 Seiten ein Buch im Buch!), werden die annähernden Schätzwerte eher nach unten korrigiert. Er schreibt, dass Historiker heute, auf der Grundlage von genauem Archivmaterial, die Zahl der Opfer der grossen Säuberungen der Jahre 1936 bis 1938 mit 690.000 angeben. Das ist schon enorm und muss nicht zusätzlich aufgebläht werden. Er schätzt ausserdem die Zahl der Häftlinge im Gulag auf durchschnittlich 2 Millionen pro Jahr — davon konnte ein grösserer Teil befreit werden, als bisher angenommen wurde. Um auf 20 Millionen zu kommen, muss er also zu den Opfern der Säuberungen und des Gulags auch die der beiden grossen Hungersnöte (5 Millionen 1921/ 22 und 6 Millionen 1932/33) und die des Bürgerkriegs dazuzählen, kann aber nicht beweisen, dass es sich hierbei um „Opfer des Kommunismus“ handelte, also um eine kaltblütige Vernichtung. Bei dieser Methode ist es nicht schwer, ein „Rotbuch der Verbrechen des Kapitalismus“ zu verfassen, das die Opfer der Plünderungen und Völkermorde in den Kolonien, der Weltkriege, die Opfer von Arbeitsunfällen, Epidemien und Hungersnöten zusammenzählt — und nicht nur die von gestern, sondern auch die von heute. Allein für das 20.Jahrhundert käme man dabei ohne Schwierigkeiten auf mehrere hundert Millionen Opfer. Im zweiten Teil ihrer allzu oft in Vergessenheit geratenen Trilogie erblickte Hannah Arendt im modernen Imperialismus den Prägestempel des Totalitarismus und in den Konzentrationslagern der Kolonialzeit in Afrika das Vorspiel zu ganz anderen Lagern („Der Ursprung des Totalitarismus“, Bd.2: Der Imperialismus). Wenn es nicht mehr darum geht, sich mit einem konkreten Regime, einer Periode oder konkreten Konflikten auseinanderzusetzen, sondern eine Idee abzustempeln, wieviel Tote haben dann, im Lauf der Jahrhunderte, das Christentum und seine Evangelien, oder der Liberalismus und seine Laissez- faire-Ideologie auf dem Gewissen? Selbst wenn man die fantastischen Rechnungen akzeptieren wollte, die Stephane Courtois anstellt, hätte der Kapitalismus während der beiden Weltkriege in diesem Jahrhundert in Russland erheblich mehr als 20 Millionen Tote verursacht.

Spurenverwischung

Die Verbrechen des Stalinismus sind schrecklich genug, gross genug, als dass man noch welche dazu erfinden muss. Es sei denn, man will bewusst geschichtliche Spuren verwischen, wie man es auch schon anlässlich des 200.Jahrestags der Französischen Revolution versucht hat, als gewisse Historiker die Revolution gern nicht nur für den Terror oder die Vendée, sondern auch für die Toten des weissen Terrors, des Krieges gegen die Interventionsmächte oder gar für die Opfer der napoleonischen Kriege verantwortlich machten! Vergleiche zwischen dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus sind legitim und manchmal nützlich, das ist nicht neu. Aber Vergleiche sind keine Argumente, und auf die Unterschiede kommt es dabei ebenso an wie auf die Ähnlichkeiten. Das nazistische Regime hat sein Programm erfüllt und seine unheilvollen Versprechen gehalten. Das stalinistische Regime hat sich gegen das Emanzipationsprojekt des Kommunismus durchgesetzt. Es musste dafür seine Anhänger brechen. Wieviele Dissidenten und Oppositionelle zwischen den beiden Kriegen legen Zeugnis ab für diese tragische Beugung? Selbstmörder wie Majakowski, Joffe, Tucholsky, Benjamin und viele andere? Lassen sich solche Gewissenskonflikte wegen eines verratenen und entstellten Ideals bei den Nazis finden? Hitlerdeutschland musste nicht wie Stalins Russland in ein „Land der grossen Lüge“ verwandelt werden; die Nazis waren stolz auf ihr Werk, aber die stalinistischen Bürokraten konnten nicht in den Spiegel des ursprünglichen Kommunismus schauen. Wenn die konkrete Geschichte auf diese Weise in Raum und Zeit aufgelöst und bewusst durch die Wahl einer bestimmten Methode entpolitisiert wird (Nicolas Werth fordert ganz offen, die „politische Geschichte in die zweite Reihe zu verbannen“, um dem roten Faden einer aus dem Zusammenhang gerissenen und allein auf die Repression reduzierten Geschichte besser folgen zu können), bleibt nur noch ein Schattentheater übrig. Dann gilt der Prozess nicht mehr einem Regime, einer Epoche oder konkreten Tätern, sondern einer Idee: die Idee, die tötet. Einige Journalisten haben diesen Faden begeistert weiter gesponnen. Jacques Amalric z.B. (langjähriger Mitarbeiter von „Le Monde“) schreibt von der „Realität, die von einer totbringenden Utopie geboren wurde“ („Liberation“, 6.11.).

Philippe Cusin erfindet ein konzeptionelles Erbgut: „In den Genen des Kommunismus ist es eingeschrieben: es ist natürlich zu töten“ („Le Figaro“, 5.11.). Wann wird die Euthanasie gegen das Gen des Verbrechens gefordert? Wer nicht den Tatsachen, konkreten Verbrechen, sondern einer Idee den Prozess machen will, schafft unweigerlich die Kollektivschuld und das Meinungsdelikt. Laut Courtois ist das Tribunal der Geschichte nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit wirksam. Es wirkt in gefährlicher Weise auch vorbeugend, wenn er feststellt, dass „die Trauerarbeit bezogen auf die Idee der Revolution noch lange nicht vollendet ist“, und sich darüber empört, dass „offen revolutionäre Gruppen aktiv sind und sich ganz legal äussern können“! Reue ist derzeit modern. Dass die Herren Furet, Le Roy Ladurie oder Courtois oder auch Madame Kriegel mit ihrer Trauerarbeit niemals zu Ende gekommen sind, dass sie als gewendete Stalinisten ihr schlechtes Gewissen wie eine schwere Kugel hinter sich herschleppen, dass ihre Busse in der Rache kocht, ist ihre Sache. Aber diejenigen, die Kommunisten geblieben sind, ohne jemals den kleinen Vater der Völker gefeiert oder das kleine rote Buch des grossen Steuermanns heruntergebetet zu haben, was sollen die denn bereuen? Sicher haben sie sich manches Mal geirrt. Aber schaut man sich den Lauf der Dinge an, haben sie sich mit Sicherheit weder in der Sache noch im Gegner geirrt. Um die Tragödien des ausgehenden Jahrhunderts zu begreifen und daraus nützliche Lehren für die Zukunft zu ziehen, muss man den Boden der Ideologie und seine Schatten verlassen und in die Tiefen der Geschichte hinabsteigen, um die politischen Konflikte und die sich daraus ergebenden verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten nachzuvollziehen.

*Daniel Bensaid, Communisme et stalinisme. Une Reponse au Livre noir du communisme (Supplement a Rouge no. 1755, hebdomadaire de la Ligue  Communiste Revolutionnaire).

Quelle: SoZ. Sozialistische Zeitung Nr. 1 / 1998… vom 16. Dezember 2017

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