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Woker Sozialchauvinismus – Gesünder Kochen mit Cem Özdemir

Eingereicht on 29. Dezember 2021 – 12:14

Peter Schaber. Eine der ersten Amtshandlungen des neuen Agrarministers der Ampel-Regierung, Cem Özdemir, bestand in einem Interview. Der Berufsradler mit 5-stelligem Gehalt (monatlich) und 5-stelligem Vortragsnebenverdienst (jährlich) wandte sich im Gespräch mit der Bild am Sonntag gegen „Ramschpreise für Lebensmittel“. Diese „treiben Bauernhöfe in den Ruin, verhindern mehr Tierwohl, befördern das Artensterben und belasten das Klima“, so der schwäbische Grünen-Politiker. Woran das liege, dafür hat Özdemir auch eine Erklärung parat. Es ist die Wertschätzung, die fehlt: „Manchmal habe ich das Gefühl, ein gutes Motoröl ist uns wichtiger als ein gutes Salatöl“, so Özdemir.

Der Vorstoß zeitigte die vorhersehbaren Reaktionen. Diejenigen, die sich noch ein Körnchen Sympathie für die Habenichtse dieses Landes bewahrt haben, wünschten Özdemir zum Teufel. Dagegen warf sich eine Phalanx von im Yoga-Seminar zu Asketismus erzogenen Wirtschaftsredakteurinnen, umweltbewegten Anwaltssöhnen und Prenzlberger Lifecoach-Gestalten in die Bresche. Die Grünen-Wähler – wahre Helden unserer Zeit, die jetzt schon dem Salatöl den Vorzug vor dem Motoröl geben – sahen sich um den moralischen Mehrwert ihrer täglichen mühsamen Reisen mit dem Lastenrad zur Biocompany geprellt und fuhren die ganz schweren Geschütze auf: Die Kritiker Özdemirs seien gegen Tierwohl, wollen den Kampf um das Menschenrecht auf Billigschnitzel, würgen den Bauern zu Tode und verursachen den Klimawandel per Tiefkühlpizza.

Haben die Konrads und Ann-Kathrins recht? Letztlich hat Özdemir doch nichts falsches gesagt? Ein Auskommen für Bauern, gesundes, nachhaltiges und gutes Essen, dessen Wertschätzung sich im Preis spiegelt – wer könnte dagegen sein?

Um den heißen Brei herum

Die Pointe von dem, was Özdemir sagt, liegt in dem, was er nicht sagt. Und in dem, was er und seine Partei seit eh und je tun. Dabei geht es zum einen um die Monopolisierung und die immensen Profitraten im Lebensmittelsektor. Sowohl die Agrar- wie auch die Handelskonzerne fahren riesige Summen ein, unschwer daran abzusehen, dass die Aldi-Eigentümerfamilie Albrecht und der Lidl-Milliardär Dieter Schwarz seit Jahren ganz oben auf den Ranglisten der reichsten Deutschen zu finden sind.

Wie macht man das, wenn man als Handelskapitalist gar nicht (oder zumindest nicht überwiegend) über eine „eigene“ Produktion verfügt und damit nicht direkt den Mehrwert der „eigenen“ Arbeiter ausbeuten kann? Man muss von den Profiten derjenigen abschöpfen, die produzieren – also den Herstellern der Lebensmittel. Das sind übrigens in den überwiegenden Fällen nicht die „deutschen Kleinbauern“, die man im Prenzlberger Grünen-Milieu grade gerne in die Wagschale wirft, sondern es sind multinationale Unternehmen mit völlig intransparenten Lieferketten, deren Erzeugnisse von überausgebeuteten Lohnsklaven im Ausland oder migrantischen Niedriglohnarbeitern im Inland erzeugt werden.

Wie bei allen Massengütern, die in den imperialistischen Zentren verfügbar sind, steht dieses System von profitabel auf den Markt gebrachten Billiggütern in einem breiteren Kontext: wer aus Kapital mehr Kapital machen will, muss Arbeiter ausbeuten. Der Wert der Ware Arbeitskraft bestimmt sich aber seinerseits aus dem, was zu seiner Wiederherstellung nötig ist – also aus dem Äquivalent der Güter, die eine Arbeiterin auf einem bestimmten erkämpften oder kulturell bedingten Niveau ihres Lebensstandards braucht, um arbeiten zu können. Wenn die Güter, die in diesen „Warenkorb“ einfließen, teurer werden, steigt also auch das, was man Arbeitern zahlen muss, damit sie überhaupt arbeiten gehen können. „Ramschlebensmittel“ sind so ein integraler Teil des stetigen Versuchs, die „Wettbewerbsfähigkeit“ des deutschen Kapitals insgesamt sicherzustellen. Lohnstückkosten heißt das im kapitalistischen Jargon, und wenn die zu hoch werden, dann straft der Weltmarkt.

In diesem ganzen Prozess gibt es klare Gewinner und klare Verlierer: Die Kleinbauern und Agrarproletarier und die Armen, Arbeiter und Erwerbslosen, die die Scheisse fressen, stehen auf der Verliererseite. Und die Agrarkonzerne von Tönnies bis Nestle stehen genauso wie die Handelsoligopole wie Aldi und Lidl auf der Gewinnerseite. Wer von denen das gediegenere Salatöl wertschätzt, kann sich ja jeder ausrechnen.

Woker Sozialchauvinismus

Setzt man die Äußerungen von Özdemir in den Kontext der Politik seiner Partei, weiß man, dass das durchaus so gewollt ist. Er und die Seinen wollen nicht darüber reden, dass Millionen Menschen in diesem Land sich gar nicht so recht aussuchen können, was sie essen und was nicht – sie haben ja anständig daran mitgewirkt. Hartz-IV – das ja die präzise Funktion erfüllt, nicht nur Erwerbslose zu knechten, sondern auch die Drohkulisse für die Erwerbstätigen abzugeben, auf dass sie ja nicht höhere Löhne fordern, mit denen sie was besseres essen könnten – ist eine rot-grüne Errungenschaft. Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt, die Zunahme von Leiharbeit und dergleichen ebenso. Und auch diese Regierung hat schon zur Genüge dargelegt, dass sie das genauso belassen möchte.

Wer das alles nicht ändern will und von höheren Preisen redet, kann noch fünfzig Mal hinten nachschieben, dass das ja alles schon irgendwie „sozial abgefedert“ werden müsse – es bleibt eine Lüge. Kein Cent von der Preiserhöhung kommt bei den Agrarsklaven in Andalusien oder den Cashew-Pflückern in Afrika an, kein Kind auf einer Kaffeeplantage bekommt eine neue Hose und kein bulgarischer Schlachter bei Tönnies holt sich davon den Tesla-Traumwagen. Die Profite bleiben da, wo sie immer bleiben, in den Taschen der Kapitalisten.

Özdemir weiß das, er steht fest hinter der „freien Marktwirtschaft“. Und die hilfsbereite Bastschuh-Mittelschicht, die jetzt irgendwelche Kochbücher postet, wie man sich mit 5 Euro Hartz-IV-Essensration am Tag trotzdem einen richtig geilen Kartoffelsalat zaubern kann, weiß das auch. Was die konsumbewusste Schickeria sagen will, ist der alte Satz der armenfeindlichen Rechten: “Die Armen strengen sich einfach nicht genug an”, nur ein klein wenig ergänzt, denn man will ja nur deren Bestes: “Die Armen strengen sich einfach nicht genug an, sich mal was ordentliches zu essen zu machen.” Es ist der alte Sozialchauvinismus, nur grün lackiert.

Worum es hier, wie bei allen grünen Modernisierungsversuchen des Kapitalismus, geht, ist, so zu tun, als kämen die Verwerfungen des Kapitalismus nicht aus seinem rastlosen Drang zur Kapitalakkumulation, sondern aus der Verkommenheit (vor allem) armer Menschen.

Quelle: lowerclassmag.com… vom 29. Dezember 2021

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