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Werden in Europa die ukrainischen Flüchtlinge zum Problem?

Eingereicht on 7. Oktober 2023 – 10:24

Florian Rötzer. In manchen Ländern wächst die Ablehnung, es werden Hilfen gekürzt, in der Schweiz wurde bereits ein Rückkehrkonzept nach Aufhebung des Schutzstatus erarbeitet. Die EU vertagt das Thema lieber.

Die EU hat die Schutzfrist für ukrainische Flüchtlinge vom 4. März 2024 auf 4. März 2025 verlängert. Das habe man entschieden, um die Gewissheit für mehr als 4,1 Millionen Flüchtlinge in der EU zu gewährleisten. Dadurch sollen nach der EU die nationalen Asylsysteme entlastet und den Flüchtlingen EU-weit harmonisierte Rechte im Unterschied zu anderen Flüchtlingen gewährt werden: Aufenthaltsrecht, Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Wohnung, medizinische Versorgung, Sozialhilfe und Zugang zu Bildung für Kinder.

Es gibt allerdings mittlerweile nicht nur Konflikte über Waffenlieferungen und Finanzhilfe für die Ukraine, sondern auch über die Flüchtlinge mit ihrem Sonderstatus. Deutschland beispielsweise hat mit 1,15 Millionen am meisten Flüchtlinge aufgenommen. Obgleich sie arbeiten können, machen dies in Deutschland nur 20 Prozent, in anderen Ländern ist der Anteil teils deutlich höher, in Tschechien und Polen bei 25 Prozent. In Deutschland erhalten ukrainische Flüchtlinge neben der Miete und Heizkosten das Bürgergeld, über 700.000, das sind 65,6 Prozent. Das erweckt zunehmend Missgunst, CDU-Chef Friedrich Merz hat schon letztes Jahr, um Zustimmung zu erhalten, von „Sozialtourismus“ der ukrainischen Flüchtlinge gesprochen. Fast die Hälfte der ukrainischen Flüchtlinge wollen in Deutschland nach einer Umfrage langfristig bleiben.

Eine im August durchgeführte Umfrage in der Slowakei, wo gerade Robert Fico die Wahl gewonnen hat, der keine Waffen mehr an die Ukraine liefern will, konstatierte bereits  „Solidaritätsmüdigkeit“ bei den Menschen. Fast 50 % der Slowaken sind der Meinung, dass „den Ukrainern zu viel geholfen wird“ und dass diese Hilfe zeitlich begrenzt sein sollte, 55 Prozent sind der Ansicht, dass Waffenlieferungen den Krieg verlängern. Die slowakische Präsidentin Zuzana Čaputová vor Regierungsbildung eine Waffenlieferung an die Ukraine durch die Übergangsregierung blockiert.

In Tschechien arbeitet mit 110.000 ein Drittel der 325.742 ukrainischen Flüchtlinge. Die tschechische Regierung hat im Juli die staatlichen Hilfen um mehr als ein Drittel gekürzt, obwohl noch 56 Prozent den Aufenthalt der Flüchtlinge unterstützen. Daraufhin hätten manche das Land verlassen und seien wieder in die Ukraine zurückgekehrt, andere hätten die Suche nach einem Job aufgenommen.

In den Niederlanden berichtet der Sender NOS, dass die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge an ihre Grenzen gestoßen sei. Wouter Kolff, Vorsitzender des Sicherheitsrats, plädiert für eine Kürzung der Lebenshaltungskosten für Ukrainer: „Wir stoßen an Grenzen und ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht.“ Ukrainische Flüchtlinge, so Kolff, würden wegen der Unterstützungsleistungen in die Niederlande reisen: „In kommunalen Notunterkünften sehen wir zunehmend Menschen, die zum Beispiel aus Griechenland oder Italien kommen, weil sie gehört haben, dass sie in den Niederlanden mehr Geld bekommen.“

In Polen scheint ebenfalls die Haltung zu ukrainischen Flüchtlingen zu kippen. Im Juni sagten 60 Prozent der Befragten, dass ukrainische Flüchtlinge nicht denselben Zugang zu Sozialleistungen wie die Polen erhalten sollten. Für fast ein Drittel habe sich die Einstellung verändert, meist ins Negative. Die Stimmung von Polen soll vermehrt in Aggressivität und Mobbing umschlagen. Die polnische Regierung ist vor den Wahlen stärker in Distanz zu Ukraine getreten. Sie will keine neuen Waffen mehr liefern, blockiert den Import von ukrainischen Getreide und anderen Landwirtschaftsprodukten und hat für viele Ukrainer den Kinderzuschuss gestrichen. Auch in Polen plant die Hälfte der Flüchtlinge keine Rückkehr in ihr Land.

Irland hat angekündigt, keine Flüchtlinge, auch keine aus der Ukraine, mehr freiwillig aufzunehmen. Regierungschef Leo Varadkar sagte in Granada: „Realistisch betrachtet sind wir in Irland, wo wir in den letzten zwei Jahren über 100.000 Menschen aus der Ukraine und anderen Teilen der Welt aufgenommen haben, nicht in der Lage, weitere freiwillige Transfers zu akzeptieren, solange wir die Unterbringungssituation nicht in den Griff bekommen. Das soll nicht heißen, dass wir Menschen, die nach Irland kommen, abweisen werden, das werden wir natürlich nicht tun. Aber freiwillig mehr Menschen aufzunehmen, ist eine ganz andere Sache.“ Nach dem EU-Migrationsdeal werde man eher zahlen, keine weiteren Flüchtlinge aufzunehmen.

Schweiz plant die Organisation der freiwilligen Rückkehr und Abschiebung der ukrainischen Flüchtlinge

In der Schweiz wird geplant, den am 12. März 2022 gewährten und bis März 2024 verlängerten Schutzstatus S für ukrainische Flüchtlinge wieder aufzuheben, wenn kein „unzumutbares Risiko“ mehr besteht. Damit hatte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) das Staatssekretariat für Migration (SEM) beauftragt: „Neben operativen Massnahmen beinhaltet das provisorische Konzept Empfehlungen zu Aspekten wie Ausreisefristen, Ausnahmeregelungen oder die Ausgestaltung der Rückkehrhilfe.“

Das Konzept geht optimistisch davon aus, dass die meisten Flüchtlinge – etwa 90.000 – freiwillig ausreisen würden: „Gemäss dem Szenario wären 70’000 in der Schweiz anwesende Personen mit Schutzstatus S aus sicheren Gebieten ausreisepflichtig. Weiter wird angenommen, dass 80% (56’000 Personen) freiwillig ausreisen, während 20% (14’000 Personen) die Ausreisefrist ungenutzt verstreichen lassen. Das Verhältnis zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Ausreisen wird von verschiedenen Faktoren wie der Dauer des Krieges oder dem Zerstörungsgrad in der Ukraine abhängen.“ Mit zunehmender Aufenthaltsdauer würde allerdings die freiwillige Ausreisebereitschaft zurückgehen, während die Integration fortgeschritten wäre. Man müsse auch mit einer erheblichen Zahl von Asylgesuchen rechnen. Geschätzt wird, dass zwischen 5000 und 15000 Flüchtlinge Asylanträge stellen könnten. Durch Information soll sichergestellt werden, dass möglichst wenig aussichtstslose Anträge gestellt werden.

Ziel wäre es natürlich, dass möglichst viele freiwillig ausreisen, um sich Zwangsmaßnahmen zu ersparen. Die „Rückkehrhilfe“ soll degressiv gestaltet werden. Wer früh ausreist, bekommt mehr als Anreiz: „Die Kriegsdauer hat einen wichtigen Einfluss auf die Rückkehrbereitschaft. Deshalb ist auch die Höhe der Rückkehrhilfe darauf abzustimmen. Denkbar sind Beträge von CHF 2’000, 3’000 oder 4’000 pro Person in einer ersten Phase und von CHF 1’000, 1’500 oder 2’000 pro Person in einer zweiten Phase.“ Eine Rückkehrhilfe gibt es bereits sei Mai 2022, sie ist aber mit 500 CHF pro Erwachsenem und 250 CHF für ein Kind deutlich geringer.

Festgehalten wird, dass auf europäischer Ebene die Rückkehr von Vertriebenen bisher nicht thematisiert wird, weshalb kein darauf abgestimmtes Umsetzungskonzept erstellt werden könne. Das zeigt auch die Leerstelle in der EU auf, die sich damit nicht konkret zu beschäftigen scheint, was allerdings unabhängig davon wäre, ob die Ukraine „siegt“, den Krieg durch Friedensverhandlungen mit einem Kompromiss beendet oder ihn „verliert“. Dass die Situation brisant wird, zeichnet sich schon lange an, da zudem die Zahl der Migranten und Asylsuchenden stark angestiegen ist und die Aufnahmekapazitäten ausgeschöpft zu sein scheinen.

Man kann davon ausgehen, dass die Ukraine vor allem an der Rückkehr der Frauen, deren Männer in der Ukraine geblieben sind bzw. bleiben mussten, und an Personen im erwerbsfähigen Alter interessiert ist, jetzt natürlich auch an den Männern im wehrfähigen Alter, die sich dem Kriegsdienst entzogen haben. Würden im Rahmen eines gemeinsamen Konzepts Millionen in kurzer Zeit zurückkehren (müssen), wäre das Land selbst überfordert, aber auch die Logistik in den EU-Ländern mit vielen Flüchtlingen wie Deutschland oder Polen, deren Rückkehr mit Autos, Flugzeugen, Bahn oder Bussen organisiert werden müsste, ganz zu schweigen von den vielleicht Hunderttausenden, die nicht wollen und abgeschoben werden müssten.

#Titelbild: Ukrainische Flüchtlinge im März in Polen. Bild: EU/CC BY-NC-ND-2.0

Quelle: overton-magazin.de… vom 7. Oktober 2023

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