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Die Grünen: Turnschuh-Radikale

Eingereicht on 21. Januar 2022 – 11:35

Dar Ronge. In einem Westberliner Unihörsaal steht er. Mit erhobenem Arm, die Hand geballt zur Faust. Flugblätter regnen auf das versammelte Publikum. Fahnen wirbeln die rauchdurchzogene Luft auf. „Ho! Ho! Ho-Chi-Minh!“ lärmen die jungen Genossen und Genossinnen.

Es heißt, dass die Nacht immer kurz vor Sonnenaufgang am dunkelsten sei. Doch am Ende der 60er scheint der rote Morgen endlich zum Greifen nah: Aurora scheint das Ende der Alpträume einer ewig dunklen Nacht aus Vietnamkrieg, Springer-Niedertracht und Spätkapitalismus anzukündigen.

Rudi Dutschke hebt die Faust nicht mehr. Er ist tot. Die Reihen sind nicht mehr fest geschlossen. Der vermeintliche Silberstreif am Horizont ist nichts anderes, als ein weiteres Dorf in Nordvietnam, dass den Napalmbomben der US-Air Force zum Opfer fällt.

Was bleibt, ist eine Anwandlung zur Verlorenheit. Was folgt, sind zwei Entgegnungen: Während Ensslin, Baader und Meinhof zu den Waffen greifen, bewaffnet sich ein Haufen Studierender aus dem Mittelstand mit Turnschuhen und Fahrrädern. Während die RAF im Untergrund kämpft, will man auf der anderen Seite nicht so viel mit dem Proletariat und kollektiver Befreiung zu tun haben. Nein: Die individuelle Freiheit und der Frieden auf der Welt standen im Vordergrund.

Es verstummen die Waffen von Ensslin, Baader und Meinhof. Sie sind tot. Joschka Fischer allerdings, der wohl öfters seine Faust gehoben hat, um zusammen mit Hans-Joachim Klein Polizist:innen zu verprügeln, findet eine entgegenkommende Antwort auf den Tod der Stammheimer: Er spurtet von einer Demonstration zu nächsten. Dort wirft jemand, der so aussieht wie er, einen Molotov-Cocktail auf ein Polizeiauto. Fischer wird wegen Landfriedensbruch, Bildung einer kriminellen Vereinigung und versuchten Mordes in Untersuchungshaft gesperrt.

Auch das lodernde Feuer eines brennenden Polizeiautos erlischt irgendwann und so auch die autonome Rebellion in der BRD. Man fällt zurück in das (pseudo-)befreite Lebensgefühl der Friedensbewegung. Befeuert durch den Soundtrack einer abgegriffenen Woodstock-Platte gründen sich 1980 in Karlsruhe: die Grünen.

Trotz des friedfertigen Kanons versprechen deren anfängliche Parteiprogramme in ihrem eigentümlichen Stil endlich wieder die Radikalität, die die deutsche Studierenden-Bewegung einst auf die Straße brachte. Mit einer marxistisch anmutenden Feder, getunkt in der Tinte der K-Gruppen, geführt durch die Hand von ehemaligen Mitgliedern des Kommunistischen Bunds, werden Basisdemokratie, Gewaltfreiheit, Ökologie und Soziale Gerechtigkeit großgeschrieben.

Joschka Fischer spaziert ohne Verurteilung aus dem Knast und stolziert mit Turnschuhen durch deutsche Parlamente. Dort spielt er weiter den frechen, jugendlichen Rebellen, der mit seiner Partei endlich Frieden und ökologische Nachhaltigkeit in das Land und später in die ganze Welt bringen will. Die Empörungsrufe hartnäckiger deutscher Unabänderlicher lassen am Anfang auch sowas wie Hoffnung aufflammen, dass diese neue Partei etwas ändern würde.

„Paul ist tot“, die Glocken für Conny Kramer sind verstummt. Die Deutschen erheben ihre Transparente mit den Parolen nach Freiheit, Demokratie und D-Mark und reißen die Mauer ein. Nach der Wende vereinigt sich nicht nur die eine Bananenrepublik mit der anderen bananenlosen Republik, sondern auch die West-Grünen mit den Ost-Grünen zum Bündnis 90/Die Grünen. Wie so vieles, was mit der Wende zu tun hat, ist das keine Erfolgsgeschichte. Erst einige Jahre nach der Fusion können die Grünen wieder an einer Bundesregierung teilnehmen. Doch aus dem Genossen Turnschuhrebell ist in der Zwischenzeit der Außenminister Fischer geworden.

Wie wird ein Turnschuhradikaler, der einst im Straßenkampf gegen den Staat in Erscheinung trat und nun mit einer Hippie-Partei im Rücken politischen Umbruch fordert, Außenminister eines bürgerlich-bodenständigen Landes? Sicherlich nicht, indem er seinen Idealen und der Parteilinie treu bleibt. Fischer weiß das und sorgt für eine entscheidende Zäsur bei den Grünen: Die einst strikte und dogmatische Friedenspartei wird zu einem, wenn nicht sogar dem widersprüchlichen politischen Akteur Deutschlands. Unter Außenminister Fischer wird die Bundeswehr in ihren ersten Einsatz seit dem 2. Weltkrieg geführt: in den Kosovo. Die Austrittswelle bei den Grünen wird ignoriert und die Bundeswehr marschiert weiter nach Afghanistan. Die Zeiten von Demonstrationen gegen NATO, Atomwaffen und Krieg sind vorbei. Seite an Seite mit NATO-Truppen wird Frieden und Demokratie in die Welt exportiert und der Opportunismus in die Grünen importiert.

In Jugoslawien sind tausende tot. In Wech Bagthu und Haska Meyna (Afghanistan) schwingt niemand mehr die Hände zum Hochzeitstanz.

Die Grünen stehen kurz vor dem Versacken in der Opposition, schaffen es aber noch, die Agenda 2010 mitzutragen, Versammlungs- und Persönlichkeitsrechte über Antiterrorgesetze einzuschränken und das mittlerweile als verfassungswidrig eingestufte Luftsicherheitsgesetz durchzudrücken.

In den Jahren der Merkel-Regierung wird das Anbiedern der Grünen an konservative Parteilinien deutlicher: Während der sogenannten „Flüchtlingskrise“ stimmt die Partei für die Verschärfung von Migrationsgesetzen und blockiert Untersuchungsausschüsse zum Mord an Oury Jalloh. Joschka Fischer betreibt bei RWE Lobbyismus, während die Grüne Jugend im Hambacher Forst von der Polizei verdroschen wird. Doch all das hat den Grünen weder geschadet noch genutzt. Erst mit dem erneuten Aufflammen des öffentlichen Diskurses über den Klimawandel öffnet sich den Grünen eine neue Chance.

Ein Kind in einem roten Shirt liegt an einem Strand. Aylan Kurdi ist tot.

Tod, Katastrophen und Sterben prägen auch die Rhetorik der neuen Klimabewegung.

Im Laufe weniger Wochen politisieren sich weltweit Jugendliche und bestreiken ihre Schulen. Die Fridays For Future Bewegung schafft, trotz ihrer blutjungen Naivität und verkürzten Analyse, eine Art neues, fortschreitendes Erwachen. Eine Generation, der man keine politische Urteilsfähigkeit zutraute, verharrt nun Woche für Woche in ihren Turnschuhen auf der Straße und setzt die globale Politik unter Druck. An den Seitenlinien der deutschen FFF-Proteste stehen, neben empörten Lehrer:innen und der noch empörteren AfD, auch die Grünen und die Linkspartei. Man erkennt, dass man dieser neuen Bewegung eine feste Struktur und eine politische Heimat geben muss: Das große Buhlen um junge politische Aktivist:innen beginnt und auf der Gewinnerseite stehen eindeutig die Grünen.

Jeglicher revolutionäre Eifer ist tot, keiner hebt mehr den Arm und keiner ballt die Faust

Die Grüne Partei ist wie ein alter, merkwürdig vertrauter Freund, der nach Jahren der Abwesenheit wieder ankommt, eine gute Zeit verspricht und am Ende mit einem geliehenen Fuffi in der Tasche abhaut. Wieder im öffentlichen Bewusstsein angekommen, legt die Partei ihr Image einer Korn-und-Schrot-CDU ab und nutzt die neue ökologische Welle aus, um ihre Umfragewerte, besonders bei Erstwähler:innen, in die Höhe zu treiben.

Für dieses Vorhaben kommen gleich zwei alte Freunde um die Ecke: Annalena Baerbock und Robert Habeck. Die Freude auf das Wiedersehen fühlen im Wahlkampf selbst gestandene Linke: Vielleicht dieses Mal doch die Grünen wählen, vielleicht wird Baerbock Kanzlerin und kein anderer, alter, weißer Mann, heißt es. An Habeck kann man sich sowieso nicht stören: Ein unbekannter, semi-charismatischer Reisender, der durch politisches Fühlen und Selbstreflexion soziale Ungleichheit besiegen will, ist schließlich keine besonders rege Figur auf dem innenpolitischen Spielfeld.

Dann kommt Covid-19, und Merkel geht. Die Grünen biedern sich bei klimainteressierten Jugendlichen und linken Aktivist:innen bis zum Wahlsieg an. Covid-19 ist immer noch da, Merkel und die CDU sind weg. Baerbock und Habeck sind angelangt: 118 Sitze im Bundestag und durch eine Koalition mit SPD und FDP an der Regierung. Der Fuffi ist in der Tasche, doch bevor er verschwindet, macht uns unser alter Freund noch ein Abschiedsgeschenk: Der Nazi-Paragraf zu Schwangerschaftsabbrüchen soll überarbeitet werden, Klimaschutz wird im Koalitionsvertrag festgeschrieben und Kiffen wird legal. Unser alter Freund ist weg und völlig zugekifft vor lauter Freude über diese Neuerungen merken wir nicht, dass die Bundeswehr nun auch bewaffnete Drohnen bekommen soll und Klimaschutz mit einer Partei voller „Freier-Markt“-Fetischist:innen nicht wirklich möglich ist.

Während Cem Özdemir in einem der plumpsten Akte politischer Performativität auf dem Fahrrad zu seiner Vereidigung fährt und die Grünen voller Jauchzen und Frohlocken über Baerbocks Zugfahrten sind, werden wir langsam nüchtern und die Katerstimmung bemächtigt sich unser, wie all die Jahre zuvor. Wirtschaftsminister Habeck verkündet öffentlich, nicht mal einen Monat nach der Wahl, dass die angepeilten Klimaziele in den nächsten zwei Jahren gar nicht zu erreichen sind. Özdemir will Geringverdienende zu gesunder Ernährung zwingen, indem er während Inflation und anstehender Rezession vorschlägt, die Preise für ungesunde Lebensmittel zu erhöhen.

Jeglicher revolutionäre Eifer ist tot, keiner hebt mehr den Arm und keiner ballt die Faust. Die Sonne wälzt sich langsam über die scharfen Gebirgsketten von Afghanistan und betört unseren alten Freund. Das dumpfe Schnaufen des neuesten E-Panzers, aus den Krupp-Werken, der über die verdorrten Steppengräser rollt, stört ihn nicht, während er seine Turnschuhe putzt. Ein Joint kokelt in seinem Mundwinkel, ein paar Solardrohnen schwirren in Richtung einer Hochzeit. Unser Freund steht auf und blickt in die Ferne dieses doch so vertrauten Landes. “Es ist der nächste Krieg,” denkt er sich, “mit einer super CO2 Bilanz.”

#Titelbild: Gründungskongress Die Grünen, Stadthalle Karlsruhe, 12./13.1.1980

Quelle: owerclassmag.com… vom 21. Januar 2022

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