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Militaristische Durchdringung der Gesellschaft

Eingereicht on 1. April 2025 – 14:15

Nach innen ist die Unterordnung aller gesellschaftlichen Bereiche unter die Sicherheitspolitik der entscheidende Paradigmenwechsel. Auf dem Feld der Sozialpolitik wird aus der bloßen Begrifflichkeit eine Umverteilungsstrategie, die zu Lasten der arbeitenden Klassen geht: Zeitenwende als Begründung für den Abbau des Sozialstaates, denn die neue geopolitische Rolle Deutschlands muss finanziert werden. 66,8 Milliarden Euro hatte sich die Scholz-Regierung 2023 die Ausstattung der Bundeswehr kosten lassen. Ein Anstieg um fast 16 Prozent in nur zwölf Monaten.1 Damit rangierte die Bundesrepublik auf Platz sieben der Weltrangliste.2 Glaubt man dem Handelsblatt, wollte Pistorius mit dem Prinzip „Bestellung nach Kassenlage“ brechen. Richtschnur für die Aufrüstung sollte nicht mehr sein, was man sich leisten könne, sondern das, „was wir für die Verteidigungsfähigkeit des Landes brauchen“.3 Im Wahlkampf forderte er zudem eine langfristige Finanzierungsgarantie für die Rüstungsausgaben – auch jenseits von Wahlen. Ein Zehn-Jahresplan für Rüstungsausgaben soll „über die Grenzen von Legislaturperioden hinweg“ die kontinuierliche Aufrüstung sicherstellen. Bis Mitte der 2030er Jahre sollen – geht es nach Pistorius – dann 130 bis 150 Milliarden Euro jährlich für Rüstung ausgegeben werden.4 Dass die Bevölkerung, für die diese haushaltspolitische Schwerpunktsetzung mit schweren sozialen Einschnitten einhergehen wird, nicht einmal die Möglichkeit hat, durch ihr Wahlverhalten einen Politikwechsel herbeizuführen, zeigt, die Zeitenwende ist nicht nur ein Angriff auf den Sozialstaat, sondern auch auf die repräsentative Demokratie.

Parallel dazu wird die Militarisierung des Landes vorangetrieben. Militärisches Denken soll im Alltag verankert werden. Junge Menschen werden mit falschen Zukunfts- und Aufstiegsversprechen in die Bundeswehr gelockt. Das Gesundheitssystem wird an die Zeitenwende angepasst. In gemeinsamen Symposien arbeiten Ärztekammern und Bundeswehr schon seit einiger Zeit daran, das historisch begründete verfassungsrechtliche Trennungsgebot zwischen dem zivilen Gesundheitssektor und den Sicherheitsbehörden auszuhebeln. Die zivil-militärische Zusammenarbeit soll intensiviert werden.5 Zivilschutzübungen und Dekontaminationsausbildungen von Pflegekräften finden bereits auf Truppenübungsplätzen der Bundeswehr statt. Ausserdem ist ein Gesundheitssicherstellungsgesetz in Arbeit, das den Weg für die Einführung militärischer Prinzipien in den Bereich der Gesundheitsversorgung ebnet.6 Was in der Alltagsmedizin ethisch zu Recht umstritten ist, nämlich die Behandlung von Patienten nach Effizienzgesichtspunkten, wird im Kriegsfall zur leitenden Maxime, da auf der Grundlage unzureichender Ressourcen entschieden werden muss, wer medizinisch versorgt werden kann und wer nicht.7 Nicht zufällig sah der Entwurf des Gesetzes in den 1970er Jahren verpflichtende Triage-Fortbildungen für die Pflegekräfte vor. Die Einführung scheiterte damals am Widerstand der Bevölkerung, die sich gegen die Anwendung militärpolitischer Kriterien in der Zivilmedizin stellte.

Teil der Nationalen Sicherheitsstrategie ist zudem ein Gesetz mit dem Namen KRITIS. Dabei handelt es sich um das sogenannte Dachgesetz zur kritischen Infrastruktur. Die Bundesregierung plant mit diesem Gesetz den Umbau der Unternehmen in den Bereichen Energie- und Wasserversorgung, Transport, Kommunikation, IT oder Gesundheitsversorgung. Sie sollen verpflichtend Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Sicherheit umsetzen.8 Im Geheimen verhandelt wird außerdem ein geheimes Strategiepapier mit dem Titel Operationsplan Deutschland. Das eintausend Seiten starke Pamphlet steckt den Rechtsrahmen ab, nach dem die Bundeswehr die Unternehmen auf den Kriegsfall vorbereiten soll.9

Doch damit nicht genug: In Hamburg wird der Hafen zum NATO- und damit zum Kriegshafen erklärt. In Bayern werden Lehrerinnen und Lehrer mit den Bundeswehrförderungsgesetz verpflichtet, Soldaten in den Unterricht einzuladen. In Berlin werden die Lehrkräfte an den Hochschulen durch das Bundesbildungsministerium mit politischen Listen diszipliniert, wenn sie sich mit dem propalästinensischen Protest ihrer Studierenden solidarisieren. In Bremen trainieren Heimatschutz-Regimenter nicht nur die Verteidigung des Hafens, sondern auch den Umgang mit Demonstranten.10 Und für den im Konfliktfall wichtigen Post-, Zustell- und Logistikbereich wird im neuen Postrechtsmodernisierungsgesetz durch Bezugnahme auf die Notstandsgesetzgebung das Streikrecht für die dort Beschäftigten eingeschränkt. Annalena Baerbock sagt, die Sicherheitsfragen zögen sich durch alle Lebensbereiche und spricht von einer „gesamtgesellschaftlichen Mobilmachung mit noch unscharfen Konturen“, was selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung fragen lässt, ob nun sämtliche Lebensbereiche unter die Regie des Auswärtigen Amtes gestellt würden.11

Kehrtwende im politischen Diskurs

Dass Krieg immer auch einen Abbau von Demokratie nach sich zieht, zeigt die Verschiebung des öffentlichen Diskurses, die sich seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine vollzogen hat. Statt den Meinungskorridor offen zu halten, wird antimilitaristische Kritik mit den Demagogien der AfD gleichgesetzt, als Putin-Versteherei gebrandmarkt oder als Antisemitismus diffamiert.12 Das passiert nicht zufällig: Regierungen können Kriege nur dann führen, wenn die Bevölkerung diese als richtig begrüßt oder zumindest als notwendig akzeptiert. Eine derartige Hegemonie wird aber nicht dadurch hergestellt, dass unterschiedliche Einschätzungen gleichberechtigt nebeneinander stehen und auf Augenhöhe breit ausdiskutiert werden: In der Zeitenwende darf nicht das bessere Argument überzeugen, sondern jenes, das die Notwendigkeit des Krieges unterstreicht. Wer wie die MDR-Redakteurin Rommy Arndt seine Kolumnen nutzt, um Panzerlieferungen an die Ukraine zu kritisieren, wird öffentlich gemaßregelt.13 Zur deutschen Außenpolitik konträre Positionen werden nicht als streitbare, aber legitime, sondern als putinfreundliche oder kremlnahe Positionen dargestellt und als angebliche Desinformation etikettiert.

Seit dem Angriff der Hamas auf das Gelände des Nova-Festivals im Süden Israels am 7. Oktober 2023 hat dieser Diskurs eine weitere Zuspitzung erfahren. Obwohl die ultrarechte Netanyahu-Regierung seit einem Jahr den Gazastreifen in Schutt und Asche bombt und für unfassbares menschliches Leid sorgt, spielen palästinensische Schicksale, Ängste, Sorgen, Trauer und Wut in der deutschen Berichterstattung keine Rolle. In den Talkshows redet man über Palästinenser, nicht aber mit ihnen. Ihre Perspektive auf die einseitige Positionierung der Bundesregierung soll nicht sichtbar und schon gar nicht legitim werden. Selbst das NDR-Medien-Magazin ZAPP kam zu dem Schluss, dass in den ersten 15 Talksendungen der ARD, die sich mit dem Gaza-Krieg beschäftigten, es lediglich drei Gäste mit palästinensischem Hintergrund, aber zehn mit israelischer Staatsbürgerschaft gab.14

Ahoi Mitbestimmung?

Eine solche Entwicklung gefährdet nicht nur demokratische Strukturen. Sie wirkt wie Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, das sich auch über die Werkstore tief hinein in die Arbeitswelt ausbreitet. Denn wenn das gesellschaftliche Klima autoritärer wird, hat das auch Auswirkungen auf die strukturelle Ungleichheit in den Arbeitsbeziehungen. Mitbestimmung ist ein zentrales Element der Demokratie in der Arbeitswelt, das die Beteiligung der Beschäftigten an Entscheidungen in Unternehmen sicherstellt. Sie trägt dazu bei, konjunkturelle Krisen zu bewältigen und soziale Konflikte zu entschärfen15 sowie die Beschäftigten vor ungerechten oder willkürlichen Entscheidungen des Managements zu schützen. Sie ist der Versuch, die durch Top-Down-Prozesse geprägte Arbeitswelt zu demokratisieren. Beschäftigte erfahren dabei, dass sie nicht nur „Zuschauer“ sind, sondern aktiv in betriebliche Entscheidungen eingreifen können. Dies stärkt das demokratische Bewusstsein, macht widerstandsfähiger gegenüber antidemokratischen Einstellungen und fördert die Aufteilung von Macht und Einfluss innerhalb von Unternehmen.16

Dass Betriebsräte in der Zeitenwende in ihrer Mitbestimmungsfunktion eingeschränkt werden, insbesondere wenn sie als „sicherheitsrelevant“ eingestuft werden, zeigt das Artikelgesetz zur Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft. Die Ampel hatte es am 4. September als Entwurf im Kabinett beschlossen und im Dezember im Bundestag diskutieren lassen. Ein Artikelgesetz ist ein Gesetz, das mehrere Gesetze oder sehr unterschiedliche Inhalte und Themen in sich vereint. Der Inhalt des Gesetzes: Zur Untersetzung der Zeitenwende sollen Arbeitszeitregelungen, Soldaten- und Beamtenversorgung oder der Gleichstellung angegangen werden. Zusätzlich sollen aber auch mehrere Gesetze aus der Zeit der Notstandsgesetzgebung an die „Herausforderungen der Zeitenwende angepasst“ werden. Tritt dieses Gesetz in Kraft, können Beschäftigte, deren Tätigkeit der Versorgung der Bundeswehr oder verbündeten Streitkräften dient, Beschäftigte in Betrieben, die Militärausrüstung oder die entsprechenden Dienstleistungen erbringen sowie Beschäftigte in Forschungsbereichen, soweit sie militärisch forschen, zur Sicherstellung ihrer Arbeitsleistung verpflichtet werden.17 Die Regelung bezieht sich auf die geplante Änderung des Arbeitssicherstellungsgesetzes, das 1968 beschlossen wurde, aber nie zur Anwendung kam, dessen Anwendung nun aber erleichtert werden soll. Es handelt sich um ein Gesetz aus der Notstandsgesetzgebung und regelt das Agieren der Bundesregierung im Kriegs- oder Spannungsfall. „Ich bin froh, dass es bisher keinen Ernstfall gab, bei dem dieses Gesetz zur Anwendung kam“, erklärt Dietmar Bartsch, Sprecher für Verteidigungspolitik der Linken im Bundestag.18 Mit Bezug auf dieses Gesetz schlägt der Artikelgesetzentwurf weitere Einschränkungen vor: „Durch Artikel 10 (…) werden die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit (…), der Freiheit der Person (…), der Freizügigkeit (…), der freien Wahl des Arbeitsplatzes (…) und des Schutzes vor Arbeitszwang (…) eingeschränkt“.19

Doch damit nicht genug: Artikel sieben des Gesetzentwurfes plant einen Eingriff in die Soldatenarbeitszeitverordnung, mit dem Ziel, eine Ausweitung der Arbeitszeit für militärisches Personal vorzunehmen. So kann für Soldaten die „höchstzulässige wöchentliche Arbeitszeit in einem Zeitraum von zwölf Monaten durch Rechtsverordnung längstens bis zum 31. Dezember 2030 von 48 auf 54 Stunden angehoben werden“.20 Ein Einfallstor für die Verlängerung von Arbeitszeiten auch in anderen Bereichen. Es ist zu vermuten, dass analog zum Eingriff in die Arbeitszeit-Gesetzgebung während der Corona-Pandemie, diese Regelung nur ein Vorbote für die Ausweitung der Arbeitszeit auch in anderen Bereich wie bei den Beschäftigten in der kritischen Infrastruktur, in der Rüstungsforschung oder in der Rüstungsproduktion sein könnte. Wir schnell das gehen kann, haben wir während der Corona-Pandemie gesehen. Damals wurden in den für die Funktionalität unserer Gesellschaft systemrelevanten Branchen über Nacht die Arbeitszeiten auf bis zu zwölf Stunden am Tag oder 72 Stunden in der Woche ausgeweitet..21

Wir haben in der Pandemie auch erlebt, wie sich Beschäftigte in Supermärkten ohne ausreichende Schutzausrüstung zunehmend gewaltbereiten Kunden ausgesetzt sahen oder wie sich die Arbeit bei Lieferdiensten und Amazon derart verdichtete, dass nicht mal mehr von Akkord die Rede sein konnte. Weil der Arbeitsschutz in erster Linie Arbeitgeberpflicht ist, hat der Betriebsrat hier ein klar umrissenes Betätigungsfeld. Trotzdem hatten Anfragen der Fraktion Die Linke ergeben, dass während der Pandemie in knapp jedem fünften Betrieb keine speziellen Regelungen zum Arbeitsschutz umgesetzt wurden. Je kleiner der Betrieb, desto desolater waren die Zustände.22 Je länger die Pandemie dauerte, desto mehr haben wir über den Druck auf Interessenvertretungen und Beschäftigte erfahren, weil der Ausnahmezustand allgegenwärtig war. Damals wie heute zeigte sich, dass die diktierende, anordnende, autoritäre Tonlage im politischen Diskurs nicht nur das Verhältnis von Regierung und Bevölkerung neu ausrichtete, sondern auch die Beziehungen zwischen den Menschen und erstrecht den Umgang am Arbeitsplatz veränderte. Diese autoritäre Tonlage steht gegen alles, was betriebliche Mitbestimmung ausmacht.

Wie sehr die betriebliche Mitbestimmung in der Zeitenwende unter die Räder gerät, zeigt sich schließlich auch daran, dass sich SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag zwar auf eine Weiterentwicklung der Mitbestimmung verständigt hatten, seitdem aber nichts passiert ist. Die Bundesregierung unter Olaf Scholz wollte das Betriebsrätemodernisierungsgesetz evaluieren, die Behinderung von Betriebsräten und deren Arbeit künftig als Offizialdelikt einstufen und Gewerkschaften ein zeitgemäßes Recht auf digitalen Zugang in die Betriebe schaffen.23 Dass sich der Deutsche Bundestag in dieser Wahlperiode überhaupt mit Fragen der betrieblichen Mitbestimmung befasst hat, geht allein auf Initiativen der Linken zurück. Als einzige Partei verfügte Die Linke mit „Ahoi, Mitbestimmung“ über ein konkretes Konzept zur Reform der Betriebsverfassung, um die Arbeitswelt zu demokratisieren. Umfangreich wurde dazu Sachverstand und Expertise in der Anhörung eingeholt. Doch statt die Initiative aufzugreifen, war die Ampel darauf fokussiert, das NATO-Aufrüstungsziel von zwei Prozent zu erreichen. Die Betriebsverfassung hatte dahinter zurückzustehen.

Streikrecht unter Druck

Das Streikrecht ist eine notwendige Folge des Grundrechts auf Vereinigungsfreiheit, deren Achtung für eine sinnvolle Ausübung von Gewerkschaftsrechten unabdingbar ist. Dass mit der Zeitenwende auch dieses Recht unter Druck gerät, zeigt der zuletzt abgesagte Streik der Kita-Beschäftigten in Berlin für eine bessere Personalbemessung exemplarisch.24 Der Grund: Nicht nur das Arbeitsgericht Berlin, auch das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg urteilten, der Streik sei unzulässig. Ziel des Streiks war die Erzwingung von Tarifverhandlungen über eine Mindestpersonalbemessung.

Das Landesarbeitsgericht führt in seiner Begründung gleich zwei Argumente für die Abschmetterung der Berufung durch ver.di an. Es verweist einerseits auf die Friedenspflicht. Diese gelte für die Dauer des Tarifvertrages und schließe Streiks aus. Das Gericht argumentiert, dass die aktuellen Streikforderungen bereits im Regelungspaket des geltenden Tarifvertrages vereinbart seien – wenn auch nicht zur abschließenden Zufriedenheit von ver.di. Ein Erzwingungsstreik für eine Mindestpersonalbemessung verstoße demnach gegen die Friedenspflicht und sei nicht zulässig. Außerdem verweist das Gericht auf die Mitgliedschaft des Landes Berlin in der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL). Als Mitglied im Arbeitgeberverband sei es an den Tarifvertrag gebunden, der zwischen der TdL und ver.di ausgehandelt wurde. Nach TdL-Satzung seien die Länder nicht befugt, Tarifverträge zu verhandeln, die von den Regelungen des TV-L abweichen. Die TdL drohe in einem solchen Falle sogar mit Ausschluss aus dem Arbeitgeberverband. Für den Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler wirft bereits das Urteil des Arbeitsgerichtes Berlin die Frage auf, auf wessen Seite sich das Gericht mit dieser Entscheidung stellt.25

Bis dato war die Rechtsprechung in dieser Frage klar: Für Arbeitgeberverbände in der Privatwirtschaft hatten Gerichte einen drohenden Ausschluss aus einem Arbeitgeberverband nicht als Grund gewertet, um die Rechtmäßigkeit eines Streiks infragezustellen. Alles andere wäre auch absurd, denn Arbeitgeberverbände hätten in diesem Falle die Möglichkeit, durch die Ausgestaltung ihrer Satzung einen Firmentarifvertrag unmöglich zu machen, argumentiert Däubler.26

Nicht uninteressant ist also die Frage, was hinter dieser Entscheidung steckt. Zumal das Urteil kein Einzelfall ist. Auch das Arbeitsgericht Erfurt hatte den Streik der Beschäftigten zur Durchsetzung eines eigenen Tarifvertrages am Klinikum Weimar untersagt. Auch wenn man sicherlich abwarten muss, ob sich dieser Trend verstetigt, können die Entscheidungen um das Streikrecht durchaus als Folge des neuen Zeitenwende-Diskurses eingeordnet werden. Dafür spricht zunächst, dass das Streikrecht auch in anderen europäischen Ländern unter Druck gerät. So beschloss die britische Regierung im Sommer 2023 für den öffentlichen Dienst den Strikes Act. Beschäftigte können demnach an Streiktagen zur Arbeit verpflichtet werden. Wer sich weigert, verliert seinen Kündigungsschutz. Auch die spanische Regierung kann bei Streiks eine Mindestversorgung anordnen. Und in Italien schränkte die Regierung im November 2023 Streiks gegen das Haushaltsgesetz per Anordnung ein und unterband sie dadurch.

In der Bundesrepublik hat die Einbindung der Arbeiterbewegung in Regierungshandeln durch die Sozialpartnerschaft eine starke Tradition. Und auch die Bundesregierung unter Olaf Scholz setzte alles daran, dass sich die Gewerkschaften dem außenpolitischen Kurs unterordnen. Die Debatte um das Streikrecht wird daher subtiler geführt als in anderen europäischen Ländern, aber sie wird geführt. Ein erster Versuch dürfte die Konzertierte Aktion gewesen sein. Sie sollte Streiks auf der Grundlage einer gemeinsamen Vereinbarung verhindern. Funktioniert hat das nicht. Vielmehr war das Gegenteil der Fall. Denken wir nur an den „Mega-Streik“ von ver.di und EVG oder aber auch an den Klimastreik. Nicht ganz zufällig also dürfte die Einmischung von Regierungsvertretern in die Tarifauseinandersetzung gewesen sein. So vernahm man in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes aus dem Verteidigungsministerium, dass ein guter Abschluss die Ausstattung der Bundeswehr gefährden würde. Und Bundesverkehrsminister Volker Wissing sagte mit Blick auf den Arbeitskampf bei der Deutschen Bahn Anfang 2024, es gebe Krieg in Europa und der Streik dürfe nicht zum Sicherheitsrisiko werden.

Dass die Bundestagsfraktion der FDP kurz vor der Sommerpause 2024 ein Positionspapier zur Einschränkung des Streikrechts in der kritischen Infrastruktur vorlegte, ist daher auch mehr als eine der üblichen arbeitnehmerfeindlichen Verrücktheiten der Liberalen. Zumal die Absage an Streiks auch längst nicht mehr nur das Geschäft der FDP ist. Alexander Freier-Winterwerb aus dem Berliner Abgeordnetenhaus forderte Mitte September des letzten Jahres auf seinem X-Profil ver.di und die GEW auf, die Kitastreiks zu beenden. Er kommt genauso wie Pistorius aus der SPD. Die beiden werden nicht die letzten gewesen sein. Es ist vielmehr zu befürchten, dass die wachsende Bereitschaft der politischen Klasse zum Krieg zwangsläufig auch in Deutschland eine Debatte über die Einschränkung des Streikrechtes nach sich ziehen könnte. Denn wenn es in der Nationalen Sicherheitsstrategie heißt, dass die Finanzierung der Zeitenwende zulasten des Sozialstaates gehen müsse, dann wird das die aktuellen Verteilungskämpfe weiter zuspitzen. Ob diese Entwicklung durch die Rechtsprechung flankiert wird, bleibt abzuwarten. Dass sich aber eine gesellschaftliche Atmosphäre, die von Sozialabbau und Verzicht geprägt ist, negativ auf das Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit auswirken wird, dürfte klar sein. Gleichzeitig schafft die Verengung des Meinungskorridors einen Rahmen, innerhalb dessen auch Gerichte ihre Entscheidungen treffen. Die Berliner Arbeitsgerichtsurteile könnten bereits heute schon einen Hinweis darauf geben, dass juristische Entscheidungen innerhalb dieser Rahmenbedingungen nicht zwangsläufig im Interesse der abhängig Beschäftigten gefällt werden dürften.

1 Statista (2024): „Deutschland – Militärausgaben bis 2023“, 22.04.2024. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/183064/umfrage/militaerausgaben-von-deutschland/

2 „Hohe Kriegskosten für Drittstaaten. Die wirtschaftlichen Folgen militärischer Auseinandersetzungen spüren auch unbeteiligte Länder“, nd, 25.04.2024.

3 „Konjunkturprogramm für Kriegsgerät“, Handelsblatt, 23/24/25.08 2024.

4 „Pistorius will höhere Verteidigungsausgaben“, ARD, 18.01.2025.

5 Winter, Bernhard (2024): „Deutschland wieder kriegstüchtig. Machen wir mit? Zur Wiederkehr des Militärischen auch im Gesundheitswesen“, Verein demokratischer Ärzt*innen, 10.07.2024, https://www.vdaeae.de/2024/07/10/deutschland-wird-kriegstuechtig-wir-sind-dabei-zur-wiederkehr-des-militaerischen-auch-im-gesundheitswesen/

6 Nationale Sicherheitsstrategie (2023): „Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland. Nationale Sicherheitsstrategie“, Juni 2023, 36.

7 IPPNW (2024): „Die Militarisierung der Gesundheitsversorgung“, IPPNW-Forum, 177/ 2024.

8 Ebenda.

9„Bundeswehr bereitet Unternehmen auf den Kriegsfall vor“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.11.2024.

10 „Heimatschutzkompanie in Bremen“, tagesschau.de, 09.07.2024, https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-1356986.html; „Nach Heimatschutz-Übung in Bremerhaven: Soldaten sind einsatzbereit“, buten un binnen, ARD, 18.09.2024, https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/bilanz-fishtown-guard-bundeswehr-bremerhaven-100.html

11 „Baerbocks Sicherheitsdenken geht unter die Haut“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.06.2023.

12 Erinnert sei beispielsweise an die mediale Berichterstattung rund um die Demonstration von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht am 25. Februar 2023. Aber auch im Vorfeld des 3. Oktober 2024 war es beispielsweise Reinhard Bütikofer, der auf seinem X-Profil die Friedensdemonstration als „Demonstration für den Sieg des russischen Imperialismus“ bezeichnete und Ralf Stegner, der als prominenter Vertreter der SPD-Linken dort sprach, als einen „Freund der Unterdrückung statt der Freiheit“ diffamierte.

13 „Neue Heldin der Putinversteher“, taz, 26.01.2023; „MRD-Journalistin löst heftige Debatte mit Kommentar zu Panzern aus“, Sächsische Zeitung, 23.01.2023.

14 „Wenig Vertrauen in deutsche Medien“, ARD, 28.08.2024.

15 HBS (2024): „Was Mitbestimmung bewirkt“, https://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-21087.html

16 Kiess, Johannes/ Wesser-Saalfrank, Alina/ Bose, Sophie/ Schmidt, André/ Brähler, Elmar/ Decker, Oliver (2023): Arbeitswelt und Demokratie in Ostdeutschland. Erlebte Handlungsfähigkeit im Betrieb und (anti)demokratische Einstellungen, OBS, https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AP64_IC_Ostdeutschland_WEB.pdf

17 „Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft und zur Änderung von Vorschriften für die Bundeswehr“, Gesetzentwurf der Bundesregierung, Drucksache 20/ 13488, 20.

18 „Artikelgesetz Zeitenwende. Ein Gespräch mit Dietmar Bartsch“, BAG Betrieb & Gewerkschaft, 21.12.2024, https://betriebundgewerkschaft.de/aus-dem-bundestag/2024/12/artikelgesetz-zeitenwende/

19 „Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft und zur Änderung von Vorschriften für die Bundeswehr“, 22.

20 Ebenda, 17f.

21 Das erhöhte Infektionsrisiko war aber nicht nur das Ergebnis des direkten Patientenkontaktes, sondern auch ihrer langen Arbeitszeiten. Als man im chinesischen Wuhan die tägliche Arbeitszeit in den Krankenhäusern auf sechs Stunden halbierte, sanken die Infektionszahlen des Pflegepersonals. In Deutschland war das in keiner Klinik umsetzbar, obwohl die Mitbestimmung bei der Arbeitszeit als eines der schärfsten Schwerter eines Betriebsrats gilt.

22 Siehe Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Betrieblicher Infektionsschutz in der Corona-Pandemie“ von Krellmann, Jutta u.a., Fraktion Die Linke im Bundestag, Drucksache 19/25013.

23 Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP), Mehr Fortschritt wagen, 71f.

24 „Kita-Eigenbetriebe: Urteilsbegründung zu Streikverbot liegt vor – ver.di geht in Berufung“, Pressemitteilung des ver.di Landesbezirks Berlin-Brandenburg, 01.10.2024, https://bb.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++2d2cec7a-7ff6-11ef-9df2-7f8c36c7c5d3

25 Wolfgang Däubler (2024): „Arbeitsrechtler: Der Arbeitgeber muss den Kita-Streik beenden“, nd, 08.10.2024.

26 Ebenda.

Quelle: etosmedia.de… vom 1. April 2025

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