Frankreich: Eine Streikdynamik wie 1995
Juan Chingo. 1995 konnte die Arbeiter*innenklasse mit massiven Aktionen eine rechte Regierung zurückdrängen. Auch in der aktuellen Bewegung, die erste große gegen eine „linke“ Regierung, begibt sich die Arbeiter*innenklasse immer stärker in die Offensive.
Während der großen Bewegung von November-Dezember 1995 gegen die Renten- und Sozialversicherungsreform von Juppé [damaliger Premierminister A. d. Ü.], befand sich die Nationale Eisenbahngesellschaft Frankreichs (SNCF) an der Spitze des Kampfes. Aber auch die Postarbeiter*innen, die Lehrer*innen, das Erziehungswesen, die Französische Telekom, die nationale Stromgesellschaft und das Gesundheitswesen waren beteiligt. Im Unterschied zu diesem „Winter der Unzufriedenheit“, im Laufe dessen der öffentliche Sektor in der vordersten Front der Bewegung stand, sind es diesmal im Mai 2016 die Raffinieriarbeiter*innen, die das Land lahmlegen.
Acht Raffinerien sind im Streik, die immer stärker andere Sektoren der Privatwirtschaft infizieren und die vor allem von den Hafenarbeiter*innen in ihrem Kampf unterstützt werden. Die aktuellen Aktionen verbinden sich mit so genannten „Blockstreiks“ von 48 Stunden bei der SNCF am Mittwoch und Donnerstag jede Woche, während der städtische Transport, vor allem die Pariser Nahverkehrsgesellschaft (RATP), und das Flugwesen Anfang Juni in den Kampf treten. Man atmet dieser Tage einen Hauch der Luft von 1995.
1995 gab es einige Versuche von „branchenübergreifenden Streiks“, wie in La Fosse, in Rouen oder in einigen östlichen Stadtbezirken von Paris. Damals verschärfte der Allgemeine Gewerkschaftsbund (CGT) mit Bernard Thibault an der Spitze den Ton in Richtung der Regierung Juppé sehr stark, damit sich eine Koordination von 1986 bei der SNCF oder von 1987 bei den Krankenpfleger*innen nicht wiederholt. Heute ist es, als ob Philippe Martinez [Generalsekretär der CGT, A. d. Ü.] dieselbe Taktik fahren würde, damit sich keine solche Selbstorganisierung entwickelt, wie es im Anfangsstadium des Kampfes gegen die Rentenreform 2010 war.
Parallelen zur Vergangenheit
Wie 1995, hat der Französische und Demokratische Arbeitsbund (CFDT) die gemeinsame Front der Gewerkschaftsorganisationen gebrochen und spielt seine Rolle als gelbe Gewerkschaft. Laurent Berger [Generalsekretär der CFDT, A. d. Ü.] macht das fast besser als Nicole Notat [damalige Generalsekretärin der CFDT, A. d. Ü.], um den Streik zu lähmen.
So wie 1995 die Studierenden und die Jugendlichen die Speerspitze des ersten Teils der Mobilisierung bildeten, so nahm ihre Mobilisierung in dem Moment ab, als die Streikwelle an Fahrt aufnahm.
Einer der großen Unterschiede zu 1995 ist, dass die große Teilnahme des öffentlichen Sektors die Streiks massiver machte. Gerade an die Beschäftigten des öffentlichen Diensts machte Hollande in diesem Jahr Zugeständnisse, damit sie nicht in den Kampf eintreten (Sockelbetrag für die Gehaltsberechnung, 800 Euro Prämie für die Lehrer*innen an Schulen), die dies dann auch kaum taten.
Auch gibt es nicht dieselbe studentische Dynamik wie 2006 während der Bewegung gegen den Erstanstellungsvertrag (CPE). Der Mut der Jugend gegen die Repression in den ersten Wochen der aktuellen Bewegung hat aber dazu beigetragen, die Polizeikräfte des imperialistischen Staates zu delegitimieren.
Ein weiterer großer Unterschied ist Nuit Debout („Aufrechte Nacht“). Diese Bewegung ist eine Vermittlerin zu der übrigen Bewegung und trägt zur allgemeinen politischen Radikalisierung bei, die aber noch weit hinter 1968 zurückbleibt. Damit greift sie auch den neoliberalen Allgemeinplatz „There is no alternative“ (TINA) an, der von der britischen Präsidentin Margaret Thatcher geprägt wurde. Doch durch den horizontalistischen Versammlungscharakter kann sie nicht zum Mittelpunkt der Bewegung werden, wie es jetzt die Streiks und der mögliche Mangel von Treibstoff geworden sind. Diese Streiks zeigen gleichzeitig ihre Überlegenheit gegenüber der Strategie kleiner radikaler Aktionen der autonomistischen Bewegungen auf, die sich gegen die Organisierung, Koordinierung und demokratische Entscheidungen der Kämpfenden wehren.
Einmal mehr sind die Raffineriearbeiter*innen, wie bei dem Streik gegen die Schließung des Werks von Flandern in den Jahren 2009 und 2010 oder bei der Bewegung gegen die Rentenreform von Sarkozy, die Avantgarde der Arbeiter*innenbewegung in Frankreich. Le Havre wurde dabei zur Streikhauptstadt, da sie als zweitgrößter Hafen Frankreich und Sitz mehrer Öl- und Gasvorräte und einer Raffinerie verschiedene strategische Sektoren vereint.
Es ist kein Zufall, dass die Führung von Total angekündigt hat, die Investitionen in Frankreich zurückzufahren und das während der Streik in vollem Gang ist. Es handelt sich wohlgemerkt um eine Erpressung, aber könnte auch das strategische Interesse des französischen Unternehmertums wiederspiegeln, diesen Schlüsselsektor des Proletariats zu zerschlagen. Um es anders auszudrücken: Wenn der „französische“ Thatcherismus sich durchsetzen will, dann muss er die Raffineriearbeiter*innen besiegen, wie es Thatcher damals mit den Bergarbeiter*innen tat. Der Kampf wird lange dauern und sehr hart und gewaltsam sein.
Eine der Hauptunterschiede zwischen der aktuellen Bewegung und der von 1995 besteht darin, dass die Bourgeoisie in Zeiten weltweiter Krise und ihren europäischen Auswirkungen bereit ist, zu härteren Maßnahmen zu greifen. 2010 wurde deutlich, wie Sarkozy die Rentenform trotz einer wiederholten Mobilisierung von Millionen Arbeiter*innen durchsetzen konnte.
Damals erfuhr die Dynamik der Verallgemeinerung des Streiks mit den Raffineriearbeiter*innen an der Spitze ein jähes Ende wegen der bremsenden Rolle der Gewerkschaftsführungen, die Strafverfahren bei den Raffinerien von Granpuits und Donges durchgehen ließen, was der Bewegung einen Gnadenstoß versetzte.
Im Unterschied zur Amtszeit von Sarkozy ist Hollande heute viel schwächer. Der Verlust der Autorität der Exekutive hat einen Höhepunkt in der Fünften Republik erreicht und das trotz des permanenten Notstandes, was das Duo Hollande-Valls noch lächerlicher macht und die Angriffe der Rechten und der extremen Rechten um die Frage der Regierungskrise noch verschärft.
Aber zu sehr auf diesem Element zu beharren, ebenso wie auf dem Druck, den mehrere Sektoren im Kampf ausüben, könnte sich als ungenügend erweisen, um die Regierung zurückzudrängen.
Ausweitung auf andere Sektoren
Um zu gewinnen, muss der Kampf auf die Gesamtheit der Arbeiter*innen ausgeweitet werden, angefangen vom Automobilsektor, in dem immer noch die meisten Industriearbeiter*innen beschäftigt sind, und der Luftfahrt, der dynamischste Wirtschaftssektor in Frankreich aktuell, bis hin zu den ausgebeutetsten Sektoren wie den prekären Schichten des Proletariats, den Arbeitslosen und der Jugend in den Vororten. Sie versprühen einen enormen Klassenhass und besitzen viel Energie, um den Kampf anzutreiben.
Die CGT hat sich in die einzige Opposition links der Regierung Hollande-Valls verwandelt. Die Führung um Martinez sollte ein Programm der Arbeiter*innen verteidigen, um aus der aktuellen Krise herauszukommen – ausgehend von der vollständigen Rücknahme des Arbeitsgesetzes, um die Einheit der Arbeiter*innenklasse mit den verarmten Massen, die am meisten von der Krise betroffen sind, herauszustellen und ihnen so eine Perspektive zu geben.
Es ist zentral, dass die Vollversammlungen in den mobilisierten Sektoren anfangen, von ihren Führungen ein Programm dieser Art zu fordern. Sie müssen sich der Strategie der Streikkomitees bemächtigen, die sowohl die Gewerkschafter*innen und die Nicht-Gewerkschafter*innen versammeln, um die Basis der kollaborationistischen Gewerkschaften für den Streik zu gewinnen. So kann auch die Selbstverteidigung gegen die Repression verstärkt werden, die gegen die entschlossensten Sektoren zunehmen wird.
Quelle: www.klassegegenklasse.org… vom 27. Mai 2016
Tags: Arbeitswelt, Frankreich, Gewerkschaften, Neoliberalismus
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