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Die Nato-Mission und die Knechtung der Frauen durch die Taliban

Eingereicht on 28. Dezember 2022 – 12:04

Florian Rötzer. Der Wunschtraum der Taliban, die kein Islamisches Emirat, sondern ein Männerregime errichten. Die Nato hat die Militärintervention in Afghanistan auch mit der Befreiung der Frauen legitimiert. Die wurden durch die Flucht der Nato verraten und die Taliban erhielten Hightech-Waffen und biometrische Daten.

Die Nato hat unter der Führung der USA den Krieg in Afghanistan beendet und den Taliban, die durch ihn wieder groß geworden sind, die Macht und viele Waffen hinterlassen. Im Stich gelassen wurden von der protzig benannten Nato-Mission Resolute Support viele afghanischen Mitarbeiter der ausländischen Truppen und Organisationen, die Soldaten und Polizisten der afghanischen Sicherheitskräfte und die Frauen und Mädchen, deren Schutz gerade zu einer Rechtfertigung des Militäreinsatzes dienten. Im Laufe des 20-jährigen Kriegs wurden direkt durch ihn schätzungsweise 176.000 Menschen in Afghanistan getötet, darunter 46.000 Zivilisten. Die Zahl der Toten, die als Folge des Kriegs um das Leben kamen, ist wesentlich höher. Bezieht man das pakistanische Grenzland mit ein, steigt die Zahl der Getöteten auf 243.000, darunter 70.000 Zivilisten. Das Land blieb trotz der vielen Milliarden, die die Schutz- und Rettungsmächte investierten, eines der ärmsten der Welt und versinkt nun engültig in Armut und Hunger.

Schon am 17. November 2001 versuchte die Bush-Regierung, den Krieg nicht nur durch die 9/11-Angriffe und den „Kampf gegen Terroristen“ zu legitimieren, sondern, so First Lady Laura Bush in einer Radioansprache,  auch als „Kampf für die Rechte und die Würde der Frauen“. Durch die militärischen Erfolge seien die Frauen nicht mehr in ihren Häusern eingesperrt, könnten Musik hören und ihre Kinder ohne Angst vor Bestrafung unterrichten. Man wird sich erinnern, dass dies gut ankam, der moralisch gute Krieg, durch den angeblich auch die westlichen Staaten verteidigt wurden, verdeckte seine dreckige Seite. Gleichzeitig wurde die Bevölkerung auf weitere „gute“ Kriege und neue Begründungen wie irakischen Massenvernichtungswaffen vorbereitet.

Das US-Außenministerium veröffentlichte am selben Tag einen entsprechenden Bericht, der die strategische Kommunikation ausbreitete. Geschwärmt wurde von der Vor-Taliban-Zeit, wo man allerdings die Rolle der Sowjetunion verschwieg – und selbstverständlich auch, dass Washington mit der CIA den Kampf Mudschaheddin gegen die Sowjetunion tatkräftig unterstützt hatte. Mit den islamistischen „Freiheitskämpfern“, wie sie damals hießen, wurden bekanntlich al-Qaida und Taliban gefördert, die so lange gut waren, so lange sie gegen die Sowjets kämpften. Der Afghanistan-Krieg war mit entscheidend für den Zusammenbruch der Sowjetunion. Zu vermuten ist, dass die Strategen in Washington jetzt mit der massiven Unterstützung der Ukraine auf den Zusammenbruch Russlands setzen. Auch dabei werden rechtsnationalistische Milizen zu hoch motivierten „Freiheitskämpfern“, die ausgebildet und mit Waffen ausgestattet werden.

In dem Bericht vom 17. November 2001 heißt es:

„Schon bald nach der Übernahme der Kontrolle über die afghanische Hauptstadt Kabul im Jahr 1996 begann das Taliban-Regime mit der systematischen Unterdrückung aller Teile der Bevölkerung.  Der Krieg der Taliban gegen Frauen ist jedoch besonders entsetzlich. Die Taliban haben den Schulbesuch für Mädchen ab acht Jahren verboten, die Frauenuniversität geschlossen und Frauen gezwungen, ihre Arbeit aufzugeben.  Sie haben den Zugang zu medizinischer Versorgung für Frauen beschränkt, eine restriktive Kleiderordnung brutal durchgesetzt und die Bewegungsfreiheit von Frauen eingeschränkt. Die Taliban haben eine Gesellschaft, die dringend ausgebildete Fachkräfte braucht, um die Hälfte ihres Vermögens gebracht.“

Das liest sich wie die aktuellen Beschreibungen, was letztlich bedeuten würde, dass die Verteidigung am Hindukusch und der kriegsbedingte Tod von 170.000 Menschen nur dazu führte, dass der Vorkriegszustand wiederhergestellt und die Taliban erneut ihre religiös verbrämte Männerherrschaft installieren können – dieses Mal nur technisch besser ausgerüstet, auch wenn es einem Großteil der Menschen schlecht geht. Nach WFP sind 4 Millionen Afghanen akut unterernährt, meist Kinder. Über 28 Millionen seien auf humanitäre Hilfe angewiesen, 20 Millionen – fast die Hälfte der Bevölkerung – sind akut mangelernährt. 90 Prozent der Haushalte haben nicht ausreichend Lebensmittel, während bei vielen die Verschuldung angewachsen und die Lebensmittelpreise angestiegen sind. Das WFP hätte schon für die erste Hälfte 2023 nicht ausreichend Geld, um die notwendige Hilfe leisten zu können, es fehlen 1,4 Milliarden Dollar. Die westlichen Staaten liefern derzeit Waffen und Geld in die Ukraine, schotten sich vor afghanischen Flüchtlinge ab und stellen sich nicht ihrer Verantwortung.

Die Taliban arbeiten dem zu. Zunächst ordneten sie die Ganzkörperverhüllung an, dann verboten sie den Frauen Zugang zu Parks und das Reisen alleine, jetzt haben Mädchen keinen Zugang zu höheren Schulen und junge Frauen zu den Universitäten mehr, was auch bedeutet, dass Lehrerinnen und Dozentinnen ihre Jobs verlieren. Es folgte das Verbot für Frauen, bei Nichtregierungsorganisationen zu arbeiten, was zur Folge haben könnte, dass die Taliban für ihre Bevölkerung riskieren, von humanitärer Hilfe ausgeschlossen zu werden, auf die so viele angewiesen sind. Das könnte auf ein allgemeines Arbeitsverbot für Frauen hinauslaufen, was die Armut weiter befördern würde.

Die Logik ist kaum verständlich, entspringt vermutlich religiöse wirren Köpfen, die Frauen jede Möglichkeit nehmen wollen, selbständig zu handeln und sich frei zu bewegen. Sie sollen eine Art dummes Haustier an der Leine werden, das macht, was der Herr des Hauses anordnet. Allerdings werden die Taliban hier nicht einmal von Saudi-Arabien und Pakistan mehr gedeckt, auch die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain kritisieren die Taliban.

Um die Kontrolle über den öffentlichen Raum zu stärken, wird in Kabul gerade ein System von Überwachungskameras aufgebaut. Geerbt von den Amerikanern haben die Taliban ein umfassendes Biometrie-System mit Biometrie-Scannern wie den Handheld Interagency Identity Detection Equipment (HIIDE) und Datenbanken mit den biometrischen Daten und weiteren persönlichen Informationen. Das ist schon gleich nach dem überhasteten Abzug oder der Flucht der Nato bekannt geworden.

Wie weit das System schon benutzt wird, ist nicht klar. Gesammelt wurden – auch mit der Hilfe der Bundeswehr, die Bundesregierung sah keine Bedenken – die biometrischen Daten der Soldaten, Polizisten und Mitarbeiter, aber auch aller anderen Afghanen, die man dazu zwingen konnte. Es ging angeblich darum, wie man dies auch im Irak praktiziert hatte, die Guten von den Bösen zu unterscheiden und etwa bei Straßensperren identifizieren zu können. Der Plan war angeblich, biometrische Daten von 80 Prozent der Bevölkerung in den Datenbanken zum Abgleich zu haben.

Eine Gruppe des Chaos Computer Clubs konnte vier SEEK II (Secure Electronic Enrollment Kit) und zwei der HIIDE-Geräte, die zuletzt 2012 in Afghanistan benutzt wurden, auf Ebay kaufen und untersuchen. Auf ihnen befanden sich völlig ungeschützt die Namen, Fingerabdrücke, Iris-Scans und Fotos von 2600 Afghanen und Irakern. Klar wird damit, wie gefährlich solche Datensammlungen sein können, wenn eine Regierung stürzt oder womöglich nur abgewählt wird. Selbst wenn die Daten gesichert wären, sind sie vorhanden, wenn repressive Regime die Macht übernehmen.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bekundet scheinbar entschlossen: „Wir werden nicht akzeptieren, dass die Taliban die Humanitäre Hilfe zum Spielball ihrer Frauenverachtung machen.“ Oder: „Wer Frauen und Mädchen von Arbeit, Bildung und öffentlichem Leben ausschließt, ruiniert nicht nur sein Land. Geschlechtsbezogene Verfolgung kann auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sein. Wir setzen uns für eine deutliche Reaktion der internationalen Gemeinschaft ein.“ Was die Konsequenz sein könnte, sagte sie nicht. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze verkündete ein Aussetzen der Hilfe, was auch einige Hilfsorganisationen erwägen. Das bestraft nicht die Taliban-Männer, sondern die Bevölkerung und verrät ein weiteres Mal die Frauen. Noch protestieren mutige Frauen in Afghanistan, die zum Teil rohe Gewalt erleben, und boykottieren männliche Studenten und Professoren in Solidarität mit den Frauen die Universitäten.

Die Taliban, die ihren Sieg über die Nato feiern, lassen sich nicht unter Druck setzen, auch wenn darunter das Volk leidet und möglicherweise viele an Hunger sterben werden. Als Organisation, die Selbstmordanschläge kultiviert hat, kalkuliert man auch mit dem märtyrerhaften Untergang der Gesellschaft.

Die Nato – am Einsatz waren auch die baltischen Länder, Polen, Rumänien, Ungarn oder die Ukraine beteiligt – könnte eine Ausreise- und Aufnahmekampagne starten, um alle Afghaninnen und Afghanen, die aus dem scheinreligiösen Männerregime, das tatsächlich einer toxischen Männlichkeit frönt,  fliehen wollen oder aus Not müssen, Schutz anzubieten, um die Folgen der eigenen Fehler zu mildern. Das aber will der Wertewesten nicht. Er führt lieber im Anschluss nach dem Scheitern einen neuen geopolitischen Krieg führt, der in der verqueren Logik einer moralisch einseitigen Politik neuerdings nicht mehr tötet, sondern Leben schützt – wie das auch in Afghanistan behauptet wurde. Darin bleibt man sich treu.

Quelle: overton-magazin.de… vom 28. Dezember 2022

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