Frankreichs umkämpfte Arbeitsrechts-„Reform“, Stand vom 4. Juli 2016
Bernard Schmid. Der aktuell in Frankreich regierende Parti Socialiste (PS) sagt seine für Ende August 16 geplante „Sommeruniversität“ ab: „Furcht vor Ausschreitungen“
* Erneute Demonstrationen am Dienstag, den 05. Juli 16, welche mit dem ersten Jahrestag des griechischen OXI-Referendums zusammenfallen * Steht ein Ausscheren des Dachverbands FO (Force Ouvrière) aus der sozialen Protestfront bevor? * „Kompromiss“diskussion zwischen Arbeitsministerium und FO-Spitze: Überstundenzuschläge aus dem Anwendungsbereich des geplanten „Arbeitsgesetzes“ ausklammern? Völlig unnütz, wenn gleichzeitig geleistete Arbeitsstunden ihren Status als „Überstunden“ verlieren… * Regierung baut darauf, dass das „EM-Fußball-Fieber“ nunmehr Frankreich erfasse und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ablenke * Vor erneuter Anwendung des Verfassungsartikels 49-3 (Aushebelung des Parlaments) – mit Zustimmung der sozialdemokratischen Partei„linken“?
Das hatten sie sich so schööön gedacht: Ende August 16 sollte im westfranzösischen Nantes die „Sommeruniversität“ der französischen Regierungspartei, des Parti Socialiste (PS), stattfinden. Der Austragungsort wäre neu gewesen, denn in den vergangenen Jahren war die Sommerakademie – es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Veranstaltung, sondern um eine parteipolitische Show, mit der alljährlich das Ende der politischen Sommerpause eingeläutet wird – stets in La Rochelle angesiedelt gewesen.
Doch in diesem Jahr war dort nun mit handfesten Protesten zu rechnen, zu denen es bereits seit Ende Juni einen Aufruf und ein Termin für Vorbereitungstreffen in Nantes gab. Es deutete sich an, dass es richtig hoch hergehen könnte: Nantes war in den vergangenen vier Monaten eine Hochburg militanter Proteste gegen das geplante „Arbeitsgesetz“, aber auch ein „Brennpunkt“ der Vorfälle von Polizeigewalt und –repression. Ferner liegt Nantes auch noch in der Nähe des geplanten neuen Flughafens von Notre-Dames-des-Landes (NDDL); dieses Vorhaben bleibt heftig umstritten. Auch wenn ein Pseudo-Referendum auf Bezirksebene – dessen Gültigkeit umstritten bleibt, zumal die Beschränkung auf die Wählerschaft im Verwaltungsbezirk (Département) von Anfang an kritisiert wurde – soeben am 26. Juni 16 eine Mehrheit von 55 % für den Bau erbracht hat. (Vgl. http://danactu-resistance.over-blog.com/2016/06/consultation-nddl-toutes-les-reactions.html ) In den vom geplanten Flughafenbau hauptbetroffenen Kommunen war dagegen eine Ablehnung in Höhe von 76 % zu verzeichnen. Ein Baubeginn ist nun für Herbst 2016 angekündigt (vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2016/06/29/97001-20160629FILWWW00214-notre-dame-des-landes-le-projet-est-incontestable-valls.php ), was notwendigerweise voraussetzt, dass die von Flughafengegner/inne/n besetzte Zone à défendre (ZAD, „zu verteidigende Zone“) geräumt wird. Premierminister Valls hat dies bereits explizit angekündigt. Dies dürfte jedoch nicht ohne heftigste Auseinandersetzungen ablaufen. Auch dieser Protest könnte sich mit den übrigen Konflikten verbinden…
Am gestrigen Sonntag, den 03. Juli 16 kam nun der Überraschungscoup: Parteichef Jean-Christophe Cambadélis verzichtet auf die Abhaltung der „Sommeruniversität“ in Nantes zum geplanten Zeitpunkt. Diese soll entweder verschoben oder abgesagt werden. Als Begründung wird „das Risiko von Gewalttätigkeiten“ angegeben: (Vgl. http://www.lemonde.fr/politique/article/2016/07/03/le-premier-secretaire-du-parti-socialiste-souhaite-reporter-ou-suspendre-l-universite-d-ete-du-ps-prevue-a-nantes_4962801_823448.html ) Die Absage oder Verschiebung der Veranstaltung kostet die französische Regierungspartei voraussichtlich „mindestens 300.000 Euro“. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2016/07/04/97001-20160704FILWWW00019-le-report-de-l-universite-d-ete-du-ps-coutera-au-minimum-300000-euros.php ) Hihihi..
Unterdessen sollen am morgigen Dienstag, den 05. Juli d.J. Erneut Demonstrationen in Paris und weiteren französischen Städten gegen das geplante „Arbeitsgesetz“ stattfinden. Zu ihm beginnt am selben Tag die Aussprache in der Plenarsitzung der französischen Nationalversammlung zur entscheidenden dritten Lesung des Gesetzentwurfs. Letzterer war am 30. Juni – vergangenen Donnerstag – an die Nationalversammlung zurückgegeben worden, zunächst für Beratungen und Ausschusssitzungen.
Zuvor hatte der Senat, das konservativ dominierte „Oberhaus“ des französischen Parlaments, den Entwurf am Dienstag, den 28. Juni in einer veränderten Fassung verabschiedet. Die konservativ-wirtschaftsliberale Senatsmehrheit hatte dabei an einigen Punkten symbolträchtige Verschärfungen vorgenommen, beispielsweise um die Schwelle für die Einrichtung eines Comité d’entreprise (SEHR UNGEFÄHRE Entsprechung zum deutschen Betriebsrat) von 50 auf 100 Beschäftigte anzuheben. Auch soll die „Regel-Arbeitszeit“, welche theoretisch die gesetzliche Norm darstellt, von derzeit 35 Stunden wöchentlich – wie es seit dem 19. Januar 2000 Gesetzeslage ist – auf nunmehr 39 Stunden als Richtwert (wie zwischen Januar 1982 und Januar 2000) angehoben werden.
Vorsicht: Diese „Regelarbeitszeit“ stellt ohnehin, auch heute, nur eine sehr theoretische Norm dar. Denn das sozialdemokratische Arbeitszeitgesetz vom Januar 2000 erlaubt es ausdrücklich, allwöchentlich von ihr abzuweichen: Ein Mittelwert von 35 Stunden wöchentlich (ohne gesondert zu leistende Überstunden) muss nur über einen längeren Ausgleichszeitraum hin erreicht werden. Dieser Zeitraum kann derzeit bis zu einem Monat, sofern er vom Arbeit„geber“ einseitig festgelegt wird, oder im Falle einer Vereinbarung mit einer oder mehreren Gewerkschaften (ab dreißig Prozent Stimmenanteil) bis zu einem Jahr beantragen. Der Gesetzentwurf der Regierung Hollande/Valls sieht vor, denselben Zeitraum auf bis zu drei Jahre auszudehnen, sofern es zu einer Vereinbarung mit im Unternehmen vertretenen Gewerkschaften kommt – die Tante CFDT lässt grüßen -, oder bis zu zwölf Wochen ohne Vereinbarung mit Gewerkschaften, durch einseitigen Entscheid des Arbeit„gebers“. Letzterer Wert wurde in den Gesetzesberatungen und den ihnen vorausgehen, oder sie begleitenden, Verhandlungen immer wieder verschoben. Im ersten Vorentwurf, dessen Inhalt am 17. Februar d.J. bekannt wurde, betrug er 16 Wochen. Dann kam es zu einer teilweisen Entschärfung des Gesetzentwurfs, der den „Kompromiss“ mit der CFDT-Spitze ermöglichte bzw. besiegelte, am 14. März. An jenem Tag wurde der Ausgleichszeitraum – bei einseitiger Festlegung durch den Arbeit„geber“ – auf neun Wochen abgesenkt, im Vergleich zum Vorentwurf. Doch anlässlich der Sitzung des Sozialausschusses der Nationalversammlung hoben die netten sozialdemokratischen Abgeordneten, diejenigen, von denen manche sich noch eine Entschärfung und Humanisierung des Entwurfs versprochen hatten, ihn wieder auf zwölf Wochen an.
Beim Votum des Senats und seiner Ablehnung durch die Regierung handelt es sich um ein abgekartetes Spiel: Diese Episode soll es der amtierenden Regierung erlauben, sich in die Rolle des berühmt-berüchtigten „kleineres Übels“ zu werfen. Eine entsprechende Schauveranstaltung der Regierung, mit Premierminister Manuel Valls an der Spitze, vom 08. Juni in Paris stand entsprechend unter dem demagogischen Motto „Für sozialen Fortschritt – gegen die Rückschritte durch die Senatsmehrheit“. (Sic) Doch die Sache wurde eher zum Fiasko: Drinnen befand sich ein eher handverlesenes Publikum von 200 Menschen – selbst Mitgliedern des sozialdemokratischen Pariser Stadtverbands, da zu kritisch, war eine Einladung verweigert worden -, draußen demonstrierten rund 1.000. Im Falle einer inhaltlichen Nichteinigung zwischen Nationalversammlung und Senat behält die Erstere das letzte Wort, die Position des Senats ist also letztendlich unerheblich (erfordert allerdings formal die Einsetzung eines Vermittlungsausschusses).
Die morgige Demonstration findet zudem am ersten Jahrestag des Griechenland-Referendums vom 05. Juli 2015 zu den Sparplänen der „Troika“ statt. Trotz des anschließenden Fiaskos, in Gestalt der Brüsseler Kapitulation von Alexis Tsipras in der Nacht zum 13. Juli 2015, bleibt der Ausgang des Referendums als solches ein positives Widerstandssignal. Einige der beteiligten Kräfte haben deswegen vor, der morgigen Pariser Demonstration eine stark europäisch-internationale Dimension zu verleihen.
Unterdessen zeichnet sich ernsthaft ab, dass der drittstärkste gewerkschaftliche Dachverband in Frankreich – FO (Force Ouvrière, ungefähr: „Arbeiterkraft“; zur inhaltlichen in die Fänge eines „Kompromisses“ mit der Regierung gehen dürfte. Die morgige Pariser Demonstration wird FO mutmaßlich bereits nicht mehr unterstützen; FO-Generalsekretär Jean-Claude Mailly erklärte jedenfalls am Mittwoch, den 29. Juli: „Wir sind nicht in einer Logik der Fortsetzung von Demonstrationen.“ (Vgl. auch Le Monde, Papierausgabe mit Datum vom 1. Juli 16)
Allem Anschein nach tendiert die FO-Spitze nun dahin, bestimmte „Kompromiss“-Angebote der Regierung als mehr oder minder akzeptabel zu betrachten. Eines davon haben wir in diesen Spalten vergangene Woche bereits vorgestellt: Es bestünde darin, zwar den Abschluss von Vereinbarungen auf Unternehmensebene (etwa zur Verlängerung und Flexibilisierung von Arbeitszeiten) weiterhin zu erleichtern, jedoch auf Branchenebene „Kommissionen“ zu bilden, die ggf. warnende „Empfehlungen“ aussprechen dürfen.
Eine zweite „Kompromiss“schiene deutet sich unterdessen ebenfalls an. In den Zeitungsspalten von Le Monde ließ Arbeitsministerin Myriam El Khomri erkennen, dass daran gedacht werden könne, zwar grundsätzlich Abkommen auf Unternehmensebene den Vorrang (gegenüber Branchenvereinbarungen, bei Arbeitszeiten auch gegenüber dem Gesetz) einzuräumen – jedoch mehrere Sachgebiete davon auszuklammern.
Dazu zählt die Dame sechs Sachgebiete auf. Vier davon stehen ohnehin bereits im Gesetz, Artikel L.2253-1 bis L.2253-3 des Arbeitsgesetzbuchs, stellen also inhaltlich absolut nichts Neues dar. (Denn seit dem 04. Mai 2004 erlaubt das Gesetz bereits, im Unternehmen Abkommen zu schließen die ungünstiger ausfallen als Branchenvereinbarungen – allerdings können die Branchen-Verhandlungs„partner“ sich dafür entscheiden, dies abzulehnen, also quasi eine Schließungsklausel vereinbaren. Beim bestehenden Gesetzentwurf geht es darum, bei bestimmten Themen wie Arbeitszeitpolitik solche Schließungsklauseln zu verhindern bzw. verbieten.)
Hinzu kämen laut Myriam El Khomri zwei neue Sachgebiete, bei denen Vereinbarungen im Unternehmen nicht ungünstiger ausfallen dürften als Branchenabkommen. Es ginge um Vereinbarungen zur Lohngleichheit zwischen Männer und Frauen (ein Ziel, das seit Jahrzehnten angestrebt wird und doch noch immer nicht erreicht wurde..) sowie Abkommen zur pénibilité. Dabei handelt es sich um „erschwerte Arbeitsbedingungen“, die bestimmte Sonder-Rentenpunkte und damit eine etwas frühere Verrentung ermöglichen – ein Zugeständnis der Regierung an die soziale Protestbewegung gegen die Renten„reform“ vom Herbst 2010, als das allgemeine Rentenalter hochgesetzt wurde. Seit 2014 steht diese pénibilité-Regelung nun im Gesetz. Vom 1. Juli bis 31. Dezember 2016 haben die Branchen nun Zeit, Richtwerttabellen dafür zu erstellen (nachdem die Kapitalverbände 2015 ein Jahr Aufschub dafür erhielten). Arbeit„geber“präsident Pierre Gattaz ruft seine Verbandsmitglieder allerdings nun zum Boykott der Anforderungen und zum „zivilen Ungehorsam“ auf…
Nicht von Myriam El Khomri genannt wurden hingegen die Arbeitszeitregeln, die das hauptsächliche Anwendungsgebiet des geplanten Gesetzes bilden dürften. FO-Chef Mailly seinerseits forderte die Ministerin dazu auf, die Höhe von Überstundenzuschlägen ebenfalls zu den ausgeklammerten Sachgebieten hinzuzunehmen. Dies würde verhindern, dass sie (gegenübe Gesetz oder Branchenabkommen) per Vereinbarung abgesenkt werden dürfen. Allerdings: Dies wird dann überhaupt nichts bringen, wenn durch die Existenz ausgedehnter „Ausgleichszeiträume“ bei der Berechnung der Arbeitszeiten – vgl. oben – unzählige Arbeisstunden gar nicht mehr als „Überstunden“ gewertet werden. Sondern eben einfach unter die „normale Arbeitszeit“ fallen, weil lange Arbeitswochen eben auf die Dauer durch kürzere „ausgeglichen“ werden…
Ansonsten werden sozialdemokratische „Dissidenten“-Abgeordnete in derselben Ausgabe von Le Monde mit den Worten zitiert, falls die Regierungsspitze eine mehrtägige Sachdebatte zulasse, dann werde man sich auch nicht dagegen sperren, wenn sie nach ein paar Tagen dann erneut den Verfassungsartikel 49-3 einsetzt (also den Entwurf durch Stellen der Vertrauensfrage durchdrückt, und die inhaltliche Aussprache beendet). (Vgl http://www.lemonde.fr/politique/article/2016/06/30/a-l-assemblee-ils-sont-quelques-uns-a-vouloir-croire-a-une-issue-heureuse_4961222_823448.html ) Ein wiiiirklich toller, echt sozialdemokratischer „Kompromiss“… Aber in Regierungskreisen scheint man fest daran zu glauben, dass nun – nach dem Fünf-zu-Zwei-Sieg gegen das tapfer kämpfende Island beim Fußball – endgültig das „EM-Fieber“ auch Frankreich erfasst. Davon erhofft man sich, die Öffentlichkeit sei nun hinreichend abgelenkt, um die Debatte nicht mehr „unnötig zu dramatisieren“…
Quelle: www.labournet.de… vom 5. Juli 2016
Tags: Arbeiterbewegung, Frankreich, Gewerkschaften, Neoliberalismus, Sozialdemokratie
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