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1997 war das Geburtsjahr der Multipolarität

Eingereicht on 16. Juni 2023 – 13:46

Sabine Schulz. Als Zeitenwende Deutschlands verkündete Bundeskanzler Scholz im Februar 2022 die Abkehr von wesentlichen Grundsätzen der deutschen Außenpolitik und erklärte dazu, Deutschland stelle sich auf „die richtige Seite der Geschichte“.

Seitdem liefert Deutschland Waffen in das Kriegsgebiet der Ukraine, inzwischen auch deutsche Kampfpanzer.

Währenddessen befindet sich die Menschheit in einer anderen Zeitenwende, im Übergang in ein tatsächlich neues Zeitalter, das sich schon vor Langem angekündigt hat.

1997: NATO-Beschluss zur Osterweiterung und russisch-chinesischer Beschluss zur Schaffung einer multipolaren Welt

Im April 1997 veröffentlichte Zbigniew Brzezinski sein bekanntes Werk „The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives“, dessen deutscher Titel „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ lautet. Darin legte der Berater des US-Präsidenten Jimmy Carter dar, Eurasien sei das große „Schachbrett“, auf dem die USA sich die Vorherrschaft sichern müssten, um „erste, einzige wirkliche und letzte Weltmacht“ zu werden.

Weniger bekannt ist, dass in Moskau am 23. April 1997 die „Gemeinsame russisch-chinesische Erklärung zur multipolaren Welt und zur Schaffung einer neuen Weltordnung“ vom russischen Präsidenten Boris Jelzin und dem chinesischen Präsidenten Jiang Zemin unterzeichnet wurde. Darin hieß es: „Beide Seiten verleihen ihrer Besorgnis wegen der Versuche zur Ausweitung und Stärkung von Militärblöcken Ausdruck, da diese Tendenz eine Bedrohung für die Sicherheit einiger Länder hervorrufen und Spannungen im regionalen und globalen Maßstab verschärfen kann.“ Nach der Unterzeichnung gab Jelzin kund: „Einige ziehen die Welt hin zu einer unipolaren Ordnung. Jemand will die Ordnung in der Welt diktieren. Und wir wollen eine multipolare Welt.“

Die russisch-chinesische Vereinbarung zur Multipolarität sah der Westen als Reaktion auf die NATO-Osterweiterung an, gegen deren Planung Moskau seit 1993 und Jelzin noch im Vormonat auf dem Helsinki-Gipfel gegenüber US-Präsident Clinton entschiedenen Einspruch erhob.

Am 27. Mai 1997 wurde die NATO-Russland-Grundakte von der russischen Seite widerwillig unterzeichnet, weil sie Russlands Interessen darin zu wenig berücksichtigt sah. Auf dieses Datum bezog sich am 17. Dezember 2021 das russische Vertragsangebot zu Sicherheitsgarantien an die NATO in seinem Artikel 4, der im Westen für besondere Empörung sorgte.

Fehler von historischem Ausmaß

Im Juni 1997 protestierten 50 prominente amerikanische Politiker, Militärs und Wissenschaftler, unter ihnen der ehemalige US-Verteidigungsminister McNamara, in einem Offenen Brief an Bill Clinton energisch gegen die NATO-Osterweiterung und bezeichneten sie als politisch-strategischen Fehler von historischem Ausmaß. Dennoch wurde auf dem NATO-Gipfel im Juli 1997 das Angebot zu Beitrittsverhandlungen an Polen, Tschechien und Ungarn und zuvor schon die NATO-Ukraine-Charta beschlossen.

Als Jelzin im Dezember 1999 trotz angeschlagener Gesundheit nach China eilte, um sich dessen Unterstützung bezüglich Tschetscheniens zusichern zu lassen, drohte er in Beijing vor laufenden Kameras: „Gestern erlaubte Clinton sich, Russland unter Druck zu setzen. Es scheint, er hat für eine Minute, eine Sekunde, eine halbe Minute vergessen, dass Russland ein volles Arsenal nuklearer Waffen hat.“ Darauf reagierte in Moskau der damalige Premierminister Russlands Wladimir Putin entsetzt und versicherte, Russland lege Wert auf gute Beziehungen zu den USA.

Im März 2000 wurde Putin Präsident Russlands und schlug den USA „radikalen Abbau der nuklearen Arsenale innerhalb kürzester Zeit“ vor. Dazu sagte er: „Wir sehen keinen Grund, der eine weiter gehende Abrüstung der strategischen Waffen verhindern könnte“. Laut des damaligen NATO-Generalsekretärs George Robertson zeigte Putin Interesse an der Aufnahme Russlands in die NATO und bat um eine offizielle Einladung dazu. Dem BBC-Journalisten David Frost sagte Putin damals: „Russland ist Teil der europäischen Kultur. Ich kann mir mein eigenes Land einfach nicht isoliert vorstellen von Europa und dem, was wir so oft die ’zivilisierte Welt’ nennen.“ Doch Putins Vorschläge für ein Europa von Lissabon bis Wladiwostok fanden im Westen keinen Anklang.

2001: „War on Terror“ – Krieg auf dem „Schachbrett“ Eurasien

Im April 2001 gab das US-Verteidigungsministerium die alle Bereiche umfassende Strategie-Doktrin „Full Spectrum Superiority“ heraus, die als „Full Spectrum Dominance“ bekannt wurde. Schon im September 2001 trat durch die als 9/11 bekannten Terroranschläge mit fast 3.000 Todesopfern für die USA der Grund ein, sie in ihrem „Global War on Terror“ auf dem von Brzezinski so bezeichneten „Schachbrett“ Eurasien zu erproben.

Im Oktober 2001 wurden mit der „Operation Enduring Freedom“ 20 Jahre Krieg in Afghanistan begonnen. Hillary Clinton konstatierte damals im Interview mit Fox News, dass die USA dort nun genau die fanatisch islamistischen Milizen bekriegten, die sie Jahre zuvor selbst organisiert, trainiert und bewaffnet hatten, damit sie durch zehn Jahre Guerillakrieg gegen die Sowjetarmee zum Zerfall der Sowjetunion beitrugen.

Beim Angriff auf den Irak 2003 wurde die Doktrin „Rapid Dominance“ erprobt, auch „Shock and Awe“ genannt. In deren Folge bekam die islamistische Terrormiliz IS Zulauf und besetzte Gebiete in Irak und Syrien, was den USA Anlass bot, auch in Syrien US-Truppen zu stationieren.

Nach einer Studie der Brown University hat der „War on Terror“ in Afghanistan, Pakistan, Irak, Syrien und Jemen mindesten 4,5 Millionen Todesopfer gefordert.

Seit dem 24. Februar 2022 wird es hierzulande als „Whataboutism“, wenn nicht gar als „russische Propaganda“ angesehen, daran zu erinnern, dass es sich in der Ukraine nicht um den ersten Angriffskrieg dieses Jahrhunderts handelt. Doch im globalen Süden sieht man es mit Blick auf all die Länder, in denen als Folge des „War on Terror“ weiterhin große Not herrscht, keineswegs als „Whataboutism“ an. Von der Mehrheit der Welt wird der Ukraine-Krieg als nur einer in einer langen Serie von Kriegen wahrgenommen.

Darauf weisen in den USA selbst zunehmend mehr Stimmen hin, die keineswegs als „Außenseiter“ oder als „russische Propaganda“ betreibend gelten. Neben einigen US-Medien hat auch der Council on Foreign Relations, zu dessen Mitgliedern US-Außenminister Blinken und US-Verteidigungsminister Austin zählen, in seinem Magazin Foreign Affairs seit Ende Februar mehrere Artikel veröffentlicht, die den Hegemonie-Anspruch der USA in Frage stellen.

2023: Übergang in die Multipolarität

Kürzlich hat Foreign Affairs eine Expertenumfrage zum Thema erstellt. Darin haben von 71 befragten Wissenschaftlern und Politikern nur 17 der Aussage zugestimmt, dass die globale Machtverteilung heute näher daran sei, unipolar zu sein als bipolar oder multipolar. Demgegenüber haben 46 dieser Aussage widersprochen und sich in ihren Begründungen mehrheitlich als von einer multipolaren Entwicklung überzeugt geäußert.

Unter ihnen hat Mark Leonard, Gründer und Direktor des European Council on Foreign Relations, die Vorstellung einer zukünftigen Bipolarität zwischen den USA und China als hinfällig bezeichnet, weil inzwischen aufstrebende Länder des globalen Südens mit großer Bevölkerung und großem Wirtschaftspotential ihren eigenen Platz suchen.

Noch viel deutlicher ist Fiona Hill, Mitglied des Atlantic Council und erst recht nicht „russischer Propaganda“ verdächtig, sondern von der Tageszeitung Politico als „russia hawk“, als anti-russische Falkin, beschrieben, in ihrer Rede am 15. Mai 2023 geworden. Sie sagt wörtlich, der „War on Terror“ habe die Erinnerung an den Horror der US-Kriegsführung in Korea und Vietnam wiederbelebt – und sie muss es wissen als damalige Beraterin Bushs und Obamas. Den Ukraine-Krieg bezeichnet sie als „Rebellion“ Russlands gemeinsam mit dem „Rest der Welt“. Sie betont, der Ukraine-Krieg zeige den Niedergang der US-Welthegemonie, weil die große Mehrheit der Welt sich aufgrund ihrer vorherigen Erfahrungen mit den USA nicht auf deren Seite ziehen lasse, trotz aller Ablehnung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine.

Zitat/Fiona Hill: „Der Krieg in der Ukraine ist vielleicht das Ereignis, welches das Ableben der Pax Americana für jedermann ersichtlich macht.“ „Zusammengefasst, in 2023 hören wir ein durchschlagendes Nein zur US-Dominanz und sehen ein deutliches Verlangen nach einer Welt ohne Hegemon.“

Mit diesem Ergebnis hatte man im Atlantic Council ein Jahr zuvor nicht gerechnet. Sein Präsident Frederick Kempe hatte am 3. April 2022 bei CNBC dargelegt, der Ukraine-Krieg sei die Chance zur endgültigen Etablierung der globalen US-Hegemonie, nachdem sie in den vergangenen Jahren erodiert sei. Kempe schrieb wörtlich, es gehe darum „ob die USA und ihre Verbündeten durch die Ukraine die Erosion der Errungenschaften des letzten Jahrhunderts rückgängig machen können als ersten Schritt zur ersten wirklich „globalen“ Weltordnung.“

Es kündigt sich keine heile Welt an

Diese Formulierung mit „through Ukraine“, bei der die Ukraine nicht Subjekt, sondern Objekt ist, erinnert an das „Schachbrett“ von Zbigniew Brzezinski. Doch nun weigern sich immer mehr Länder, auch zuvor mit den USA verbündete, wie Schachfiguren benutzt und geopfert zu werden.

Mit politischem und wirtschaftlichem Druck haben die USA vergeblich versucht, mehr als nur die weiterhin mit ihnen verbündeten Länder zur Beteiligung an den Russland-Sanktionen zu nötigen. Der US-Abgeordnete Michael McCaul hatte dazu verkündet: „Wir müssen jeden Staat vor die Wahl stellen, Geschäfte mit der freien Welt oder mit einem Kriegsverbrecher zu machen“. Das US-Repräsentantenhaus brachte im März 2022 fast einstimmig die Gesetzesvorlage „Bekämpfung maligner russischer Aktivitäten in Afrika“ zur Kontrolle und Sanktionierung des Umgangs der afrikanischen Länder mit Russland ein. Sofort kam aus Afrika entschiedener Protest, aber auch Spott, beispielsweise darüber, dass ausgerechnet die USA sich Verteidigung der Demokratie zuschreiben.

Durch ihr nach dem Niedergang der Sowjetunion ungebremstes Machtstreben haben die USA und ihre Verbündeten Entschlossenheit im „Rest der Welt“ hervorgerufen, von Jahrhunderten westlichen Herrenmenschentums in ein Zeitalter überzugehen, das nicht mehr vom Westen dominiert wird. Der deutsche Bundeskanzler gab am 14. Dezember 2022 in seiner Regierungserklärung zu: „Die Welt des 21. Jahrhunderts wird eine multipolare Welt sein.“

Auch die multipolare Welt wird keine „heile Welt“ sein, doch sie bietet Hoffnungen und könnte die Chance dafür sein, dass die Menschheit drängende Probleme wie Klimawandel, Umwelt- und Ressourcenraubbau kooperativ zu lösen beginnt, um nicht in einer Dystopie zu enden.

Quelle: overton-magazin.de… vom 16. Juni 2023

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