25 Jahre Jugoslawienkrieg: Weltmacht, Öl und Gold
David North & James Brookfield. Vor 25 Jahren griff die NATO Jugoslawien an, das damals noch aus Serbien und Montenegro bestand. Sie besiegelte damit die endgültige Zerschlagung des Staats, der nach dem Zweiten Weltkrieg im Kampf von Titos Partisanen gegen die Nazi-Besatzung entstanden war. Für die Bundeswehr war es der erste Kriegseinsatz seit Hitlers Niederlage. Die Koalition von SPD und Grünen unter Führung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer hatte ihm bereits bei der Regierungsübernahme im Oktober 1998 zugestimmt.
Der folgende Artikel, der die Hintergründe und Bedeutung des Kriegs analysiert, erschien am 26. Mai 1999, einen Monat nach Beginn des Krieges, auf der WSWS. Wir haben ihn dem Buch von David North, „30 Jahre Krieg. Amerikas Griff nach der Weltherrschaft 1990-2020“ entnommen, dessen Lektüre wir unseren Lesern wärmstens empfehlen. Es ist hier im Mehring Verlag erhältlich.
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Seit dem 24. März 1999 führen NATO-Truppen unter Führung der USA einen verheerenden Bombenkrieg gegen Jugoslawien. In mehr als 15 000 Einsätzen haben sie jugoslawische Städte und Dörfer angegriffen und Fabriken, Krankenhäuser, Schulen, Brücken, Treibstofflager und Regierungsgebäude getroffen. Tausende verloren ihr Leben oder wurden verwundet. Unter den Opfern befanden sich Pendler in Zügen und Bussen ebenso wie Beschäftigte des staatlichen Fernsehens. Auch Wohnviertel im Kosovo und in Serbien wurden Ziel der Angriffe.
Über die langfristigen Folgen dieses Krieges für Jugoslawien, die gesamte Balkanregion und Osteuropa äußern sich seine Urheber kaum. Ein großer Teil der nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebauten Industrie und Infrastruktur ist zerstört. Die Donau, eine wichtige Lebensader für die Wirtschaft Mitteleuropas, ist mittlerweile unpassierbar. In Serbien wurden wiederholt die zentralen Versorgungsbetriebe der modernen Zivilisation – Elektrizitätswerke, Wasserwerke, sanitäre Anlagen – beschossen. Wie bereits im Irak wird man das ganze Ausmaß der von amerikanischen, britischen und französischen Bomben angerichteten Verwüstung erst nach Kriegsende sehen – dann, wenn die ersten Reportagen von überdurchschnittlichen Sterblichkeitsraten, besonders unter Kindern, zu lesen sind.
Der Vorwurf des Völkermords
Die NATO und die Medien rechtfertigen den Angriff auf Jugoslawien als humanitäre Maßnahme gegen die Unterdrückung der Albaner im Kosovo. Die plumpe und zynische Propagandakampagne, die mit der Bombardierung einhergeht, widerspiegelt die schreienden Widersprüche, in die sich die NATO bei der Rechtfertigung des Krieges verwickelt. Die Dämonisierung des jugoslawischen Präsidenten Milošević, die stark unterschiedlichen Zahlenangaben über serbische Massaker und Todesopfer unter den Kosovo-Albanern, der ständig wiederholte Vorwurf des Völkermords und die unaufhörlichen Fernsehbilder leidender Flüchtlinge – all dies soll die Öffentlichkeit nicht durch Argumente überzeugen, sondern mürbe machen, abstumpfen und einschüchtern: „Opposition gegen die NATO bedeutet Unterstützung für die Zwangsvertreibung und den Massenmord an den Albanern!“ erklären die Meinungsmacher in Politik und Medien.
Die Clinton-Regierung hatte die Bombardierung des Irak mit der Behauptung angeblicher „Massenvernichtungswaffen“ des Irak gerechtfertigt. Nur wenn man den Irak Tag für Tag beschieße, könne man die Welt vor Saddam Husseins unsichtbarem Arsenal tödlicher Giftgas-, Chemie- und biologischer Waffen bewahren, hieß es. Im Krieg gegen Jugoslawien werden die „Massenvernichtungswaffen“ nun durch eine noch stärkere Beschwörungsformel abgelöst: „ethnische Säuberungen“. Diese Wortwahl hat den Vorteil, dass sie das Bild Nazideutschlands heraufbeschwört. Die „ethnische Säuberung“ im Kosovo ist, folgt man der NATO-Logik, die heutige Version des Holocaust.
Dieser Vergleich ist so irreführend und historisch falsch, dass er schon obszön ist. Im Falle des Holocaust haben die Nazis in besetzten Gebieten Europas Millionen Juden zusammengetrieben und in Konzentrationslager gebracht, wo ein industriell perfektionierter Massenmord stattfand.
Sechs Millionen wehrlose Juden wurden von den Nazis umgebracht. Dem stehen zweitausend Menschen gegenüber, die laut Angaben des US-Außenministeriums im vergangenen Jahr im Kosovo getötet wurden. (Die jüngsten Berichte über die Ermordung von 250 000 albanischen Männern sind reine Fälschungen, die Beobachter westlicher Zeitungen vor Ort widerlegt haben.)
Selbst wenn man die Gesamtzahl der getöteten Menschen im Kosovo verdoppelt, wäre der Verlust an Menschenleben im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung immer noch geringer als in vielen ähnlichen Konflikten rund um die Welt, zum Beispiel in Sri Lanka oder der Türkei. Dieser Vergleich soll natürlich nicht Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden im Kosovo das Wort reden. Er zeigt jedoch, wie abwegig die Behauptungen sind, mit denen die NATO die umfassende Bombardierung Jugoslawiens rechtfertigt.
Wichtig ist zudem ein weiterer Punkt zum Hintergrund der Gewalt im Kosovo. Sie begann 1998 mit Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen der albanischen nationalistischen und separatistischen UÇK (Befreiungsarmee des Kosovo) und der jugoslawischen Regierung, die die Provinz unter ihrer Kontrolle behalten wollte.
Das Internationale Komitee der Vierten Internationale ist Gegner jeder Form des Nationalchauvinismus. Wir schwingen uns nicht zum Verteidiger des reaktionären Nationalismus auf, wie ihn das Regime in Belgrad vertritt. Die Darstellung jedoch, wonach die gesamte ethnisch motivierte Gewalt im Jahr vor der NATO-Offensive ausschließlich von den Serben ausgegangen sei, ist eine eindeutige Verdrehung der politischen Tatsachen. Die UÇK, die sich mit Drogengeldern finanziert und hinter den Kulissen von CIA-Beratern unterstützt wird, hat selbst eine Terrorkampagne gegen serbische Zivilisten durchgeführt.
Die Pose der NATO als Verteidiger der albanischen Minderheit gegen die serbische Unterdrückung strotzt vor Heuchelei. Man muss sich nur erinnern, wie viele Mitgliedsstaaten der NATO weitaus umfangreichere „ethnische Säuberungen“ unterstützt oder sogar selbst durchgeführt haben.
Zweihunderttausend Serben wurden 1995 mit US-Unterstützung aus Kroatien vertrieben. Kroatien ist seither zum Bündnispartner der USA und zu einem „Frontstaat“ der NATO im Krieg gegen Serbien avanciert. Mehr als eine Million Kurden wurden in den letzten fünfzehn Jahren aus ihren Dörfern in der Türkei vertrieben. Diese Aktionen haben die USA unter anderem mit militärischer Ausrüstung unterstützt. Die Türkei bleibt dennoch NATO-Mitglied und beteiligt sich heute an der Bombardierung Jugoslawiens.
Serbien bleibt bei seinem Rachefeldzug gegen die albanische Bevölkerung zudem weit hinter den Gräueltaten zurück, wie sie Frankreich in Algerien oder die Vereinigten Staaten in Vietnam begingen.
Wäre es politisch opportun gewesen, hätten die US-Medien mit den gleichen flammenden Aufrufen wie beim Kosovo-Krieg auch den Staat Israel verurteilen können, als dieser 1987 bis 1991 die Intifada des palästinensischen Volks niederschlug oder 1982 Massaker in Beirut verübte.
Wenn man den Vorwurf der „ethnischen Säuberung“ erhebt, sollte man auch bedenken, dass die Großmächte mehr als einmal ethnische Konflikte als Rechtfertigung für imperialistische Interventionen mit katastrophalen Folgen nutzten. Man erinnere sich, dass es 1947 zu einem der furchtbarsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts kam, als Großbritannien unter Hinweis auf Konflikte zwischen Hindus und Moslems in Indien die Schaffung des eigenständigen Staates Pakistan in die Wege leitete. Eine Million Menschen kamen bei den folgenden Zusammenstößen ums Leben, zwölf Millionen wurden zu Flüchtlingen.
Auch in Jugoslawien hat die imperialistische Intervention die Gewalt zwischen den Volksgruppen faktisch angeheizt und die Gefahr eines Übergreifens auf Nachbarländer erhöht.
Wer ist für den Exodus aus dem Kosovo verantwortlich?
Die NATO behauptet, ihre Offensive diene in erster Linie dazu, den schätzungsweise 800 000 albanischen Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat Kosovo zu ermöglichen. Dieser Zynismus schlägt alle Rekorde.
Ein ehrlicher Rückblick auf die Ereignisse, die der Flüchtlingskrise vorangingen, widerlegt die Behauptungen der NATO. Die Massenflucht setzte nicht vor dem 24. März ein, sondern danach. Trotzdem begründete Bill Clinton den Kriegsbeginn fast ausschließlich mit dem Ziel, einen Exodus zu verhindern. Ohne NATO-Luftschläge, so Clinton, könne der bestehende Flüchtlingsstrom noch um „Zehntausende“ anwachsen.
Was ist wirklich geschehen? Die Bombardierung, die einen erheblichen Teil des Kosovo zerstörte und dessen Bewohner in Angst und Schrecken versetzte, ließ die Kämpfe zwischen den Belgrader Truppen und der UÇK wieder aufleben. Nicht Zehntausende, sondern Hunderttausende wurden dadurch zur Flucht gezwungen.
Diese Folgen waren nicht völlig unbeabsichtigt. Die NATO-Mächte hofften, durch die Luftoffensive würde die UÇK in die Lage versetzt, die serbischen Truppen zum Rückzug zu zwingen. Es ist dasselbe Muster wie 1995, als die Luftschläge in Bosnien den kroatischen und moslemischen Streitkräften ermöglicht hatten, in die Offensive zu gehen und die Serben zu vertreiben.
Das Schicksal der Flüchtlinge wird zynisch ausgeschlachtet. Als die Kosovo-Albaner vor den Bomben die Flucht ergriffen, nutzten dies die NATO-Mächte, um die öffentliche Meinung für den Krieg zu gewinnen. Gleichzeitig erhielten die geflüchteten Menschen kaum Hilfe und mussten in elenden Lagern leben. Die schlechten Lagerbedingungen lösten sogar Aufstände aus. Selbst danach nahmen die westlichen Länder nur eine Handvoll Flüchtlinge auf.
Einige hohe NATO-Militärs haben inzwischen zugegeben, dass ihnen die Entvölkerung des Kosovo durchaus recht war. Sie hätten dadurch freiere Hand für Flächenbombardierungen und die Vorbereitung eines Einmarschs von Bodentruppen gehabt, heißt es in ihren Aussagen, die lange Zeit nicht veröffentlicht wurden.
Wenn man jetzt über die Rückkehr der Flüchtlinge spricht, stellt sich die Frage: Rückkehr wohin? Welche Häuser, Betriebe, Straßen, Brücken und Flüsse sind von der NATO verschont geblieben?
Die politische Funktion der Propaganda
Der Propagandist, schrieb Aldous Huxley 1936, muss „die eine Gruppe Menschen vergessen machen, dass die andere Gruppe auch aus Menschen besteht“. Im gegenwärtigen Krieg muss die NATO die Serben dämonisieren, um ihre maßlose Gewalt gegen die jugoslawische Bevölkerung zu rechtfertigen.
Im Frühsommer wird die Zahl der durch NATO und UÇK getöteten Menschen höher sein als die Todesopfer der serbischen Regierung vor dem Eingreifen der Allianz. Die Gesamtzahl der Menschen, die in einem Jahr Bürgerkrieg im Kosovo vor dem 24. März 1999 ihr Leben verloren, wird von den meisten Beobachtern auf etwa zweitausend geschätzt. Seit dem 24. März beträgt die Anzahl der getöteten Serben und Albaner durch den NATO-Krieg schon deutlich mehr als tausend.
Natürlich unterlaufen der NATO dabei nur „Fehler“, während die Serben „Gräueltaten“ begehen. Allgemein lässt sich sagen, dass die NATO immer dann Plünderungen und Morde der Serben meldet, wenn gerade der Tod von Zivilisten durch NATO-Bomben bewiesen wurde. Und wenn dann die Vermutung laut wird, dass die Medizin der NATO schlimmer sein könnte als die Krankheit, rufen die Sprecher der Allianz noch schriller: „Habt ihr vergessen, wer der wahre Feind ist?“
Eine interessante Frage. Der Begriff „Feind“ scheint immer umfassender zu werden. Ursprünglich wurden Tod und Leid bei den Kosovo-Albanern ausschließlich auf das Milošević-Regime zurückgeführt. In jüngster Zeit schlägt die Kriegspropaganda jedoch zunehmend bösartigere Töne an: Die gesamte serbische Bevölkerung sei schuld.
Dieser neuen Linie zufolge sei die serbische Bevölkerung korrumpiert, stehe dem Leiden der Kosovo-Albaner gleichgültig gegenüber und sei von einem irrationalen Opferkomplex befallen. Zahlreiche NATO-Propagandisten halten eine Bodeninvasion, die Eroberung Belgrads und eine langfristige Besatzung für das einzige Heilmittel. Dies wird dann unter Rückgriff auf die Terminologie des 19. Jahrhunderts als „zivilisatorische Mission“ bezeichnet.
Ein imperialistischer Krieg
Propaganda verlangt nach Vereinfachung. Sie erfordert, dass die Komplexität großer politischer Konflikte beiseitegeschoben und der öffentlichen Meinung eine emotional aufgeladene Frage gestellt wird, die nur eine Antwort zulässt. Im gegenwärtigen Krieg lautet diese Frage: „Muss man nicht der ethnischen Säuberung Einhalt gebieten?“
Diese Simplifizierung versetzt die Medien in die Lage, Jugoslawien anstelle der NATO als den Aggressor darzustellen. Die Allianz hingegen führe im Grunde einen Verteidigungskrieg zugunsten der Kosovo-Albaner. Damit wird die Realität buchstäblich auf den Kopf gestellt.
Um zu bestimmen, ob der Charakter eines gegebenen Krieges progressiv oder reaktionär ist, ist die selektive Betrachtung einzelner Gräueltaten, wie sie in jedem Krieg vorkommen, irrelevant. Man muss stattdessen die Klassenstrukturen, die ökonomischen Grundlagen und die weltpolitische Rolle der beteiligten Staaten analysieren. Von diesem grundlegenden Gesichtspunkt aus ist der gegenwärtige Krieg der NATO ein imperialistischer Angriffskrieg gegen Jugoslawien.
Die USA und die europäischen Mächte, die den Kern der NATO bilden, sind die fortgeschrittensten kapitalistischen Mächte der Welt. Ihre Politik wird von den Interessen des Finanzkapitals bestimmt, das heißt der wichtigsten transnationalen Konzerne und Finanzinstitutionen. Die Zukunft der herrschenden Klasse dieser Länder erfordert die Expansion des Kapitalismus in der ganzen Welt.
Im wissenschaftlichen Sinne bedeutet der Begriff Imperialismus ein bestimmtes historisches Stadium in der Entwicklung des Kapitalismus als weltweites Wirtschaftssystem. Er bezeichnet objektive Grundtendenzen des Kapitalismus, die sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert herausschälten. Die wichtigsten sind die Verdrängung des freien Wettbewerbs durch riesige Monopole, die zunehmende Vorherrschaft großer Banken (des Finanzkapitals) über den Weltmarkt sowie der Drang des Monopol- und Finanzkapitals in jenen Ländern, wo der Kapitalismus am stärksten entwickelt ist (Europa, Nordamerika, Japan), über die nationalen Grenzen hinaus Zugang zu Märkten, Rohstoffen und neuen Arbeitskräften in der ganzen Welt zu suchen.
Der Imperialismus hat zu den weniger entwickelten Ländern eine räuberische und parasitäre Beziehung. Durch seine finanzielle Macht, die er mit Hilfe riesiger Finanzinstitutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank ausübt, kann er kleineren, kreditabhängigen Staaten die Politik diktieren. Seine Vorherrschaft auf dem Weltmarkt ermöglicht dem Imperialismus, die Preise für Rohstoffe zu drücken und die kleineren Staaten auf Armutsniveau zu halten. Je mehr sich diese Länder verschulden, desto ärmer und abhängiger werden sie.
Letztlich hängt über den schwächeren Staaten ständig das Damoklesschwert einer möglichen Bombardierung. Ob sie als „aufstrebende Demokratien“ bejubelt oder als „Verbrecherstaaten“ verteufelt werden, hängt letzten Endes davon ab, wie sie sich in die strategischen Pläne des Weltimperialismus einfügen. Der Irak, der bei seinem Krieg gegen den Iran in den 1980er Jahren von den USA unterstützt wurde, verwandelte sich folgerichtig in ein Angriffsziel, als er Amerikas Streben nach einer stärkeren Kontrolle über die Ölreserven des Nahen Ostens in die Quere geriet.
Dasselbe gilt für Serbien. In den 1980er Jahren ruhte der Blick Washingtons wohlwollend auf Milošević, weil er eine marktorientierte Politik einführte und die verstaatlichte Industrie in Jugoslawien abbaute. In den 1990er Jahren änderten sich die Spielregeln, und Serbien wurde zum Hindernis für die imperialistischen Bestrebungen. Milošević geriet neben Saddam Hussein auf die „Fahndungsliste“ des Imperialismus. Das Urteil des Imperialismus über ein gegebenes Land oder dessen Regierungschef kann sich über Nacht ändern, denn man hat, wie einst Premierminister Palmerston über das britische Empire bemerkte, weder bleibende Freunde noch bleibende Feinde, nur bleibende Interessen.
Jugoslawien ist keine imperialistische Macht, sondern ein kleines, relativ rückständiges Land, das in den 1990er Jahren durch die Abspaltung von vier seiner ehemals sechs Republiken geschwächt wurde. Gewiss, Milošević hat in diesem Prozess eine vollkommen reaktionäre Rolle gespielt. Mit der Art und Weise, wie er den serbischen Nationalismus benutzte, konnte er der chauvinistischen Politik Tudjmans in Kroatien, Izetbegovićs in Bosnien und Kučans in Slowenien schwerlich etwas entgegensetzen. Doch war Milošević keineswegs der Anstifter dieser Vorgänge. Er passte sich, wie so viele korrupte Ex-Stalinisten in Osteuropa, den zentrifugalen Tendenzen an, die durch die Wiedereinführung der Marktwirtschaft in der Gesellschaft entfesselt wurden.
Die imperialistischen Mächte spielten dabei eine ausschlaggebende Rolle. Sie forderten die Zerschlagung der verstaatlichten Industrien und Kürzungsprogramme, die die latenten ethnischen Spannungen zum Ausbruch gebracht haben. Dieser wirtschaftliche Druck auf Jugoslawien lieferte die objektive Voraussetzung für die Auflösung des einheitlichen Balkanstaats. Von 1991 an sorgten schließlich die Imperialisten durch direktes Eingreifen für die Aufspaltung Jugoslawiens. Ungeachtet zahlreicher Warnungen vor den Gefahren von Krieg und Gewalt förderte Deutschland die Zersplitterung, indem es 1991 unvermittelt Kroatien und Slowenien anerkannte. Noch leichtfertiger war die Entscheidung der USA, die Lostrennung Bosniens im Jahr 1992 zu unterstützen.
Jugoslawien ist noch nicht einmal ein kapitalistischer Staat von größerer regionaler Bedeutung. Er hat keine transnationalen Großunternehmen, und das jugoslawische Finanzkapital spielt außerhalb der Landesgrenzen keine nennenswerte Rolle. Wenn man überhaupt von einer serbischen Bourgeoisie sprechen kann, so entwickelt sie sich aus den Kreisen um Milošević, die sich im Zuge der Auflösung Jugoslawiens durch den Diebstahl an Staatseigentum bereichert haben.
Serbien mit Nazideutschland und Milošević mit Hitler zu vergleichen, zeugt von einer Mischung aus Unwissenheit und Lüge. Eine wissenschaftliche politische Analyse besteht nicht darin, dass man mit Schimpfworten um sich wirft. Die Tatsache, dass ein österreichischer Gefreiter mit lauter Stimme und einem Schnurrbart wie Charlie Chaplin zur weltweit furchtbarsten Figur der Reaktion werden konnte, ging auf bestimmte objektive Bedingungen zurück, allen voran die große Dynamik der deutschen Industrie. Hitler war der Führer einer aggressiven imperialistischen Macht, die in ganz Europa die Hegemonie des deutschen Kapitalismus durchsetzen wollte. Bevor Hitlers blutiger Vormarsch gestoppt wurde, erstreckte sich die deutsche Vorherrschaft vom Ärmelkanal bis zum Kaukasus und schloss den Balkan samt Jugoslawien ein. Hitlers militärische Ambitionen widerspiegelten den ökonomischen Heißhunger von Siemens, Krupp, der IG Farben, Daimler Benz, der Deutschen Bank und anderen deutschen Großkonzernen.
Man könnte über den Vergleich Serbiens mit Nazideutschland und Miloševićs mit Hitler lachen, fände diese Verdrehung der historischen Realität nicht unter derart tragischen Umständen statt. Zunächst einmal versucht Serbien nicht, andere Länder zu erobern, sondern ein Gebiet zu behalten, das international bisher als Teil seines Staatsgebiets anerkannt wird. Und Milošević, dieser „Hitler“, versucht lediglich, den von Jahr zu Jahr schrumpfenden Überrest einer Föderation zu retten.
Kurzum, es geht heute um einen Krieg einer Koalition imperialistischer Großmächte gegen ein kleines, einigermaßen zurückgebliebenes Land. Er trägt neokolonialistische Züge, weil er die jugoslawische Souveränität grob verletzt. Sein Ziel ist die Errichtung eines wie auch immer gearteten NATO-Protektorats über den Kosovo, das wahrscheinlich dem Regime von NATO und IWF in Bosnien ähneln wird.
Jenseits der Propaganda: Weshalb dieser Krieg?
Was bleibt übrig, wenn man die verlogenen Behauptungen der NATO und die Fälschungen der Medien durchschaut hat? Ein nackter Angriffskrieg gegen eine kleine Föderation durch mächtige imperialistische Länder, deren offizielle Rechtfertigungen nur der Täuschung dienen. Gäbe es nicht die allgegenwärtige hysterische Propaganda, wäre es für die Bevölkerung nicht schwer, die wirklichen Beweggründe für die Bombardierung Jugoslawiens zu erkennen.
Zu Beginn dieses Jahrhunderts erklärte Rosa Luxemburg, der Kapitalismus sei die erste Produktionsweise, der die Waffe der Massenpropaganda zur Verfügung stehe. Die Phrasen von „humanitären Werten“ dienten zu ihrer Zeit genauso wie heute den stärkeren Ländern als Deckmantel, um sich das Gewünschte in den schwächeren Ländern gewaltsam anzueignen. Mit ihrer „zivilisatorischen Mission“ bezweckten die USA, England, Frankreich, Belgien und Holland, wertvolle Rohstoffe, wichtige Märkte und geopolitische Vorteile gegenüber ihren Rivalen zu erobern. Auch der heutige Angriff auf Jugoslawien dient den Wirtschaftsinteressen der imperialistischen Mächte.
So wollen sie die reichhaltigen Vorkommen an Blei, Zink, Cadmium, Silber und Gold im Kosovo ausbeuten. Der Kosovo verfügt zudem über Kohlereserven von rund siebzehn Milliarden Tonnen. Allerdings sind diese Dinge eher „Peanuts“ im Kalkül der Imperialisten. Die unmittelbaren materiellen Vorteile, die eine Ausplünderung des Kosovo verspricht, verblassen gegenüber dem weitaus größeren Bereicherungspotenzial in den weiter östlich gelegenen Regionen, auf das die NATO-Mächte seit fünf Jahren zunehmend ihr Interesse richten. Es ist erstaunlich, dass den weltstrategischen Ambitionen der USA und der übrigen Großmächte im Zusammenhang mit diesem Krieg bisher so wenig Aufmerksamkeit gezollt wurde.
Die NATO und der Zusammenbruch der UdSSR
Mit der Entstehung des Imperialismus zum Ende des letzten Jahrhunderts versuchten die Großmächte, die Welt untereinander aufzuteilen. Durch die Auflösung der UdSSR ist jetzt ein Machtvakuum in Osteuropa, Russland und Zentralasien entstanden, das eine abermalige Aufteilung der Welt unvermeidlich macht. An diesem Wendepunkt gewinnt Jugoslawien an Bedeutung, weil es vom Westen aus gesehen am Rande einer riesigen Landmasse liegt, in die die Großmächte vordringen wollen. Die USA, Deutschland, Japan, Frankreich, Großbritannien und die übrigen Staaten können es sich einfach nicht leisten, der Öffnung dieses Gebiets passiv zuzuschauen. Es beginnt ein Kampf um den Zugang zur gesamten Region und um die Kontrolle ihrer Rohstoffe, Arbeitskräfte und Märkte. Der „Wettlauf um Afrika“ des vergangenen Jahrhunderts wird sich dagegen geradezu harmlos ausnehmen.
Dabei geht es um grundlegende Erfordernisse des Profitsystems. Die heutigen transnationalen Unternehmen messen ihren Erfolg an globalen Maßstäben. General Motors, Toyota, Lockheed Martin, Airbus oder auch Coca Cola können sich nicht leisten, irgendeinen Markt der Welt zu vernachlässigen. Diese riesenhaften Firmen operieren über Kontinente hinweg, um sich die Marktführerschaft zu erhalten. In ein Gebiet einzudringen, das ein Sechstel der Erdoberfläche ausmacht und nun der kapitalistischen Ausbeutung offensteht, ist für sie eine Überlebensfrage.
Die wichtigste Herausforderung für die internationale Bourgeoisie ist heute die Integration dieser Region in das Weltsystem der kapitalistischen Produktion und des Warenaustauschs. Dies ist eine wesentliche Frage für den Fortbestand des Kapitalismus im 21. Jahrhundert. Man muss sich nur die Frage stellen: Wenn der Kapitalismus schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Welt aufteilen und organisieren musste, wie notwendig ist dies dann erst heute, da sämtliche wichtigen Konzerne global operieren?
Die Vereinigten Staaten gehen am aggressivsten vor, um die Auflösung der UdSSR in ihrem Interesse auszunutzen. Zum Teil erklärt sich dies daraus, dass die Existenz der Sowjetunion den USA historische Schranken auferlegt hatte. Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus vollzog sich relativ spät während des Ersten Weltkriegs. Im Jahr 1917, als die USA in den Krieg eintraten, siegte die Oktoberrevolution in Russland und wurden die Grundlagen für die Sowjetunion gelegt. Siebzig Jahre lang entzog die bloße Existenz der UdSSR einen großen Teil der Erde der direkten Ausbeutung durch den US-Kapitalismus.
Im Kalten Krieg ging es den USA im Wesentlichen darum, für das amerikanische Kapital Zugang zu diesem Gebiet, zu seinen Rohstoffen und Arbeitskräften zu gewinnen und das Entgangene zurückzuholen. Hinter dem Kampf gegen die „kommunistische Expansion“ stand, wenn man einmal von allen Übertreibungen und Verdrehungen absieht, stets das Ziel, die Reichweite und Profitmöglichkeiten der US-Banken und Konzerne in Osteuropa und Russland zu vergrößern. Die Ereignisse von 1989 bis 1991 haben dem US-Kapitalismus in dieser Region freie Hand verschafft.
Bei der erneuten Integration der ehemaligen Sowjetunion in den Weltkapitalismus versuchen die transnationalen Konzerne, sich Rohstoffe im Wert von Billionen anzueignen. In den früheren Sowjetrepubliken am Kaspischen Meer (Aserbeidschan, Kasachstan, Turkmenistan) liegen die größten unerschlossenen Ölreserven der Welt. Der Westen hat begonnen, diese Ressourcen neu aufzuteilen, was unweigerlich zur Wiederbelebung des Militarismus, zu neuen imperialistischen Eroberungskriegen und zu heftigen Konflikten zwischen den Großmächten selbst führen muss.
Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der kriegslüsternen US-Außenpolitik der letzten zehn Jahre. Die Bombardierung Jugoslawiens folgt auf eine ganze Serie von Angriffskriegen rund um die Welt. Obwohl auch regionale Erwägungen eine Rolle spielen, müssen diese Kriege insgesamt gesehen werden als amerikanische Reaktion auf das Ende der Sowjetunion und auf die Möglichkeiten und Herausforderungen, die sich damit aufgetan haben. Washington betrachtet seine militärische Stärke als Trumpf und spielt sie aus, um sich im kommenden Kampf um Ressourcen gegen alle seine Rivalen durchzusetzen.
Das kaspische Öl und die neue Debatte um die Außenpolitik
„Die kaspische Region bildet eine der größten noch verbliebenen potenziellen und unerschlossenen Öl- und Gasressourcen der Welt“, erklärte ein Exxon-Vorstandsmitglied 1998. Im Jahr 2020 könnten in dem Gebiet vielleicht bis zu sechs Millionen Barrel Öl pro Tag gefördert werden. Er erwartet, dass die Ölindustrie bis dahin 300 bis 500 Milliarden Dollar in die Erschließung investieren werde. Das US-Energieministerium schätzt die Vorkommen auf 163 Milliarden Barrel Öl und entsprechend riesige Erdgasvorkommen. Sollten sich diese Schätzungen bestätigen, würde in dieser Region ein Erdölproduzent von der Größe des Iran oder Irak entstehen.
Westliche Experten rechnen außerdem damit, dass sich die kaspische Region zu einem bedeutenden Goldproduzenten entwickeln wird. Kasachstan soll mit 10 000 Tonnen über die zweitgrößten Ressourcen der Welt verfügen. Bergbauunternehmen aus den USA, Japan, Kanada, Großbritannien, Australien, Neuseeland und Israel sind bereits in der Region aktiv.
Die großen westlichen Staaten haben auf diesen Schatz genauso ein Auge geworfen wie eine Reihe aufstrebender Regionalmächte. Die kapitalistischen Eliten sind sich bewusst, dass sie ihren Einfluss und die eigenen Interessen durch eine Intervention auf Kosten ihrer Rivalen durchsetzen müssen. Diese Notwendigkeit formulieren die einschlägigen politischen Zeitschriften, Anhörungen und Expertisen immer deutlicher.
Die Debatte innerhalb der amerikanischen herrschenden Elite ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich und verheißt nichts Gutes. Seit 1991 diskutieren bekannte US-Strategen offen und ungeniert über den neuen Platz ihres Landes in der Weltgeschichte. Nachdem es die Sowjetunion nicht mehr gibt, schlussfolgern viele, seien nun die USA Herr einer „unipolaren“ Welt, in der sie, zumindest vorerst, die unangreifbare Vorherrschaft ausüben. Die Debatte unter diesen Strategen dreht sich nicht darum, ob, sondern auf welche Weise dieser Vorteil ausgespielt werden kann.
Bemerkenswert ist ein Artikel von Zbigniew Brzeziński, dem ehemaligen nationalen Sicherheitsberater von Präsident Carter, in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ von September / Oktober 1997. Unter dem Titel „Eine Geostrategie für Asien“ schreibt er:
Es ist auf Generationen hinaus unwahrscheinlich, dass Amerikas Stellung als führende Weltmacht von einem einzelnen Staat herausgefordert wird. Kein Staat kann es bei den vier weltpolitisch entscheidenden Machtpositionen – militärisch, wirtschaftlich, technologisch und kulturell – mit den Vereinigten Staaten aufnehmen. (Zbigniew Brzeziński, „A Geostrategy for Eurasia“, in: Foreign Affairs, September / Oktober 1997.)
Nachdem die USA in der westlichen Hemisphäre ihre Macht gefestigt hätten, so Brzeziński, müssten sie nun energisch versuchen, die Kontinente Europa und Asien zu durchdringen.
Amerikas Herausbildung als die einzige globale Supermacht verlangt nun zwingend eine durchdachte und konsequente Strategie für Eurasien …
Nach den Vereinigten Staaten findet man dort die sechs Länder mit der nächstgrößten Wirtschaft bzw. dem nächstgrößten Militärhaushalt, außerdem bis auf eine Ausnahme sämtliche Atommächte der Welt. Eurasien stellt 75 Prozent der Weltbevölkerung, 60 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts und 75 Prozent der Weltenergiereserven. Zusammengenommen übersteigt die potenzielle Macht Eurasiens selbst jene Amerikas.
Eurasien ist der axiale Superkontinent der Welt. Die Macht, die Eurasien beherrscht, übt entscheidenden Einfluss auf zwei der drei wirtschaftlich produktivsten Weltregionen aus – Westeuropa und Ostasien. Ein Blick auf die Karte zeigt auch, wer Eurasien beherrscht, kontrolliert fast automatisch den Nahen Osten und Afrika. Wenn Eurasien nun das entscheidende geopolitische Schachbrett ist, dann genügt es nicht mehr, eine Politik für Europa zu entwerfen und eine andere für Asien. Das Ergebnis der Machtverteilung auf der eurasischen Landmasse wird somit Amerikas globale Vorrangstellung und historisches Vermächtnis entscheidend bestimmen … (Ebd.)
Da Brzeziński nicht davon ausgeht, die Vereinigten Staaten könnten Eurasien eigenhändig beherrschen, sieht er ihre Interessen am besten dadurch gewahrt, dass sie sich eine führende Rolle sichern und eine für sie vorteilhafte Machtbalance unter den größeren Mächten schaffen. Allerdings äußert er einen wichtigen Vorbehalt: „In einem in Veränderung begriffenen Eurasien besteht die unmittelbare Aufgabe darin, sicherzustellen, dass kein Staat oder Staatenbund die Fähigkeit gewinnt, die Vereinigten Staaten zu verdrängen oder ihre bestimmende Rolle zu schmälern.“ Diesen Zustand bezeichnet er als „gutartige amerikanische Hegemonie“. Ebd.
Als bestes Mittel, um dies zu verwirklichen, betrachtet Brzeziński die NATO:
Anders als im amerikanisch-japanischen Verhältnis festigt auf dem eurasischen Festland die NATO den politischen Einfluss und die militärische Macht Amerikas. Da die verbündeten europäischen Nationen immer noch stark vom Schutz der USA abhängen, bedeutet jede Ausweitung der politischen Reichweite Europas automatisch eine Ausweitung des US-amerikanischen Einflusses. Umgekehrt hängt die Fähigkeit der USA, Einfluss und Macht auszuüben, von engen transatlantischen Beziehungen ab.
Ein erweitertes Europa und eine vergrößerte NATO dienen den kurz- und langfristigen Interessen der US-Politik. Ein größeres Europa wird den amerikanischen Einfluss erweitern, ohne zugleich ein politisch zu stark integriertes Europa entstehen zu lassen, das die Vereinigten Staaten in geopolitisch wichtigen Fragen, insbesondere im Nahen Osten, herausfordern könnte. (Ebd.)
Diese Zeilen legen nahe, dass amerikanische Regierungskreise die Intervention der NATO in Jugoslawien, ihre erste offensive Militäraktion, eindeutig als einen Schritt zur Stärkung der Weltposition der USA verstehen. Gleichzeitig bedeutet die NATO-Erweiterung um Polen, Ungarn und die Tschechische Republik die Ausdehnung des amerikanischen Einflusses in Europa und der Welt.
Brzezińskis Ansichten über diese Region sind nicht neu. Er knüpft an die traditionelle geopolitische Strategie des britischen Imperialismus an und schneidet sie für die heutige Situation zurecht. Das britische Empire war immer bestrebt, die eigenen Interessen zu sichern, indem es die Rivalen auf dem europäischen Kontinent gegeneinander ausspielte.
Die erste moderne „Eurasien-Strategie“ für eine Weltmacht wurde von Großbritannien ausgearbeitet. In einem Dokument aus dem Jahre 1904 mit dem Titel „Der geografische Angelpunkt der Geschichte“ Halford Mackinders Rede vom 25. Januar 1904 vor der Royal Geographical Society, publiziert in: Geographical Journal, Bd. 23, Nr. 4, April 1904, S. 421 – 444. vertrat der Stratege Halford Mackinder in einer Vorwegnahme Brzezińskis den Standpunkt, die eurasische Landmasse und Afrika, die er unter der gemeinsamen Bezeichnung „Weltinsel“ fasste, spielten die Schlüsselrolle für eine weltweite Hegemonie. Laut Mackinder waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Hindernisse, die früheren Weltreichen im Wege standen, insbesondere die beschränkten Transportmöglichkeiten, weitgehend überwunden. Damit habe der Kampf der Großmächte um die Weltherrschaft begonnen. Die wichtigste Frage war laut Mackinder die Kontrolle über das „Kernland“ der eurasischen Landmasse, das sich etwa in den Grenzen der Wolga, des Jangtse, der Arktis und des Himalaya erstreckt. Er fasste seine Strategie mit folgenden Worten zusammen:
Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht das Kernland; wer das Kernland beherrscht, beherrscht die Weltinsel; wer die Weltinsel beherrscht, beherrscht die Welt. (Halford J. Mackinder, Democratic Ideals and Reality, London 1919, S. 194.)
Ungeachtet späterer Kritik von bürgerlichen Kommentatoren wurden Mackinders Schriften, ebenso wie die Brzezińskis heute, von den Staatsmännern seiner Zeit genau verfolgt und übten erheblichen Einfluss auf die Konflikte zwischen den Großmächten aus, die die erste Hälfte dieses Jahrhunderts prägten.
Die USA sind entschlossen, sich die Vormachtrolle im ehemaligen sowjetischen Einflussbereich zu sichern, um ihre Weltstrategie durchzusetzen und die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen zu erlangen. Sollte sie irgendeiner ihrer Konkurrenten, oder ein Bündnis von Konkurrenten, in dieser Region erfolgreich herausfordern, würde dies die Hegemonialstellung der USA in Frage stellen. Darüber ist sich das politische Establishment in den USA völlig im Klaren.
Washington plant die politische Dominanz in Zentralasien
Vor dem Auswärtigen Ausschuss des US-Repräsentantenhauses finden seit einiger Zeit Anhörungen über die strategische Bedeutung der kaspischen Region statt. Im Februar 1998 eröffnete der Ausschussvorsitzende Doug Bereuter eine Sitzung, in der die Großmachtkonflikte um Zentralasien im 19. Jahrhundert behandelt wurden. Man sprach damals vom Großen Spiel.
Im Wettstreit um ihr jeweiliges Empire, so Bereuter, hätten Russland und Großbritannien einen langen Kampf um Macht und Einfluss geführt:
Hundert Jahre später hat der Zusammenbruch der Sowjetunion ein neues Großes Spiel ausgelöst, bei dem an die Stelle der Interessen der East India Trading Company die Interessen von Unocal und Total sowie zahlreicher weiterer Organisationen und Firmen getreten sind …
Erklärtes Ziel der US-Politik hinsichtlich der Energieressourcen dieser Region ist es, die Unabhängigkeit der dortigen Staaten sowie ihre Verbindungen zum Westen zu stärken; das russische Monopol über die Transportwege für Öl und Gas zu brechen; die Versorgungssicherheit des Westens durch Diversifizierung der Energieversorger zu gewährleisten; den Bau von Ost-West-Pipelines zu fördern, die nicht durch den Iran führen; sowie den gefährlichen iranischen Zugriff auf die zentralasiatischen Ökonomien abzuwehren. (“Hearing on US Interests in the Central Asian Republics‚, in: Centre for Research on Globalisation, 12. Februar 1998)
Bereuters Bemerkungen zeigen, dass Washington erhebliche Konflikte mit den Regionalmächten voraussieht. Der Zugang zum kaspischen Öl hat bereits größere Spannungen ausgelöst, sein Transport zu den westlichen Märkten sorgt für noch heftigere Auseinandersetzungen und Manöver.
Obwohl die westlichen Ölkonzerne bereits Förderverträge im Wert von zig Milliarden Dollars abgeschlossen haben, gibt es noch keine Einigung über den Verlauf der wichtigsten Exportpipeline. Aus den von Bereuter angeführten Erwägungen heraus besteht Washington unnachgiebig auf einer Ost-West-Route, die weder durch den Iran noch durch Russland führt.
Diese Frage wird von der US-Regierung als Chefsache behandelt. Letzten Herbst erklärte Energieminister Bill Richardson gegenüber Stephen Kinzer von der „New York Times“:
Wir versuchen, diese neuen unabhängigen Länder auf den Westen zuzubewegen. Es wäre uns lieber, wenn sie sich an den wirtschaftlichen und politischen Interessen des Westens orientieren, als dass sie sich in irgendeine andere Richtung entwickeln. Wir haben in die kaspische Region politisch viel investiert, und es ist uns sehr wichtig, dass sowohl der Pipeline-Verlauf als auch die Politik den richtigen Weg nehmen. (Stephen Kinzer, »On Piping Out Caspian Oil, US Insists the Cheaper, Shorter Way Isn’t Better«, in: New York Times, 8. November 1998.)
Mehrere Strategen treten für eine aggressivere Politik der USA in der Region ein. Einer von ihnen, Mortimer Zuckerman, Herausgeber der „US News & World Report“, warnte in einem Kommentar vom Mai 1999, dass die Ressourcen in Zentralasien Russland oder einem von Russland geführten Bündnis wieder in die Hände fallen könnten, für ihn ein „Albtraum“. Er schreibt:
Wir sollten aufwachen und die Gefahren erkennen, sonst werden eines Tages die Selbstverständlichkeiten, auf denen unser Wohlstand beruht, nicht mehr selbstverständlich sein.
Das russisch-dominierte Gebiet, die Brücke zwischen Asien und Europa bis zum Osten der Türkei, hat mit seinem Öl- und Gasreichtum des Kaspischen Meeres, der auf bis zu vier Billionen Dollar geschätzt wird, genug Einkommen, um Russland Wohlstand und strategische Perspektiven zu bieten. (Mortimer Zuckerman, »The big game gets bigger«, in: US News & World Report, 10. Mai 1999, S. 76.)
Zuckerman schlägt vor, den neuen Konflikt das „Größte Spiel“ zu nennen. Der Superlativ sei heute angebracht, weil er
… weltweite und nicht nur regionale Folgen hat. Ein Russland, unter dessen nuklearem Schutz sich ein neues Ölkonsortium unter Beteiligung des Iran und des Irak zusammenfindet, könnte die Energiepreise derart in die Höhe treiben, dass die Produzenten gestärkt und der Westen, die Türkei, Israel und Saudi-Arabien bedroht werden. Nach den Worten von Paul Michael Wihbey, der für das Institute for Advanced Strategic and Political Studies eine hervorragende Analyse geschrieben hat, würden „die albtraumartigen Szenarien der mittleren 1970er Jahre mit neuer Gewalt wieder hervorbrechen“. (Ebd.)
Der Direktor einer amerikanischen Denkfabrik hat die militärischen Implikationen des neuen Interesses an dieser Region offen und ungeschminkt dargelegt. In einem Dokument von 1998 betonte Frederick Starr, der Leiter des zentralasiatisch-kaukasischen Instituts der Johns Hopkins University, dass die Hälfte der NATO-Staaten ökonomische Ziele in der kaspischen Region verfolgten. Er fügte hinzu: „Der potenzielle wirtschaftliche Nutzen kaspischer Energieträger wird westliche Militärs nach sich ziehen, die diese Investitionen bei Bedarf schützen.“
Die Aussicht auf einen militärischen Konflikt zwischen einem oder mehreren NATO-Ländern und Russland ist nicht aus der Luft gegriffen. Starr schreibt: „Kein Land legt mehr Wert auf eine NATO-Mitgliedschaft als das energiereiche Aserbeidschan, und nirgendwo ist die Wahrscheinlichkeit eines Konflikts mit der Russischen Föderation wahrscheinlicher als in der Frage des Exports von Energie aus aserbeidschanischen Quellen.“ S. Frederick Starr, »Azerbaijan’s Pipeline to NATO«, in: Cyber-Caravan 1, Nr. 1, 18. Dezember 1998, S. 1 – 2. Im Jahr 1998 beteiligte sich das Land an sämtlichen 144 Übungsmanövern der NATO-“Partnerschaft für den Frieden“.
Sollten sich die herrschenden Kreise der USA zu einem militärischen Eingreifen in Zentralasien entschließen, würde wohl dieselbe Rechtfertigung wie für den Jugoslawienkrieg vorgebracht. In beinahe jedem Land dieser Region gibt es ethnische Konflikte. Die drei Länder, durch die nach dem Willen Washingtons die Hauptpipeline für Öl führen soll, sind dafür die besten Beispiele. In Aserbeidschan tobt seit mehr als einem Jahrzehnt ein militärischer Konflikt mit der armenischen Bevölkerung. In dem benachbarten Georgien flammen immer wieder Kämpfe zwischen der Regierung und einer separatistischen Bewegung in Abchasien auf. Die Türkei schließlich, in der das Terminal der Pipeline liegen soll, führt seit langem einen Unterdrückungsfeldzug gegen die kurdische Minderheit, die ausgerechnet in jenen Gebieten im Südosten des Landes lebt, durch welche die von den USA favorisierte Pipeline führen soll.
Die gegenwärtige US-Regierung weiß sehr wohl um diese Zusammenhänge. In einer Rede vor Chefredakteuren einiger großer Zeitungen erklärte Bill Clinton vergangenen Monat, die ethnischen Unruhen in Jugoslawien seien kein Einzelfall. „Ein Großteil der früheren Sowjetunion steht vor ähnlichen Herausforderungen“, meinte er, „darunter die Ukraine und Moldawien, Südrussland, die Kaukasusländer Georgien, Armenien und Aserbeidschan, sowie die neuen Staaten Zentralasiens.“ Mit der Öffnung dieser Regionen, so Clinton, „sind die drohenden ethnischen Konflikte vielleicht am gefährlichsten für unser wichtigstes Anliegen: den Übergang der einstmals kommunistischen Länder zu Stabilität, Wohlstand und Freiheit“. (William J. Clinton, »Remarks and a Question-and-Answer Session With the American Society of Newspaper Editors in San Francisco, California«, in: The American Presidency Project, 15. April 1999)
Neue Kriege stehen bevor
Doch die aggressive Haltung der USA in Jugoslawien und die Aussicht künftiger amerikanischer Interventionen in der kaspischen Region stoßen in anderen Teilen der Welt auf Besorgnis.
Die Möglichkeit eines Konflikts mit Russland, soviel ist klar, hat in den vergangenen zehn Jahren zugenommen. Dasselbe trifft zu für die Wahrscheinlichkeit von Zusammenstößen zwischen den USA und einer oder mehreren europäischen Mächten. Die europäische Bourgeoisie wird sich nicht auf ewig mit der Unterordnung unter die USA abfinden. Je mehr die USA auf ihren Vorteil bedacht sind, desto stärker wird die Stellung der europäischen Mächte unterhöhlt. Die Aufteilung der Beute aus Zentralasien und Osteuropa unter die USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien wird unweigerlich Konflikte auslösen.
Kommentatoren und Politiker in Europa protestieren bereits gegen die zunehmende Einmischung der USA in die europäischen Sicherheitsangelegenheiten und gegen das amerikanische Drängen auf eine Erweiterung der NATO. Wie werden sie auf die von Brzeziński beschriebenen Pläne der USA für eine massive Ausweitung ihrer Macht in Europa und Asien reagieren?
Es gibt schon deutliche Spannungen. Die militärische Intervention in Jugoslawien platzte mitten in die transatlantischen Handelsstreitigkeiten, die seit einem Jahr anhalten. Die europäischen Mächte suchen seit langem nach Mitteln und Wegen, die Hegemonialrolle der USA im Welthandel zu brechen. Diesem Ziel dienen die Währungsunion und die Einführung des Euro, der dem Dollar als internationale Reservewährung den Rang streitig machen soll. Darüber hinaus hat die Führungsmacht der Europäischen Währungsunion, Deutschland, erhebliche Wirtschaftsinteressen in Osteuropa und Russland. Einen Konflikt zwischen den USA und Russland und instabile politische Verhältnisse in Moskau sieht Deutschland als Bedrohung seiner Position.
Auch werden neue Konflikte zwischen den USA und Japan ausbrechen. Die Inselnation, die große Mengen Öl importiert, verfolgt ihre eigenen Interessen in der kaspischen Region und ist in viele Handelskonflikte mit den USA verwickelt. Je mehr die USA in Zentralasien auf eine größere militärische Rolle setzen, umso lauter werden die herrschenden Kreise in Japan fordern, dass die Nachkriegsbeschränkungen für Größe und Einsatzbereich ihres Militärs aufgehoben werden.
Ein offener Konflikt zwischen den USA und China ist unausweichlich. China, in historischer Hinsicht ein unterdrücktes Land und keine imperialistische Macht, hat dennoch die kapitalistische Restauration vorangetrieben und strebt die Rolle einer größeren regionalen Wirtschaftsmacht an.
Wie die gegenwärtige Hysterie gegen China in den amerikanischen Zeitungen zeigt, versucht ein erheblicher Teil der herrschenden Elite Amerikas, einer solchen Entwicklung mit aller Kraft entgegenzutreten. Die Ausweitung des US-Einflusses in Zentralasien stellt eine direkte und unmittelbare Bedrohung Chinas dar. Das weitere Wachstum der chinesischen Wirtschaft hängt neben anderen Faktoren direkt von einem stärkeren Zugang zu Erdöl ab. Der Ölbedarf Chinas wird sich Fachleuten zufolge bis zum Jahr 2010 beinahe verdoppeln, so dass das Land gezwungen sein wird, vierzig Prozent seines Bedarfs zu importieren. Im Jahr 1995 waren es nur zwanzig Prozent.
Aus diesem Grund äußerte China bereits Interesse an einer Pipeline, die das kaspische Öl Richtung Osten transportieren würde, und unterzeichnete 1997 ein Abkommen im Wert von 4,3 Milliarden Dollar, um sich einen 60 Prozent-Anteil an einem Förderprojekt in Kasachstan zu sichern. Die USA werden zweifellos versuchen, die Aktivitäten Chinas in dieser Region zu hintertreiben.
Rund um die Welt befürchten Regierungen, dass sie das nächste Ziel militärischer Angriffe sein könnten, falls sie sich den amerikanischen Forderungen nicht beugen. Dies betrifft nicht nur die weniger entwickelten Länder, die auf der „Feindesliste“ der USA stehen. Mit Sicherheit machen sich auch Paris und Berlin große Sorgen um die Absichten der Vereinigten Staaten im Hinblick auf Europa. Es ist anzunehmen, dass das Pentagon bereits über Kriegspläne gegen Frankreich und Deutschland verfügt, die sie jederzeit aus der Schublade ziehen können.
Die genannten Länder sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass nicht jeder künftige Konflikt der USA unbedingt so einseitig verlaufen wird wie der gegenwärtige Krieg. Über kurz oder lang wird Washington einem Gegner gegenüberstehen, der nicht völlig wehrlos ist.
Wenn die Großmächte die strategisch wichtige zentralasiatische Region mit ihrem Rohstoffreichtum wieder in den kapitalistischen Markt eingliedern und dabei unter sich aufteilen, wird dies nicht friedlich vonstattengehen. Nach wie vor gilt, was Lenin im Jahr 1916 über die Aufteilung der Kolonialländer unter die imperialistischen Mächte geschrieben hat:
Denn unter dem Kapitalismus ist für die Aufteilung der Interessen- und Einflusssphären, der Kolonien usw. eine andere Grundlage als die Stärke der daran Beteiligten, ihre allgemeinwirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Stärke, nicht denkbar. Die Stärke der Beteiligten aber ändert sich ungleichmäßig, denn eine gleichmäßige Entwicklung der einzelnen Unternehmungen, Trusts, Industriezweige und Länder kann es unter dem Kapitalismus nicht geben. Vor einem halben Jahrhundert war Deutschland, wenn man seine kapitalistische Macht mit der des damaligen Englands vergleicht, eine klägliche Null; ebenso Japan im Vergleich zu Russland. Ist die Annahme „denkbar“, dass das Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Mächten nach zehn, zwanzig Jahren unverändert geblieben sein wird? Das ist absolut undenkbar. (Wladimir I. Lenin, »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«, in: Werke, Bd. 22, Berlin 1981, S. 300 – 301.)
Überträgt man Lenins Aussage in die heutige Zeit, indem man die führenden kapitalistischen Staaten von 1916 durch die gegenwärtigen ersetzt, ergibt sich die Frage: Können sich die USA, Europa und Japan friedlich einigen, wenn es um Investitionen von Billionen Dollar für Öl und Bauvorhaben, um Handelsabkommen und neue Militärabkommen geht? Darauf kann man unmöglich mit Ja antworten.
Sie werden versuchen, lokale Konflikte auszunutzen, die mit der Integration Zentralasiens in das globale Produktions- und Handelssystem nicht ab-, sondern zunehmen. Je mehr Geld der Westen in bedeutende Ölprojekte steckt, umso mehr geraten diese zum Zankapfel regionaler ethnischer Konflikte. Um jedes Territorium, auf dem Milliarden Dollareinnahmen aus Ölexporten zu erwarten sind, wird man besonders heftig kämpfen.
In der georgischen Teilrepublik Abchasien hat ein solcher Konflikt den Bau der Pipeline bereits mehrmals unterbrochen. Hinzu kommt, dass das Vordringen westlichen Kapitals mit IWF-Kürzungsprogrammen verbunden ist. Sie bedeuten für die große Mehrheit der Bevölkerung Zentralasiens immer größere Armut, während einige Wenige sich bereichern. Wie in Russland ist auch in den kaukasischen und kaspischen Republiken eine dünne, maßlos reiche Schicht der „neuen Kasachen“, „neuen Aseris“ usw. entstanden. Die Produktion und die durchschnittlichen Einkommen gehen dagegen seit 1991 ständig zurück.
All diese Entwicklungen kündigen die Neuaufteilung der Welt unter den mächtigsten imperialistischen Nationen an. Ihre kommenden militärischen Konflikte würden allerdings in einer viel explosiveren Region als dem Balkan ausgetragen. Nahezu sämtliche wichtigen Akteure verfügen über Atomwaffen, sodass die Gefahr eines dritten großen Weltkriegs in diesem Jahrhundert steigt. Er würde weitaus größere Verwüstung hinterlassen und mehr Menschenleben kosten als die beiden vorigen Weltkriege zusammengenommen.
Die Bedeutung der Bombardierung Jugoslawiens
Hier liegt die Bedeutung der gegenwärtigen Militäraktion gegen Jugoslawien und des zunehmenden Militarismus. Der Kosovo ist ein Testfall für spätere Kriege auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.
Zugleich bringt der Krieg die großen Widersprüche innerhalb der imperialistischen Länder zum Ausdruck. Die sozialen Spannungen, die ihm zugrunde liegen, werden sich durch den Krieg weiter zuspitzen. Das gesamte 20. Jahrhundert hat gezeigt, dass die imperialistischen Raubzüge unweigerlich von verschärften sozialen Konflikten begleitet werden.
Die inneren gesellschaftlichen Strukturen der USA und der Staaten Westeuropas sind durch scharfe Klassengegensätze und eine scharfe ökonomische Polarisierung in den letzten zwei Jahrzehnten gekennzeichnet. Eine dünne Schicht genießt einen in der Geschichte beispiellosen Reichtum, während die übrige Bevölkerung mehr oder weniger in ökonomischer Unsicherheit und zu einem erheblichen Teil in extremer Armut lebt. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass sich diese Tendenz fortsetzen und verstärken wird.
Weil die sozialen Spannungen bisher keinen politischen Ausdruck finden, nehmen sie geradezu krankhafte Züge an. Die USA vermitteln den Eindruck einer Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs. Das öffentliche Leben wird durch wiederkehrende Amokläufe von Schuljugendlichen erschüttert, nach denen das ganze Land vor Schrecken wie gelähmt ist. Für diese Ausbrüche gewalttätigen, antisozialen Verhaltens haben die offiziellen Vertreter von Politik und Medien keine oder nur äußerst banale Erklärungen. Sie demonstrieren allerdings auf ihre Weise, wie sehr das Leben in Amerika von Brutalität und unter der Oberfläche schwelenden sozialen Konflikten geprägt ist.
Hierin liegt eine weitere Motivation für die Bombardierung Jugoslawiens. Cecil Rhodes, Vater der imperialistischen Politik am Ende des letzten Jahrhunderts, stellte einst fest, dass ein aggressiver Militarismus durchaus sozialpsychologischen Nutzen mit sich bringe. Er biete ein Ventil für den sozialen Druck, der sich im Innern des Landes aufgebaut hat. Im Jugoslawienkrieg sieht die amerikanische Bourgeoisie daher, abgesehen von ihren wirtschaftlichen Interessen, die Gelegenheit, die angestauten Frustrationen und sozialen Spannungen im Land nach außen zu lenken.
Allerdings ist ihr klar, dass dies nur bedingt Erfolg bringen wird. Sie arbeitet daher gleichzeitig an einer Umgestaltung ihrer Innenpolitik, um sie mit den außenpolitischen Ambitionen in Einklang zu bringen. Das Land wird in eine regelrechte High-Tech-Garnison verwandelt, die den Löwenanteil der öffentlichen Ausgaben in militärische Auslandseinsätze fließen lässt. An die Stelle sozialer Programme tritt dagegen immer offenere staatliche Unterdrückung. Diese grundlegende politische Orientierung werden auch die anderen imperialistischen Staaten durchsetzen.
Immer mehr werden demokratische Rechte in Frage gestellt. Die amerikanische herrschende Elite hat ihre Haltung zu dieser Frage sehr deutlich gemacht, als sie die serbischen Fernsehsender bombardierte und drohte, das Internet lahmzulegen. Diese Taten sprechen eine klarere Sprache als sämtliche offiziellen gesetzlichen Garantien und Feiertagsreden.
Sehr zum Verdruss der Regierungsmitglieder, der Militärführer und der Medien ist die Mehrheit der Bevölkerung in den NATO-Ländern nicht vom Kriegsfieber befallen. Die Hurra-Patrioten von heute findet man hauptsächlich im politischen Establishment. In der breiten Öffentlichkeit herrschen Verwirrung und Beunruhigung vor. Diese Gefühle sind vor allem deshalb noch nicht zu einer organisierten Opposition gegen den Krieg geworden, weil die politischen Organisationen, denen die Menschen bislang vertrauten, sie im Stich gelassen haben.
Der Krieg hat den vollständigen Bankrott etablierter politischer Parteien erwiesen, die sich einst als Vertreter der Arbeiterklasse und des Sozialismus ausgaben. Aus den sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien sind nicht nur Anhänger, sondern auch Führer des heutigen Krieges hervorgegangen. Erfahrene Beobachter überrascht dies nicht. Diese Organisationen bezeugen bereits seit langem ihre Unterwürfigkeit gegenüber der kapitalistischen Marktwirtschaft und den Spitzen der Bourgeoisie. Sie sind längst integraler Bestandteil des imperialistischen Machtapparats. Der Krieg hat lediglich unterstrichen, dass ihr politischer Fäulnisprozess abgeschlossen ist. Stellten sie einst ein Hindernis für die politischen und wirtschaftlichen Forderungen des Kapitals dar, wenn auch keine wirklich sozialistische Alternative zum Imperialismus, so sind sie heute einfach rechte bürgerliche Parteien.
Und noch ein weiteres Merkmal – oder besser eine Lücke – in der politischen Landschaft hat der Krieg ans Tageslicht gebracht: das Fehlen eines gesellschaftskritischen und uneigennützigen intellektuellen Milieus. Es gab fast keine kritische Stimme aus akademischen Kreisen, die die Argumente zur Rechtfertigung des Kriegs zurückgewiesen hätte. Sofern überhaupt abweichende Meinungen aus den Reihen der Intellektuellen zu hören waren, kamen sie von rechts und forderten in der Regel eine noch aggressivere Politik. Die Tage des Protests, der Teach-ins auf dem Campus und der beißenden Kritik an staatlichen Lügen sind vorbei und vielleicht bei vielen auch aus dem Gedächtnis verschwunden.
Wie konnte es dazu kommen? Sehr lehrreich in dieser Hinsicht ist die politische Umwälzung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bei Kriegsausbruch im Jahr 1914 vollzogen große Teile der Sozialdemokratie und Arbeiterbürokratie einen Schwenk und unterstützten die Bourgeoisie des eigenen Lands. Parteien und politische Führer, die sich zuvor offiziell gegen den imperialistischen Krieg ausgesprochen hatten, ließen ihre vielbeschworenen Prinzipien fallen, stimmten den Kriegskrediten zu und riefen die Arbeiterklasse auf, den Staat zu verteidigen. Die katastrophalen Folgen dieser Entscheidung, für die die europäischen Arbeiter einen hohen Preis bezahlen mussten, sind allseits bekannt.
Lenin sah die objektive Grundlage für dieses Phänomen in der Korrumpierung der Gewerkschaftsführer und sozialdemokratischen Politiker durch den Imperialismus. Die europäische Bourgeoisie hatte einen Teil der Beute aus der Plünderung der Kolonien den Arbeiterführern zukommen lassen und sich damit ihre Unterordnung unter die imperialistische Politik erkauft.
Ähnlich verhält es sich heute. Eine ganze Schicht von ehemaligen Radikalen, die durch den Vietnamkrieg, die Ereignisse von Mai bis Juni 1968 in Frankreich und durch die militanten Arbeitskämpfe der späten 1960er und frühen 1970er Jahre politisiert wurden, hat im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte ihre Opposition gegen den Imperialismus aufgegeben und ist ins kleinbürgerliche Leben zurückgekehrt. Nicht wenige dieser Ex-Radikalen haben ihr Vermögen durch den Börsenboom der 1990er Jahre vervielfacht. Damit war eine scharfe politische Kehrtwende verbunden. Einige der hitzigsten Befürworter des gegenwärtigen Kriegs stammen aus dieser Schicht.
Die Bereicherung trifft nicht nur auf Leute zu, die in ihrer Vergangenheit mit radikaler Politik zu tun hatten. Eine ganze Gesellschaftsschicht ist reich geworden, die zwar prozentual relativ klein ist, aber eine beträchtliche Zahl von Individuen umfasst. Ein Prozent der amerikanischen Bevölkerung verfügt über vierzig Prozent des Gesamtvermögens. Das bedeutet, dass mehr als zweieinhalb Millionen Menschen über ein astronomisch hohes Einkommen verfügen. Die nächsten zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung konnten in den vergangenen zwanzig Jahren ebenfalls eine deutliche Steigerung ihres Vermögens verzeichnen. Ähnliche Zahlen könnte man für die anderen großen kapitalistischen Staaten anführen.
Aus dieser vermögenden gesellschaftlichen Schicht stammen das politische Führungspersonal sämtlicher politischer Parteien und der Medien sowie ein großer Teil der Akademiker. Die Anhäufung von Reichtum ist der politische Zement, der die Kriegstreiber zusammenhält und in der herrschenden Elite Rufe nach einer Ausweitung des Krieges laut werden lässt.
Doch der Boom an der Wall Street hat zwei Seiten. Um die Aktienkurse nach oben zu treiben, muss man drastische soziale Kürzungen, „Flexibilität [sprich Unsicherheit] auf dem Arbeitsmarkt“ und eine gesteigerte Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung in den imperialistischen Zentren und weltweit durchsetzen. Die 1980er und 1990er Jahre, die den Aufstieg der Neureichen und eine neue soziale Basis für den Imperialismus beförderten, haben zugleich eine potenziell größere Anhängerschaft für eine antikapitalistische und antiimperialistische Bewegung der Arbeiterklasse geschaffen. Das wachsende Weltproletariat, der sinkende Lebensstandard für die Mehrheit der Bevölkerung in den fortgeschrittenen Ländern, die Verarmung eines Großteils Asiens, Afrikas und Lateinamerikas und die verschlechterten Zukunftsaussichten für Jugendliche führen objektiv zu einer Bewegung für eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft.
Die Zeit ist reif, dieses Potenzial in eine bewusste politische Kraft zu verwandeln. Notwendig ist heute in erster Linie der Kampf für Sozialismus unter Arbeitern, Intellektuellen und Jugendlichen, die den Kern einer solchen revolutionären Bewegung bilden werden. Man muss sie politisch erziehen und die Verfälschungen des Marxismus durch seine reaktionäre Antithese, den Stalinismus, aus der Welt schaffen. Notwendig ist ein Kampf gegen alle ideologischen Versuche, direkt oder indirekt das gegenwärtige System zu erhalten. Dies steht im Zentrum des Aufbaus einer vereinten sozialistischen Partei der internationalen Arbeiterklasse.
#Titelbild: Bombardierung Belgrads durch die Nato
Quelle: www.wsws.org… vom 27. April 2024
Tags: Bosnien, Deutschland, Europa, Grüne, Imperialismus, Jugoslawien, Kosovo, Kroatien, Serbien, Sozialdemokratie, Strategie, USA
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