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„9/11“ in Lateinamerika unter US-amerikanischer Anleitung

Eingereicht on 11. September 2023 – 11:20

Wolf Wetzel. Über den Putsch in Chile am 11. September 1973, der sich heute zum 50. Mal jährt.

„Das Volk muss sich verteidigen, aber es darf sich nicht opfern. (…) Gehet voran in dem Wissen, dass eher früher als später sich die großen Straßen wieder öffnen werden, auf denen der freie Mensch schreitet, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen.“

(Salvador Allende in seiner letzten Botschaft über Radio, 1973)

Am 11. September 1973 putschte das Militär die gewählte Regierung von Salvador Allende in Chile. Ich habe noch die Bilder vom Präsidentenpalast im Kopf, der bombardiert wurde, umzingelt von Militärs, die auf den umliegenden Dächern postiert waren.

Viel später ging ein Bild um die Welt, auf dem man den 65–jährigen Präsidenten sieht, der einen Helm trägt und nach oben schaut. Er hält eine Pistole in der rechten Hand und wird von Bewaffneten begleitet.

Was wir als Schüler im Alter um die 20 Jahre darüber wussten, war sicherlich nicht viel. Offiziell verurteilte die SPD-FDP-Regierung unter Willy Brandt den Militärputsch. Aber genauso offiziell und lauter waren Stimmen derer zu vernehmen, die zu bedenken gaben, dass damit das Land, also Chile vor dem Kommunismus gerettet worden wäre. Das war eine mehr oder wenig versteckte Sympathiekundgebung für den Militärputsch. Ganz sicher wussten wir auch nicht sehr viel darüber, ob es sich tatsächlich um Sozialismus handelte, den das Parteienbündnis „Unidad Popular“ anstrebte.

Wir wussten nur eines sehr sicher: Wie schnell man als Kommunist oder Sozialist denunziert wurde, wenn man aus der Reihe tanzt und nicht so werden wollte, wie unser Mütter und Väter.

Auch wenn man das unserem Alter nicht ansah: Wir hatten bereits „außenpolitische Erfahrungen“ gesammelt. Die erste Demonstration, an der ich teilnahm, war eine Demonstration gegen den Vietnam-Krieg, den US-Regierungen seit Jahren führten. Auch dort wollten sie die Demokratie verteidigen und das vietnamesisches Volk vor dem Kommunismus retten. Dafür hatte man unter anderem alle BewohnerInnen im Dorf My Lai ermordet, um sie so vor dem Kommunismus zu retten. Dieser Irrsinn prägte sich beim mir ein und wurde eine Haltelinie in meinem Leben: Glaube ihnen kein Wort, wenn sie Krieg führen, um die Demokratie und die Freiheit zu retten.

Das sollte eigentlich auch nicht schwer sein, wenn man zuhören kann und will. Der chilenische General Augusto Pinochet ließ niemand im Unklaren:

Die Demokratie muss gelegentlich in Blut gebadet werden, damit die Demokratie fortbestehen kann.“

Wir mussten also nicht alles wissen, um gegen den Putsch in Chile zu protestieren. Also verfassten wir schnell ein Flugblatt und verteilten es anschließend in der Schule.

Genauso schnell, einen Tag später, ließ mich der Direktor zu sich rufen. Mir schwante nichts Gutes. Er kam sofort zur Sache und hielt mir besagtes Flugblatt wie einen stinkenden Putzlumpen unter die Nase.

„Du hast eine Erklärung unterschrieben, das weißt du wohl noch.“

„Ja, ich erinnere mich an etwas.“

Diese völlig rechtwidrige „Erklärung“, mich allen politischen Betätigungen zu entsagen, war der Preis dafür, dass ich wieder auf die Schule durfte. Der Direktor hatte etwas Triumphierendes in den Augen, als er fortfuhr.

„Du hast unser Vertrauen gebrochen, das ist dir doch klar?“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“

„Du hast dieses Flugblatt verteilt und das ist eine politische Betätigung, die du zu unterlassen hast.“

Zur Unterstreichung wedelte er mit dem Flugblatt herum.

„Es stimmt, dieses Flugblatt wurde verteilt. Aber woher wollen Sie wissen, dass ich es verteilt habe?“

Ein Schüler hat dich dabei gesehen und es mir gemeldet.“

Was wäre die Macht der Direktoren ohne ihre Lakaien? Was wäre der Herr ohne den Knecht? Der Direktor gab mir eine „letzte Chance“ und die nutzte ich, in und außerhalb der Schule.

Diktaturen als Reinigungsanlagen für Demokratien

„Ich sehe nicht ein, wieso wir stillhalten und nur zuschauen sollten, wenn ein Land aufgrund der Unverantwortlichkeit seines Volkes kommunistisch wird.“

(US-Außenminister Henry Kissinger)

Wie sehr Diktaturen und Militärputsche gar keinen Widerspruch zu demokratischen Systemen sind, sondern ineinandergreifen, machten Stellungnahmen von namhaften Politikern in Deutschland deutlich:

So ließ der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß noch im selben Jahres des Putsches im Bayernkurier die Welt wissen, dass „das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang“ bekommen hätte.

Im selben Jahr reiste der damalige CDU-Generalsekretär Bruno Heck als Zeichen der Solidarität nach Chile. Auf die Frage nach Berichten, denen zufolge das Nationalstadion in Santiago unter Pinochet in ein Gefangenenlager verwandelt worden sei, in dem Dissidenten gefoltert würden, sagte Heck nach seiner Rückkehr in der ‚Süddeutschen Zeitung‘ den berüchtigten Satz:

Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm“.“

(BND, Chile-Putsch und viele offene Fragen, Ben Knight hka vom 5. Januar 2019)

Wenn gerade mit der Causa Aiwanger die lobenswerte Idee aufkommt, jemanden für etwas verantwortlich zu machen, was er vor 30, 40 Jahren (und mehr) gesagt, getan und unterstützt hat, dann könnte man hier weitermachen. Ich bin mir sicher, danach könnte man den Bundestag um drei Viertel verkleinern. Wenn ich die Debatte richtig mitbekommen habe, dann ist jetzt Reue und Geschichtsbewusstsein ganz hoch im Kurs.

Dazu gehören eben auch die zahlreichen deutschen Konzerne, die nach dem Putsch ideale Investitionsmöglichkeiten sahen, mit dem Versprechen, dass sie alles bekommen und vor allem geschützt werden, wozu im Reich Pinochet die Zerschlagung der Gewerkschaften gehörte und die Suspendierung von Arbeitsrechten. Die Mittäterschaft deutscher Firmen an dem terroristischen Regime in Chile war evident und profitabel: Der Handel mit Chile im Jahr nach dem Militärputsch erlebte einen sagenhaften Aufschwung: „Die Ausfuhren stiegen 1974 um über 40 Prozent, die Einfuhren um 65 Prozent.“

Es geht um mehr als um Erinnerung

Der Militärputsch in Chile jährt sich jetzt zum 50. Mal. Es geht um mehr als um die Zehntausende Ermordete, für die nicht nur die chilenische Militärjunta verantwortlich ist:

„Während des Militärstreichs in Chile starben über 3000 Chilenen. Innerhalb der 17 folgenden Jahre unter Pinochet starben über 100.000 durch Staatsterrorismus. Doch Hunderttausende starben in Süd- und Mittelamerika nach 1973 auf Grundlage des Modells, das Kissinger in Chile etabliert hatte.“

(Nachhall/Nation ohne Grenzen, Francisco Letelier, Die Schlacht um Chile)

Die Mittäter sitzen auch in den USA, die Profiteure in vielen Ländern in Europa.

Denn der Terror darf nicht vergessen machen, dass er einem Wirtschaftsmodell diente, das dort ausprobiert wurde und nun seit ein paar Jahrzehnten in Europa das Leben von Millionen Menschen prägt.

Damals, also in den 1970er Jahren, trauten sich die „Wirtschaftsexperten“, die Think Tanks nicht, diesen Wirtschaftsterrorismus im eigenen Land einzuführen, weder in den USA, noch in Europa. Dort war man noch ganz damit beschäftigt, einen Kapitalismus anzubieten, der sich mit Blick auf den sozialistischen Ostblock als attraktiv herausputzen musste. Das nannte man dann „Wohlfahrtsstaat“.

Also musste man auf den lateinamerikanischen Kontinent ausweichen und dafür bot sich Chile an. Das Parteienbündnis „Unidad Popular“ wollte die Kupferindustrie verstaatlichen, die fast vollständig in der Hand ausländischer Konzerne war.

So kamen die „Chicago Boys“ zum Zug: Sie entwarfen für Chile einen Kapitalismus sans phrase. Es wurde privatisiert, was Profite versprach (wie die Kupferminen z.B.) und die Ausbeutung der Bodenschätze für einen Apfel und ein Ei zementierte die Vorherrschaft der westlichen Staaten. Dazu gehörte eben auch die Privatisierung von Grundressourcen wie Wasser und Strom, Bildung und Gesundheit, worauf niemand verzichten kann.

Was man heute als „Neoliberalismus“ bezeichnet, die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche, war genau das, was die Militärjunta in Chile absichern und garantieren sollte.

Wie resümiert die FAZ diese Zeit:

Vor 50 Jahren putschte sich der Militär Augusto Pinochet in Chile an die Macht. Es folgte blutiger Terror gegen Oppositionelle. Der Neoliberalismus aber erlebte einen Triumph – und gleichzeitig ein ethisches Debakel.“

(FAZ vom 11.8.2023)

50 Jahre später braucht man dafür – in Europa und in den USA –keine Militärjunta. Noch nicht.

Quellen und Hinweise:

Schlacht um Chile, Ein Dokumentarfilm von Patricio Guzmán, 1972-1979, insgesamt circa 263 Minuten, Regie: Patricio Guzmán. „In seiner dreiteiligen Dokumentation zeichnet Patricio Guzmán die Endphase der Regierungszeit von Salvador Allende nach. Der Film besteht nicht aus Archivmaterial, Guzmán und sein Team drehten kontinuierlich zwischen 1972 und 1979. Chiles bedeutendstem Dokumentarfilmer gelang es, das Rohmaterial ins kubanische Exil zu retten und dort sein monumentales Zeugnis des „Kampfes eines unbewaffneten Volkes“ – so der Untertitel des Films – zu gestalten.“ Ein ausgezeichnetes Werk!

Nachhall/Nation ohne Grenzen, Francisco Letelier, Die Schlacht um Chile. Der Kampf eines Volkes ohne Waffen, LAIKA-Verlag, 2011 (mit den CDs des Dokumentarfilmes: Schlacht um Chile)

MIR. Die Revolutionäre Linke Chiles, LAIKA-Verlag, 2011

BND, Chile-Putsch und viele offene Fragen, Ben Knight hka vom 5. Januar 2019: https://www.dw.com/de/die-bundesregierung-mauert-zu-bnd-chile-putsch-und-vielen-offenen-fragen/a-46959310

Der Neoliberalismus aber erlebte einen Triumph – und gleichzeitig ein ethisches Debakel, faz vom 11.8.2023: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/chicago-boys-in-chile-pinochet-putsch-vor-50-jahren-19065596.html

50 Jahre Militärputsch in Chile, amerika21-Dossier, 2023: https://amerika21.de/dossier/50-jahre-militaerputsch-chile

Quelle: overton-magazin.de… vom 11. September 2023

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