Zweierlei Nato-Kritik: Dieser Unterschied ist fundamental
Claudia Wangerin. Rechte kritisieren die Nato, weil dort aus ihrer Sicht Deutschland zu kurz kommt. Internationalistische Linke kritisieren sie als bewaffneten Arm des Metropolen-Chauvinismus. Deutschland ist hier mitgemeint.
Anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz wollen die linken Gruppen „München International“ und „Defend Kurdistan“ im EineWeltHaus über „Die Nato und ihre Kriege“ reden – so lautet das Motto einer Podiumsdiskussion, zu der sie für diesen Freitagabend eingeladen haben.
Aus der Sicht von vielen Liberalen passt das nicht in diese Zeit, denn spätestens seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine sollte doch klar sein: Die Nato, das sind die Guten. Denn der Militärpakt steht in diesem Fall auf der Seite der Angegriffenen. Der Hinweis, dass das längst nicht immer und überall so ist, wird oft als „Whataboutism“ abgetan.
Betroffene anderer Kriege müssen damit leben, dass für sie in den großen deutschen Medien weniger Gefühle mobilisiert werden – und dass viele Menschen in Westeuropa nicht einmal in groben Zügen wissen, was in ihren Ländern passiert.
Dieser Schieflage soll die linke Veranstaltung im EineWeltHaus entgegenwirken: Als Referentinnen wurden die afghanische Frauenrechtsaktivistin Selay Ghaffar und Nilüfer Koç vom Nationalkongress Kurdistan (KNK) sowie Emma Lehbib von der Gruppe „Saharauische Diaspora in Deutschland“ und Shoan Vaisi, Linke-Politiker und Aktivist mit iranisch-kurdischem Hintergrund eingeladen.
„Es soll um die Geschichten gehen, die das Kriegstreiben der Nato in den letzten Jahrzehnten geschrieben hat“, heißt es in der Ankündigung. „Welche Interessen werden mit Kriegen verfolgt, und sind sie wirklich, wie immer betont wird, die ‚letzte Wahl‘, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft wurden?“
Die Münchner Sicherheitskonferenz wird im Umfeld der Organisatoren als „Klassentreffen von Politik, Militär und Rüstungslobby“ und wegen der Dominanz von Akteuren aus Nato-Staaten auch als „Nato-Sicherheitskonferenz“ bezeichnet. Das ist nicht neu und auch kein „Whataboutism“, da linke Proteste gegen die alljährliche Konferenz mit ähnlicher Begründung schon lange vor dem Ukraine-Krieg stattfanden. Die Beteiligten weigern sich nur, so zu tun, als lösche die „Zeitenwende“ alle zuvor gemachten Erfahrungen aus.
Den russischen Angriffskrieg verurteilt das „Aktionsbündnis gegen die Nato-Sicherheitskonferenz“ im Aufruf zur Demonstration am Samstag mit deutlichen Worten, ohne sich einen Tunnelblick auf diesen Krieg verordnen zu lassen:
Im Gegensatz zu unseren Regierungen, die die Kriege der Nato-Staaten gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak und Libyen etc. gerechtfertigt und unterstützt haben, treten wir kompromisslos gegen jede Anwendung militärischer Gewalt gegen andere Länder ein. Deshalb verurteilen wir den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die damit verbundene Annexion ukrainischen Territoriums.
Der Krieg hat bereits zu Zehntausenden Toten und Verletzten, zu ungeheuren Zerstörungen und Millionen Geflüchteten geführt. Dieser Krieg droht immer weiter zu eskalieren und kann in einer Katastrophe mit dem Einsatz von Atomwaffen enden.
Aktionsbündnis gegen die Nato-Sicherheitskonferenz
Aber allein das Motto „Verhandeln statt Schießen – Abrüsten statt Aufrüsten“ dürfte schon für reichlich Empörung sorgen. Plumpe Versuche, Linke für solche Forderungen mit der AfD gleichzusetzen, weil auch diese aktuell keinen großen Krieg mit Russland riskieren will, haben Hochkonjunktur. Die alte „Hufeisentheorie“ von den „extremen Rändern“, die sich berühren, wird hier gern aus der Tasche geholt.
Gegen rechte Gruppen, Personen und Ideologien grenzt sich das Münchner Aktionsbündnis aber scharf ab – deutlich schärfer als die Initiatorinnen des „Manifests für Frieden“, dessen Erstunterzeichner vom linken bis ins konservative Lager reichten. Auf der Internetseite des Münchner Bündnisses wird klargestellt:
Das Aktionsbündnis gegen die Nato-Sicherheitskonferenz arbeitet auf antifaschistischer Grundlage und wendet sich entschieden gegen nationalistische, militaristische, völkische, rassistische, homophobe, antisemitische oder rechtspopulistisch-islamophobe Inhalte.
Aktionsbündnis gegen die Nato-Sicherheitskonferenz
Rechte wissen in diesem Fall genau, dass sie nicht erwünscht sind und wollen in München separat demonstrieren. Warum solche Klarstellungen wichtig sind, liegt auf der Hand: Auch völkische Nationalisten kritisieren die Nato – nur aus völlig anderen Gründen als internationalistische Linke. Letztere sehen in Deutschland einen Teil des Globalen Nordens, der seit vielen Jahrzehnten von globaler Ungerechtigkeit profitiert und aufhören sollte, sich für etwas Besseres zu halten.
Björn Höcke „tabulos“ für deutsche Interessen – auch in der Außenpolitik
In AfD-Kreisen wird Nato-Kritik fast ausschließlich damit begründet, dass in diesem Bündnis „deutsche Interessen“ zu kurz kämen. Zwischen den Interessen deutscher Konzerne und denen der Bevölkerung wird dabei nicht unterschieden – und vor dem Elend in anderen Teilen der Welt soll der deutsche Michel seine Ruhe haben.
Was bei der AfD nicht direkt gesagt wird, ist, dass sich Kriege für Deutschland lohnen müssen – und bitteschön nicht nur für die USA. Aber pazifistisch oder antimilitaristisch ist diese Partei keineswegs. Sie ist sogar für die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht in Deutschland.
Als der AfD-Rechtsaußen-Politiker Björn Höcke 2016 eine Debatte über den Nato-Austritt Deutschlands auslösen wollte, betonte er gegenüber der Springer-Zeitung Die Welt, in seiner Partei formuliere man deutsche Interessen „unbefangen und tabulos auch für die Außenpolitik“. Das Wörtchen „tabulos“ muss hier angesichts von Höckes Geschichtsbild alle Alarmglocken klingeln lassen – zumal er wenig später die „nach 1945 begonnene systematische Umerziehung“ der Deutschen beklagte.
Wer sich beide Aussagen auf der Zunge zergehen lässt, muss annehmen, dass Höcke das exklusive deutsche Streben nach der Weltherrschaft gar nicht so schlecht fand – während ihn an der Nato stört, dass Deutschland dort in absehbarer Zeit nur die zweite Geige spielen könnte.
Durchsetzen konnte sich eine Gruppe von gut 50 AfD-Mitgliedern mit dem Antrag „Wir fordern den Austritt aus der Nato“ auf dem Parteitag im Jahr 2016 nicht. Zu sehr fürchteten viele um die Anschlussfähigkeit der AfD an den rechten Flügel der Union.
Im Wahlprogramm der AfD war 2021 nur die Rede davon, dass die USA Deutschland als gleichberechtigte Führungsmacht innerhalb der Nato anerkennen müssten. Eine Dominanz beider Staaten gegenüber allen anderen Mitgliedsländern wäre demnach für sie akzeptabel.
AfD will „bis auf Weiteres“ gleichberechtigte Führungspartnerschaft
Die Mitgliedschaft in der Nato und eine aktive Rolle Deutschlands in der OSZE seien „bis auf Weiteres“ zentrale Elemente ihrer Sicherheitsstrategie, stellte die AfD in dem Wahlprogramm klar. Die Nato müsse aber wieder ein reines Verteidigungsbündnis werden.
Die USA sind derzeit der stärkste Bündnispartner Deutschlands. Leitbild der Beziehungen zwischen unseren Ländern muss die Gleichberechtigung beider Partner sein.
Aus: Deutschland. Aber normal. Programm der AfD für die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag, S. 64
Ihre Aussage zur „Gleichberechtigung beider Partner“ ist erstaunlicherweise gar nicht so weit entfernt von der „Partnerschaft in Leadership“, von der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am 2. August 2022 in New York sprach. Auch im „Zentrum Liberale Moderne“ mag man diese Vorstellung.
Die Nato und ihr „Bad Cop“
Dass auch ein von der AfD regiertes Deutschland weiterhin als Nato-Mitglied akzeptiert werden würde, ist gar keine Frage. Denn anders als die „Strategische Kommunikation“ der Nato glauben machen will, ist sie keine demokratische Wertegemeinschaft.
Zwar sind die meisten Mitgliedstaaten bürgerliche Demokratien, die aktuell keine offen faschistischen Neumitglieder aufnehmen würden – aber das Statut der Nato sieht nicht vor, dass Staaten, die bereits Mitglied sind, wegen handfester Faschisierungstendenzen ausgeschlossen werden können.
Und das ist kein schlichter Webfehler und kein Betriebsunfall, sondern dieses Ausschlusskriterium war nicht vorgesehen, als die Nato in erster Linie als antisowjetischer Militärpakt gegründet wurde. Ausschlüsse waren überhaupt nicht vorgesehen. Die Möglichkeit, dass der militärisch-industrielle Komplex in einem Mitgliedsstaat die faschistische Karte zieht, wenn sich die Gesellschaft zu sehr nach links im antikapitalistischen Sinn entwickelt, wurde damit offen gelassen.
Problematisch wird es für die Nato insgesamt nur, wenn ein langjähriger „Bad Cop“ wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf dem internationalen Parkett aus der Reihe tanzt. Selbst im Munich Security Report wird die Türkei als „nicht freies“ Land bezeichnet, aber wie alle anderen Mitgliedsstaaten hat sie ein Vetorecht bei Neuaufnahmen und kann somit seit Monaten die Nato-Beitrittsprozesse Schwedens und Finnlands blockieren.
Erdogan findet vor allem Schwedens Innenpolitik gegenüber kurdischen Linken im Exil zu liberal und erreichte mit seiner Erpressungstour schon die eine oder andere Auslieferung.
Deutschland könnte dagegen gefahrlos die Repressionsschraube gegen kurdische Organisationen lockern, da es bereits Nato-Mitglied ist und diesbezüglich nicht von der Türkei unter Druck gesetzt werden kann. Es besteht aber offensichtlich kein Interesse. Im Gegenteil, das Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) wird hier sehr restriktiv ausgelegt. Zahlreiche kurdische Vereine wurden hier bereits als mutmaßliche Vorfrontorganisationen der PKK kriminalisiert. Darüber hinaus gehörte die Türkei in den letzten Jahren zu den Hauptempfängerländern von Waffenlieferungen aus Deutschland.
Der grenzübergreifende Krieg des Erdogan-Regimes gegen kurdische Autonomiebestrebungen wäre ohne Waffenlieferungen aus Deutschland und anderen Nato-Partnerstaaten kaum vorstellbar. Auch bei der türkischen Besetzung des selbstverwalteten Kantons Afrin in Nordsyrien kamen 2018 deutsche Leopard-Panzer zum Einsatz.
Völkerrechtskonform war dies nach Einschätzung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags eher nicht. Jedenfalls sei die Türkei den Beweis für das Vorliegen eines Selbstverteidigungsrechts schuldig geblieben, hieß es wenig später in einem Gutachten zur „Operation Olivenzweig“. Diese Feststellung führte aber nicht zum Stopp von Waffenlieferungen anderer Nato-Staaten an die Türkei. Die transatlantische Erzählung von der Nato als Schild und Schwert von Demokratie und Völkerrecht wird hier ad absurdum geführt.
Abgesehen vom offen antidemokratischen Mitgliedsstaat Türkei gibt es innerhalb der Nato auch „Wackelkandidaten“. Auch ein Ausschluss Italiens aus der Nato steht nicht zur Debatte, nur weil dort eine Frau zur Regierungschefin gewählt wurde, deren Parteilogo auf den Geist Mussolinis anspielt.
Als sich Giorgia Meloni im Oktober zur EU, zur Nato und zur Ukraine bekannte und behauptete, nie mit dem Faschismus sympathisiert zu haben, waren viele erst einmal beruhigt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) empfing sie bei ihrem Antrittsbesuch Anfang Februar höflich. Ihre Agenda ist vor allem eine rigide Abschottungspolitik gegen Migration und Geflüchtete an den EU-Außengrenzen.
Aber die linke Nato-Kritik beschränkt sich nicht auf „Bad Cops“: Auch Mitgliedsstaaten, die sich viel darauf einbilden, nach innen demokratisch verfasst zu sein, sind Externalisierungsgesellschaften – reiche Länder, die ärmere Teile der Welt in vieler Hinsicht vor vollendete Tatsachen stellen.
Was in westlichen Ländern auf der Nordhalbkugel demokratisch entschieden wird, bleibt nicht immer in den westlichen Ländern auf der Nordhalbkugel. Die schmutzigen Folgen ihrer Entscheidungen werden zuerst anderen Ländern und Menschen aufgebürdet.
Die Folgen „unserer“ Produktionsweise, Energie- und Verkehrspolitik treffen zum Beispiel in Form von Umweltzerstörung und Klimaveränderungen auch Menschen, die hier gar nicht mit abstimmen können. Viele von ihnen können westliche Länder nicht einmal betreten. Wenn sie es doch hierher schaffen und bleiben dürfen, haben sie noch lange kein Wahlrecht.
Ein Großteil des Wohlstands, der im fossilen Kapitalismus für westliche Gesellschaften geschaffen wurde, basiert auch auf der Ausbeutung von Mensch und Natur im Globalen Süden.
Der Soziologe Stephan Lessenich hat das in seinem Buch „Neben uns die Sintflut“ thematisiert und sagte dazu vor wenigen Jahren einen Satz, der für einen Großteil der westlichen Mittel- und Oberschicht in den letzten Jahrzehnten zutrifft: „Wir leben nicht nur über unsere Verhältnisse, sondern über die Verhältnisse der Anderen.“ Für die Jüngeren wird er angesichts der Klimakatastrophe wohl nicht immer zutreffen.
Die Macht- und Eigentumsverhältnisse, die effektiven Umwelt- und Klimaschutz verhindern, weil Profite nicht gefährdet werden sollen, sind dieselben, die es auch einer privatwirtschaftlichen Rüstungsindustrie ermöglichen, an Kriegen zu verdienen.
Diese Macht- und Eigentumsverhältnisse werden auch von der Nato militärisch abgesichert – und das gehört zum Kern einer explizit linken Kritik an der Nato: Sie ist nicht Schild und Schwert der Demokratie, sondern der bewaffnete Arm des Metropolen-Chauvinismus. Deutsche Akteure, die dieses ausbeuterische Modell verteidigen, solange für Deutschland genug dabei herausspringt, werden von dieser Kritik nicht ausgenommen – im Gegenteil.
Putin oder die Nato – Hells Angels oder Bandidos?
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine, mit dem Linke und die Friedensbewegung größtenteils nicht gerechnet hatten, wird ihnen vorgehalten, auch den Charakter der Nato schon immer falsch eingeschätzt zu haben. Schließlich, so die Logik dahinter, muss ja im Kräftemessen der Großmächte auch jemand im Recht sein – und Russland hat sich nun mal mit dem Ukraine-Krieg ins Unrecht gesetzt. Wer die Nato nun immer noch nicht als „die Guten“ erkennt, muss demnach für den russischen Staatschef und seinen Angriffskrieg sein.
Für antimilitaristische Linke klingt das aber wie die Wahl zwischen Hells Angels und Bandidos auf der Ebene von Großmächten. Schon der Atomwaffenbesitz der Großmächte ist Ausdruck eines Rechts der Stärkeren, die sich über den Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen hinwegsetzen. Wenn ein Krieg zwischen diesen Großmächten atomar eskaliert, muss aber im schlimmsten Fall die ganze Welt die Konsequenzen tragen.
Wer nur auf die Ukraine und das vergangene Jahr schaut, kann der Nato natürlich weniger vorwerfen als jemand, der auf die ganze Welt und die letzten Jahrzehnte schaut. Dass sich Linke und Friedensbewegung im Fall der russischen Ukraine-Invasion geirrt haben, hat mit der Erfahrung des 2003 begonnenen Irak-Krieges zu tun.
Weil in diesem Fall eine Lüge des US-Außenministers Colin Powell über irakische Massenvernichtungswaffen als Kriegsgrund herhalten musste, behandelten viele im Februar 2022 auch Informationen aus den USA über einen geplanten russischen Einmarsch in die Ukraine mit größter Skepsis. Der Gedanke „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“ basierte auf der Erfahrung eines „Präventivkriegs“, dessen Begründung sich als falsch herausgestellt hatte, in dem aber bis 2011 mehr als 120.000 Menschen aus der irakischen Zivilbevölkerung ihr Leben verloren hatten.
Dass „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“ in diesem Fall leider ein Trugschluss war, ist bekannt. Das ändert aber leider auch nichts am grundsätzlichen Charakter der Nato.
#Bild: Kriege außerhalb Europas geraten fast in Vergessenheit. Symbolbild: WikiImages auf Pixabay (Public Domain)
Quelle: telepolis.de… vom 20. Februar 2023
Tags: Deutschland, Dritter Weltkrieg, Imperialismus, Neue Rechte, Politische Ökonomie, Repression, Russland, Strategie, Ukraine, USA
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