Medien ignorieren die Rolle der NATO im libyschen Kriegschaos
Greg Shupak. Die Intervention von 2011 war ein Glied in der Kette von Ereignissen, die zu den Überschwemmungen und der Tragödie des letzten Monats führten.
Die Medien stellen Zustimmung her, und das geschieht u. a. durch Amnesie – das Verschweigen vergangener Untaten einer Regierung macht es leichter, künftige Untaten zu verkaufen.
Die katastrophalen Überschwemmungen, die der Sturm Daniel in Libyen ausgelöst hat und die bis zu 10.000 Menschen das Leben gekostet haben, sind sowohl eine Naturkatastrophe als auch eine vom Menschen verursachte Katastrophe. In der Woche nach dem Sturm Daniel wurde in den Medien überwiegend der „Krieg“ als Grund dafür genannt, dass das Land nicht in der Lage war, die Katastrophe zu bewältigen.
Über den Beitrag der NATO zu dem, was zu Libyens ewigem Krieg geworden ist, wurde in den Medien jedoch so gut wie gar nicht berichtet. Dies ist umso bemerkenswerter, als die NATO – wenn auch nur stellvertretend – in den derzeitigen Krieg in der Ukraine verwickelt ist.
Der Krieg im heutigen Libyen lässt sich bis zum Februar 2011 zurückverfolgen, als sich die Proteste gegen die Regierung von Muammar Gaddafi zu einem bewaffneten Konflikt entwickelten. In den ersten Tagen der Kämpfe verbreiteten die US-Medien Behauptungen, die libysche Luftwaffe bombardiere Demonstranten, obwohl hochrangige Pentagon-Beamte erklärten, es gebe „keinerlei Bestätigung“ für derartige Bombardierungen.
Westliche Medien und Politiker beschuldigten Gaddafi, systematisch und massenhaft die Zivilbevölkerung abzuschlachten und die Absicht zu haben, das weiter zu machen, insbesondere als die Regierungstruppen auf das von den Rebellen gehaltene Benghazi vorrückten. Vor diesem Hintergrund verabschiedete der UN-Sicherheitsrat im März 2011 die Resolution 1973, die „alle notwendigen Maßnahmen“ zum Schutz der Zivilbevölkerung erlaubte.
Die NATO interpretierte die Resolution fragwürdig so, dass sie ihr das Recht einräumte, die libysche Regierung zu stürzen. Die NATO-Streitkräfte – in erster Linie Großbritannien, Frankreich und die USA – führten in der Folge rund 9700 Luftangriffe durch und warfen während ihrer siebenmonatigen Kampagne über 7700 präzisionsgelenkte Bomben ab.
Die Bombardierung sicherte den Rebellen – einer meist bunt zusammengewürfelten Ansammlung lokaler und stammesbezogener Milizen, islamistischer Kämpfer und unzufriedener Soldaten, die nur durch ihren Widerstand gegen Gaddafi (dessen Tod durch einen NATO-Luftangriff ermöglicht wurde) vereint waren – nicht nur den letztendlichen Sieg. Durch die Bombardierung wurden auch zahlreiche Zivilisten getötet, die dadurch angeblich geschützt werden sollten, sie hinterließ Libyen ohne eine funktionierende Regierung (und ermöglichte zudem die Weitergabe Zehntausender von Gaddafis Regierung gelagerter Waffen an Aufständische in ganz Libyen, in der Sahelzone und darüber hinaus, vor allem in Syrien).
Seit dem Sturz Gaddafis herrscht in Libyen ein Bürgerkrieg, in dem das Land zwischen zwei schwer bewaffneten rivalisierenden Gruppierungen gespalten ist, die für sich in Anspruch nehmen, die Regierung zu sein: Die Libysche Nationalarmee (LNA) von Khalifa Haftar im Osten und die Regierung der Nationalen Einigung mit Sitz in Tripolis im Westen.
Es gibt keine Beweise dafür, dass die Bombardierung durch die NATO direkt zum Zusammenbruch der Dämme beigetragen hat, die die katastrophalen Überschwemmungen in Derna verursacht haben (obwohl der Krieg angeblich die Sanierungsarbeiten eines türkischen Bauunternehmens unterbrochen hat). Aber es steht außer Frage, dass die NATO-Intervention zur Zerstörung des libyschen Staates und des sozialen Gefüges beigetragen hat, was wiederum jahrelange Kriege zur Folge hatte, die unter anderem dazu führten, dass wichtige Infrastrukturen nicht aufrechterhalten werden konnten.
Dennoch war dieser Zusammenhang in der Berichterstattung der US-Medien über die jüngsten Überschwemmungen so gut wie unsichtbar, selbst in den Berichten, in denen „Krieg“ als ein Faktor genannt wurde, der zur Erklärung des Ausmaßes der Katastrophe beiträgt.
Medien vermeiden, die Flutkatastrophe mit der NATO-Intervention 2011 zu verbinden
Ich habe die Nachrichtendatenbank Factiva benutzt, um Material zu suchen, das in der New York Times, dem Wall Street Journal und der Washington Post – den drei wohl einflussreichsten nationalen Zeitungen – zwischen Sonntag, dem 10. September, dem Tag, an dem Derna überflutet wurde, und Samstag, dem 16. September, veröffentlicht wurde. Ich suchte nach den Wörtern „Libyen“ und Variationen von „Flut“, wie „Überschwemmung“ und „Hochwasser“, und erhielt 67 Ergebnisse, von denen die große Mehrheit angeblich „objektive“ Nachrichtenberichte und keine Meinungsäußerungen waren. 40 der 60 enthielten das Wort „Krieg“. Aber nur drei dieser Artikel enthielten auch den Begriff „NATO“, das sind nur 7,5 % des Inhalts. Zwei weitere Artikel enthielten die Worte „NATO“, „Libyen“ und „Flut“, aber nicht „Krieg“, sondern das Wort „Intervention“, um die Rolle der NATO zu beschreiben.
Somit wurde in nur fünf Artikeln – oder 7,4 Prozent – der gesamten Berichterstattung über die Flutkatastrophe in dieser Woche auf die NATO Bezug genommen.
Typisch für die Berichterstattung in den Artikeln, in denen „Krieg“ als Mitursache der Katastrophe erwähnt wurde, war ein Bericht der Washington Post, in dem es hieß, Libyen sei „durch mehr als ein Jahrzehnt Krieg und Chaos zerrüttet und zwischen rivalisierenden Regierungen gespalten, ohne dass eine zentrale Behörde die Infrastruktur stützen oder Pläne zur Rettung der Einwohner aufstellen könnte“. Später hieß es in dem Artikel: „Das ölreiche Libyen wird seit dem Sturz seines langjährigen Diktators Moammar Gaddafi im Jahr 2011 von Konflikten heimgesucht“, ohne dass der Beitrag der NATO erwähnt wurde.
In ähnlicher Weise bezeichnete die NYT in einem Artikel Libyen als „ein nordafrikanisches Land, das durch einen Krieg zersplittert und auf den Sturm schlecht vorbereitet war. …. Trotz seiner enormen Ölvorkommen war seine Infrastruktur nach mehr als einem Jahrzehnt des politischen Chaos schlecht instand gehalten worden.“ Zu den Ereignissen des Jahres 2011 heißt es in dem Artikel weiter: „Libyen hat 42 Jahre lang unter der autokratischen Herrschaft von Oberst Muammar el-Qaddafi gelebt, bevor er 2011 durch einen Aufstand gestürzt wurde.“ Diese Darstellung suggeriert, dass der Sturz Gaddafis eine rein interne Angelegenheit war, und verdeckt völlig die entscheidende Rolle, die die NATO-Intervention auf Seiten der regierungsfeindlichen Kräfte gespielt hat, indem sie die Bedingungen für weitere Instabilität und Kriege schuf.
Die Zeitung schreibt: „Die Naturkatastrophe [in Libyen] wurde über Jahrzehnte vorbereitet – ein Ergebnis der jahrelangen offiziellen Vernachlässigung zweier nahegelegener Staudämme während des autoritären Regimes von Moammar Gaddafi und der politischen Krise und des Krieges seit seinem Sturz in einer Revolution 2011.“ Die Autoren heben die Rolle hervor, die der Krieg bei der Entstehung der Überschwemmungen gespielt hat, verschweigen aber, wie die NATO-Intervention gegen die Gaddafi-Regierung zum Zusammenbruch der Gesellschaft und der Regierung sowie zur Kriegsführung nach Gaddafi beigetragen hat.
Natürlich bedeutet die bloße Erwähnung der NATO nicht zwangsläufig, dass ein Nachrichtenartikel den Lesern ein genaues Bild davon vermittelt, was das Bündnis in Libyen getan hat. In einem Artikel der Washington Post heißt es beispielsweise, Gaddafi habe Libyen regiert, bis er „während eines von der NATO unterstützten Aufstands des Arabischen Frühlings von Streitkräften der Rebellen getötet wurde“. Diese Formulierung ist bestenfalls zweideutig: Sie vermittelt dem Leser keinen Eindruck davon, in welcher Form die NATO den „Aufstand des Arabischen Frühlings“ in Libyen unterstützte.
Eine Analyse von Ishaan Tharoor von der Post, die nicht in der Printausgabe der Zeitung veröffentlicht wurde, kam der Sache viel näher, als er sagte, dass „Libyens instabiler Status quo“ sowohl das Ergebnis innenpolitischer Kräfte als auch „der Intervention externer Akteure ist. Das begann mit der NATO-geführten Intervention im Jahr 2011.“
Die New York Times, das Wall Street Journal und die Washington Post haben wiederholt auf den Zusammenhang zwischen der Überschwemmung in Libyen und dem bewaffneten Konflikt im Land hingewiesen. Mit wenigen Ausnahmen weigerten sich die Zeitungen jedoch, zuzugeben, dass die NATO 2011 beschloss, Libyen so lange zu bombardieren, bis die Regierung des Landes gestürzt wurde. In dieser Hinsicht haben es die Zeitungen versäumt, ihre Leser daran zu erinnern, dass die Intervention der NATO Teil der Kette von Ereignissen war, die zu der Katastrophe in diesem Monat geführt haben. Eine solche Erinnerung erscheint heute angesichts der viel gepriesenen Wiederbelebung und Norderweiterung der NATO aufgrund ihrer wachsenden Rolle bei der Unterstützung der Ukraine gegen die russische Invasion besonders angebracht.
#Titelbild: Abschuss einer Tomahawk-Rakete vom amerikanischen Lenkwaffenzerstörer USS Barry (DDG 52) am 19. März 2011 im Rahmen der NATO-Intervention. Bild: US Navy
Quelle: overton-magazin.de… vom 2. Oktober 2023
Tags: Arabische Revolutionen, Europa, Frankreich, Imperialismus, Italien, Libyen, Politische Ökonomie, USA
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