Deutschland 1923: Die verpasste Revolution
Peter Schwarz. 1923 erschütterte eine tiefe wirtschaftliche und politische Krise die deutsche Gesellschaft in ihren Grundfesten. Zum hundertjährigen Jubiläum sind ein halbes Dutzend neue Bücher über dieses „Jahr am Abgrund“ erschienen, verfasst von bekannten Historikern und Journalisten wie Volker Ullrich und Peter Longerich. Offensichtlich sind die damaligen Ereignisse angesichts hoher Inflation, heftiger Klassenauseinandersetzungen und eskalierender Kriege wieder von brennender Aktualität.
Die neuen Bücher folgen alle demselben Narrativ: Als Folge von Hyperinflation, Verelendung und Radikalisierung sei die demokratische Republik durch Umsturzversuche von links und rechts in Gefahr geraten und schließlich durch das beherzte Eingreifen der politisch und militärisch Verantwortlichen gerettet worden.
Studiert man die Ereignisse genauer – und dazu findet sich in den Büchern teilweise gutes Material –, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Die soziale Krise zerfetzte die demokratische Fassade der Weimarer Republik und zeigte, was sie wirklich war: ein Deckmantel für die fortgesetzte Diktatur der alten Eliten des Kaiserreichs – der Großindustriellen, Großgrundbesitzer und Militärs.
Reichspräsident Friedrich Ebert, ein Sozialdemokrat, „rettete“ die Republik, indem er die Reichswehr gegen aufständische Arbeiter hetzte, die linken sozialdemokratischen Regierungen in Thüringen und Sachsen gewaltsam des Amtes enthob und die Exekutivgewalt im Reich an den Oberbefehlshaber der Reichswehr, General von Seeckt, übertrug, also faktisch eine Militärdiktatur errichtete. Die Errichtung einer solchen Diktatur war auch das Ziel, das Hitler und General Ludendorff im November 1923 mit ihrem Putsch in München verfolgten.
Nachdem es der Regierung Gustav Stresemanns Ende des Jahres gelungen war, die Inflation durch eine Währungsreform unter Kontrolle zu bringen, und sich die Wirtschaft dank amerikanischer Hilfe etwas erholt hatte, gab von Seeckt die Exekutivgewalt an die zivile Regierung zurück. Doch das war nur ein Zwischenspiel. Als mit dem Wall-Street-Crash von 1929 die nächste große Krise Deutschland überrollte, brach die demokratische Fassade endgültig zusammen.
Zwei Jahre lang regierte der Zentrumspolitiker Brüning mit Notverordnungen, die vom Reichspräsidenten absegnet wurden. Als die Krise weiter eskalierte, begnügte sich die herrschende Klasse nicht mehr mit einer vorübergehenden Übertragung der Exekutivgewalt ans Militär, sondern berief Adolf Hitler zum Kanzler und ermächtigte ihn zum Diktator. 1923 erwies sich als Vorspiel für die Errichtung der Nazi-Diktatur im Jahr 1933.
Es gab eine Alternative. Hätte 1923 die Arbeiterklasse die Macht erobert und die alten Eliten entmachtet und enteignet, hätten die deutsche und die Weltgeschichte einen anderen Verlauf genommen. Die Möglichkeit dazu bestand. Die Hyperinflation – auf dem Höhepunkt lag der Dollarkurs bei sechs Billionen Mark – polarisierte die Gesellschaft und radikalisierte die Arbeiterklasse und die Mittelschichten. Sie stieß Arbeiter in bittere Armut und vernichtete die Ersparnisse der Kleinbürger, während Krisengewinnler, wie der Großindustrielle Hugo Stinnes, gewaltige Vermögen zusammenrafften.
Die Stimmung war revolutionär. Die Kommunistische Partei wuchs auf Kosten der SPD. Ihre Mitgliederzahl stieg auf 300.000 und sie hatte die Mehrheit der sozialistisch gesinnten Arbeiter hinter sich. Doch ihre Führung zeigte sich ihren Aufgaben nicht gewachsen. Sie passte sich zeitweise nationalistischen Stimmungen an und brauchte lange, bis sie die revolutionäre Lage begriff. Erst im Sommer, als ein Generalstreik die Regierung Cuno zum Rücktritt zwang, begann sie in enger Absprache mit der Kommunistischen Internationale in Moskau einen Aufstand zu planen.
Doch als sich am 21. Oktober linke Sozialdemokraten auf einem Betriebsrätekongress in Chemnitz gegen den vorbereiteten Aufstand aussprachen, sagte ihn die KPD in letzter Minute ab. Er brach nur in Hamburg aus, wo er innerhalb von drei Tagen niedergeschlagen wurde.
Die Folgen des Scheiterns des sozialistischen Aufstands, des „deutschen Oktobers“, gingen weit über Deutschland hinaus. In der Sowjetunion, wo die Arbeiterklasse den Fortschritt der deutschen Revolution hoffnungsvoll verfolgt hatte, stärkte ihr Scheitern die konservative Bürokratie. Im selben Monat wurde die Linke Opposition gegründet, die den Kampf gegen die Bürokratie aufnahm.
Die „Lehren des Oktobers“ spielten eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung zwischen Bürokratie und Opposition. Als Trotzki in einer Broschüre dieses Titels die Lehren aus der deutschen Niederlage zog, wurde er von Stalin und seinen Verbündeten heftig angegriffen. Zehn Jahre später sollte die katastrophale Politik, die Stalin der KPD aufzwang, Hitler den Weg an die Macht bahnen.
Die neuen Bücher über das Jahr 1923 blenden die Bedeutung des „deutschen Oktobers“ und seines Scheiterns weitgehend aus. Sie tun ihn mit wenigen Zeilen ab oder stellen ihn als aussichtlosen Putschversuch einer kleinen Gruppe dar, die keinen Rückhalt unter den Massen hatte.
Auch Volker Ullrich, der dem „deutschen Oktober“ in seinem ansonsten lesenswerten Buch „Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund“ ein ganzes Kapitel widmet, gelangt zum Schluss, mit der Ablehnung der Aufstandspläne durch Vertreter der SPD in Chemnitz sei „klar zutage getreten, dass sowohl die Komintern als auch die deutschen Kommunisten die Stimmung in der Arbeiterschaft falsch eingeschätzt hatten“. Die Zentrale der KPD habe darauf „die einzig mögliche Konsequenz“ gezogen und den Aufstandsplan aufgegeben.
Der folgende Artikel, der auf einem im Sommer 2007 gehaltenen Vortrag beruht, und erstmals am 22. Oktober 2008 auf der WSWS veröffentlicht wurde, zeigt, dass dies nicht stimmt. Der „deutsche Oktober“ scheiterte nicht an der „Stimmung der Massen“, die in jeder Hinsicht revolutionär war, sondern an den politischen Fehlern und dem Zögern der KPD und der Kommunistischen Internationale unter Führung von Sinowjew, der damals eng mit Stalin verbündet war.
Der Artikel zeigt, dass für eine erfolgreiche sozialistische Revolution zwei Voraussetzungen erfüllt sein müssen: Eine objektiv revolutionäre Situation, die der Arbeiterklasse keinen anderen Ausweg mehr lässt als den Sturz des Kapitalismus, und eine revolutionäre Führung, die in der Arbeiterklasse verankert und ihren Aufgaben gewachsen ist.
* * *
1923 entwickelte sich in Deutschland eine äußerst günstige revolutionäre Gelegenheit. Die Kommunistische Partei (KPD) bereitete in enger Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Internationale einen Aufstand vor – und sagte ihn am 21. Oktober in letzter Minute ab. Trotzki sprach später von einem klassischen Beispiel, „wie man eine ganz außergewöhnliche revolutionäre Situation von welthistorischer Bedeutung verpassen kann“.[1]
Die deutsche Niederlage von 1923 hatte weitreichende Folgen: Sie ermöglichte es der Bourgeoisie, ihre Herrschaft in Deutschland zu festigen und die Lage etwa sechs Jahre lang stabil zu halten. Als 1929 die nächste große kapitalistische Krise ausbrach, war die Arbeiterklasse durch die stalinistische Führung der KPD gründlich desorientiert. Das führte zu den fatalen Ereignissen, die in der Machtergreifung Hitler gipfelten. Auf internationaler Ebene verlängerte die Niederlage des deutschen Oktobers die Isolation der Sowjetunion und trug so als wichtiger psychologischer und materieller Faktor zum Aufstieg der stalinistischen Bürokratie bei.
Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen die strategischen und taktischen Lehren aus dem deutschen Oktober, Lehren, die sich rasch zu einem heftigen Streitpunkt in der Auseinandersetzung zwischen der Linken Opposition und der Troika Stalin, Sinowjew und Kamenew entwickelten. Um diese Lehren zu verstehen, ist es notwendig, einleitend die Ereignisse des Jahres 1923 kurz zusammenzufassen.
Deutschland 1923
Alle grundlegenden Fragen, die den deutschen Imperialismus 1914 in den Ersten Weltkrieg getrieben hatten – der Zugang zu Märkten und Rohstoffen für seine dynamische Industrie, die Reorganisation Europas unter seiner Vorherrschaft – blieben 1923 ungelöst. Deutschland hatte nicht nur den Krieg verloren und hohe Verluste an Menschenleben und materiellen Ressourcen erlitten, es war durch den Versailler Vertrag auch verpflichtet worden, hohe Reparationszahlungen an seinen Hauptrivalen Frankreich und andere imperialistische Mächte zu leisten.
Die unmittelbaren Nachkriegsjahre 1918 bis 1921 waren durch eine Reihe von Aufständen geprägt, die durch die vereinten Anstrengungen der Sozialdemokratie und rechter paramilitärischer Kräfte niedergeschlagen wurden. Am 11. Januar 1923 besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet und heizten damit die politische und soziale Krise in Deutschland erneut an.
Die französische Regierung begründete die militärische Besetzung des Zentrums der deutschen Stahl- und Kohleindustrie damit, dass Deutschland seinen Reparationsverpflichtungen nicht nachgekommen sei. Die deutsche Reichsregierung – eine rechte Regierung unter dem Großindustriellen Wilhelm Cuno, die von der SPD toleriert wurde – rief zum „passiven Widerstand“ auf. In der Praxis bedeutete dies, dass die deutsche Verwaltung und die Industrie des Ruhrgebiets die Besatzungsmächte boykottierten. Die Reichsregierung zahlte die Gehälter der Verwaltung weiter und kam für die Verluste der Kohlen- und Stahlbarone auf.
Als Folge dieser gewaltigen Ausgaben und des Ausbleibens der dringend benötigten Kohle und des Stahls aus dem Ruhrgebiet stürzte der ohnehin defizitäre Staatshaushalt völlig ab. Die Inflation stieg ins Unermessliche. Zu Beginn des Jahres stand der Außenwert der inflationären deutschen Währung bei 21.000 Mark pro US-Dollar. Ende des Jahres, auf dem Höhepunkt der Inflation, war ein US-Dollar fast sechs Billionen Mark wert – eine Zahl mit zwölf Nullen!
Die Hyperinflation hatte explosive soziale und politische Folgen. Sie polarisierte die Gesellschaft wie nie zuvor. Für Arbeiter war sie existenzbedrohend. Wenn sie am Ende der Woche ihren Lohn erhielten, war er kam noch das Papier wert, auf das die hohen Summen gedruckt wurden. Die Frauen warteten am Abend vor dem Werkstor, um mit dem Gehalt zum nächsten Geschäft zu rennen, bevor das Geld am folgenden Morgen wertlos war.
Ein Beispiel: Ein Ei, das am 3. Februar noch für 300 Mark zu haben war, kostete am 5. August 12.000 Mark und drei Tage später bereits 30.000 Mark. Obwohl die Löhne an die Inflation angepasst wurden, fiel der Durchschnittslohn in Dollar gemessen im Lauf von sechs Monaten um 50 Prozent. Gleichzeitig stieg die Zahl der Arbeitslosen rasant an: Von unter hunderttausend zu Beginn des Jahres auf 3,5 Millionen Arbeitslose und 2,3 Millionen Kurzarbeiter am Ende des Jahres.
Die Arbeiter waren aber nicht die einzigen, die durch die Inflation ruiniert wurden. Wer eine Rente bezog oder sich etwas erspart hatte, war über Nacht mittellos. Viele mussten ihr Haus, ihren Schmuck, oder was sie sonst im Lauf ihres Lebens erarbeitet hatten, verkaufen, um zu überleben – nur um dann festzustellen, dass der erzielte Erlös nach wenigen Tagen nichts mehr wert war. Arthur Rosenberg, Autor der ersten maßgeblichen Geschichte der Weimarer Republik, schreibt dazu: „Die systematische Enteignung des deutschen Mittelstandes, nicht etwa durch eine sozialistische Regierung, sondern in einem bürgerlichen Staat, der den Schutz des Privateigentums auf seine Banner geschrieben hatte, ist ein beispielloses Ereignis. Es war eine der größten Räubereien der Weltgeschichte.“[2]
Auf der anderen Seite gab es eine Gruppe von Spekulanten, Schiebern und Industriellen, die sich an der Inflation hemmungslos bereicherten. Wer Zugang zu Devisen oder Gold hatte und deutsche Waren ins Ausland exportierte, konnte aufgrund der niedrigen Löhne fabelhafte Profite einstreichen. Wertgegenstände, Häuser, ganze Fabriken wechselten für ein Taschengeld den Besitzer. Diese Schichten standen hinter der Regierung Cuno. Der Bekannteste unter ihnen war der Industrielle Hugo Stinnes, der in dieser Zeit 1.300 Unternehmen aufkaufte und Milliarden verdiente. Er gehörte auch zu den wichtigsten politischen Drahtziehern.
Die Verschärfung der sozialen Gegensätze und der Zerfall des Mittelstandes hatten eine scharfe politische Polarisierung zur Folge.
Die Sozialdemokratie verlor rasch an Einfluss und Mitgliedern und durchlief einen inneren Zersetzungsprozess. Die SPD war seit dem Sturz des Kaiserregimes durch die Novemberrevolution 1918 die wichtigste Stütze der bürgerlichen Herrschaft in Deutschland gewesen. 1918 hatte sie sich mit den Spitzen der Reichswehr und paramilitärischen Freikorps verbündet, um die proletarische Revolution zu ersticken und deren bekanntesten Führer – Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht – zu ermorden. Die SPD verteidigte als einzige Partei in Deutschland bedingungslos die Weimarer Republik. Alle anderen bürgerlichen Parteien hätten eine mehr autoritäre Herrschaftsform vorgezogen. Mit Friedrich Ebert stellte die SPD den ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik. Ebert hatte dieses Amt bis zu seinem Tod im Februar 1925 inne – also auch während der gesamten Zeit, mit der sich dieser Vortrag befasst.
Die konterrevolutionäre Politik der SPD hatte viele Arbeiter abgestoßen und zur KPD gebracht. Die Gewerkschaften und mit ihnen eine Schicht konservativer Arbeiter unterstützten aber bis 1923 immer noch die SPD. Mit der Inflation änderte sich das.
Der Historiker Arthur Rosenberg (er war 1923 führendes KPD-Mitglied und wechselte später zur SPD) schreibt: „Im Verlauf des Jahres 1923 nahm die Kraft der SPD ständig ab. … Vor allem die Gewerkschaften, die stets die Hauptstütze des sozialdemokratischen Einflusses gewesen waren, befanden sich in voller Auflösung. … Millionen von deutschen Arbeitern wollten von der alten Gewerkschaftstaktik nichts mehr wissen und verließen die Verbände. Die Zersetzung der Gewerkschaften war zugleich eine Lahmlegung der SPD.“[3]
Während die Gewerkschaften zerfielen, achteten sozialdemokratische Arbeiter sorgfältig auf die Aussagen der Kommunisten. Innerhalb der SPD entwickelte sich ein linker Flügel, der zur Zusammenarbeit mit der KPD bereit war. Wie wir noch sehen werden, kam es im Oktober sowohl in Sachsen wie in Thüringen kurzfristig zu Koalitionsregierungen von SPD und KPD. Den Mitgliederverlusten und dem sinkenden Einfluss der SPD stand ein entsprechendes Wachstum der KPD gegenüber. Deren Mitgliederzahl erhöhte sich innerhalb eines Jahres von 225.000 auf 295.000.
Da zwischen 1920 und 1924 keine Reichtagswahlen stattfanden, lassen sich über den Einfluss der KPD nur schwer repräsentative Zahlen finden. Einen Hinweis geben die Wahlen in dem kleinen, ländlich geprägten Freistaat Mecklenburg-Strelitz: 1920 hatte die SPD dort 23.000 und die USPD (deren Mehrheit sich später der KPD anschloss) 2.000 Stimmen erhalten; die KPD war gar nicht angetreten. Im Sommer 1923 lagen SPD und KPD mit jeweils rund 11.000 Stimmen fast gleichauf. Im Saarland – einer ursprünglich katholisch geprägten Bergbauregion – erhöhte die KPD ihre Wählerstimmen zwischen 1922 und 1924 von 14.000 auf 39.000.
Innerhalb der Gewerkschaften wuchs der Einfluss der Kommunisten auf Kosten der SPD ebenfalls. So gewann die KPD im Sommer 1923 bei den Delegiertenwahlen zum Kongress des Deutschen Metallarbeiterverbands in Berlin 54.000 Stimmen, die SPD 22.000 und damit noch nicht einmal halb so viele. Laut Aussage eines KPD-Führers verfügte die Partei im Juni über 500 organisierte Gruppen in der 1,6 Millionen Mitglieder zählenden Gewerkschaft; 720.000 Metallarbeiter unterstützten die Kommunisten. Der Historiker Hermann Weber schreibt in seinem Buch über die Geschichte der KPD: „Das Jahr 1923 brachte … einen stetig wachsenden Einfluss der KPD, der es vermutlich zeitweise gelang, die Mehrheit der sozialistisch orientierten Arbeiter auf ihre Seite zu ziehen.“[4]
Die KPD vor 1923
Bevor wir auf die weiteren Ereignisse des Jahres 1923 eingehen, ist ein kurzer Rückblick auf die Entstehung der KPD erforderlich. Sie war 1923 alles andere als eine einheitliche, gefestigte Partei. Sie war zwar erst vier Jahre alt, hatte aber bereits große Ereignisse erlebt und mehrere Führungswechsel, Spaltungen und Zusammenschlüsse durchgemacht. Sie war von scharfen inneren Spannungen geprägt.
Die herausragende theoretische und politische Führungsfigur der KPD war zweifellos Rosa Luxemburg gewesen, die nur zwei Wochen nach dem Gründungskongress ermordet wurde – ein unersetzlicher Verlust. Luxemburg war eine Revolutionärin von außerordentlichem Mut und hoher Integrität. Ihre Schriften über den Revisionismus und ihr Kampf gegen die Rechtsentwicklung der SPD – die sie früher und deutlicher als Lenin erkannt hatte –, gehören zum Besten, was in der marxistischen Literatur geschrieben wurde.
Aber ähnlich wie Trotzki – und länger als dieser – hatte Luxemburg aus dem Verständnis des Revisionismus nicht derart konsequente organisatorische Schlussfolgerungen gezogen wie Lenin. Selbst als sie nach dem 4. August 1914 die Gruppe Internationale, den späteren Spartakusbund gründete, brach sie nicht formal mit der SPD. Nicht die Partei verlassen, sondern den Kurs der Partei ändern, lautete ihre Devise.
Auf der Zimmerwalder Konferenz von 1915 wies der Spartakusbund Lenins Aufruf für eine neue Internationale zurück, und noch im März 1919, auf dem ersten Kongress der Dritten Internationale, enthielt sich der KPD-Delegierte Hugo Eberlein bei der Abstimmung über die Gründung der neuen Internationale. Er war von der KPD beauftragt worden, die Gründung abzulehnen, wurde in Moskau aber vom Gegenteil überzeugt und enthielt sich deshalb der Stimme.
1917 gründeten Reichtagsabgeordnete, die wegen ihrer Weigerung, weiterhin für die Kriegskredite zu stimmen, aus der SPD ausgeschlossen worden waren, die Unabhängige SPD. Der Spartakusbund schloss sich dieser zentristischen Organisation als Fraktion an, obwohl zu den bekanntesten Führern der USPD neben Karl Kautsky auch Eduard Bernstein gehörte, der theoretische Kopf des deutschen Revisionismus. Luxemburg rechtfertigte den Beitritt mit dem Argument, der Spartakusbund habe sich der USPD nicht angeschlossen, um in einer rückgratlosen Opposition zu versinken. „Sie ist der neuen Partei beigetreten, um – im Vertrauen auf zunehmende Verschärfung der allgemeinen sozialen Lage und im bewussten Hinarbeiten auf sie – die neue Partei vorwärts zu drängen, ihr mahnendes Gewissen zu sein und […] die wirkliche Führerschaft der Partei zu übernehmen“, schrieb sie.[5]
Im Gegensatz zum Spartakusbund weigerte sich die von Karl Radek und Paul Frölich, Luxemburgs späterem Biografen, geführte Bremer Linke, der USPD beizutreten. Sie bezeichnete dies als Zeitverschwendung. Luxemburg griff sie deshalb scharf an. Sie brandmarkte ihr Eintreten für eine Unabhängige Partei als „Kleinküchensystem“ und schrieb: „Schade, dass dieses einzig richtige Kleinküchensystem die Hauptsache vergisst, nämlich die objektiven historischen Verhältnisse, die letzten Endes für das Verhalten der Massen ausschlaggebend sind und sein werden. […] Es genügt nicht, dass eine Handvoll Leute das beste Rezept in der Tasche hat und schon weiß, wie man die Massen führen soll. Diese Massen müssen geistig den Traditionen der 50jährigen Vergangenheit entrissen, von ihnen befreit werden. Und das können sie nur im großen Prozess ständiger schärfster innerer Selbstkritik der Bewegung im ganzen.“[6]
Erst im Dezember 1918, einen Monat nachdem drei USPD-Führer in eine provisorische Regierung unter den SPD-Führern Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann eingetreten waren, brach der Spartakusbund mit der USPD. Die Regierung Ebert wurde zum Henker der Novemberrevolution. Sie verbündete sich bald mit der militärischen Führung. Die USPD hatte ihre Aufgabe erfüllt und wurde nicht länger benötigt. Am Ende des Jahres, inmitten heftiger revolutionärer Kämpfe, gründeten der Spartakusbund, die Bremer Linke und einige weitere linke Organisationen dann schließlich die KPD.
Die späte Gründung einer wirklich revolutionären, von den Sozialdemokraten und Zentristen unabhängigen Partei erklärt zum Teil, weshalb es in Deutschland zu Beginn der zwanziger Jahre so viele ultralinke Strömungen gab. Der Verrat der SPD – erst 1914 mit der Unterstützung des Weltkriegs und dann 1918 mit der blutigen Niederschlagung der Revolution – löste eine scharfe Reaktion unter Arbeitern aus, die sich in Ermangelung einer entschlossenen, den Bolschewiki vergleichbaren Organisation verschiedenen Formen des Linksradikalismus oder sogar des Anarchismus zuwandten. Dieses Problem sollte die KPD noch lange quälen.
Auf dem Gründungsparteitag befand sich Luxemburg in der Frage der Teilnahme an den Wahlen in der Minderheit. Die Mehrheit lehnte jede parlamentarische Arbeit ab. Und außerhalb der Partei gab es viele weitere ultralinke Tendenzen. Im April 1920 brach der linke Flügel nach einem bewaffneten Arbeiteraufstand an der Ruhr von der Partei und bildete die KAPD, die ultralinke, antiparlamentarische und anarchistische Vorstellungen vertrat. Die KAPD nahm einen beträchtlichen Teil der Mitgliedschaft mit – einigen Quellen zufolge sogar die Mehrheit. Sie zerfiel allerdings rasch, da sie über kein schlüssiges Programm verfügte. Die Komintern bemühte sich erfolgreich darum, die gesunden Teile der KAPD zurück zu gewinnen, und lud sie sogar zu einem ihrer Kongresse ein.
Am meisten profitierte 1919 allerdings die USPD von der Linksentwicklung der Arbeiterklasse. 1920 gewann sie bei den Reichtagswahlen 5 Millionen Stimmen. Die SPD erhielt mit 6 Millionen Stimmen nur wenig mehr, die KPD lediglich 600.000.
Die USPD war eine klassische zentristische Partei. Die Führung bewegte sich nach rechts und traf sich dabei mit Arbeitern, die sich nach links bewegten. Viele USPD-Anhänger bewunderten die Sowjetunion, und die rechten Führer der USPD waren zunehmend isoliert. Mit seinen 21 Beitrittsbedingungen vertiefte der Zweite Kongress der Komintern die Gegensätze innerhalb der USPD. Im Dezember 1920 schloss sich die Mehrheit schließlich der KPD an – oder der Vereinigten KPD, wie sie nun für einige Zeit hieß. Die Minderheit ging später in die SPD zurück. Der Zusammenschluss mit der USPD erhöhte die Mitgliederzahl der KPD um ein Fünffaches und verwandelte sie in eine Massenpartei. Aber die neuen Mitglieder brachten auch viele Probleme der Vergangenheit und die zentristischen Traditionen der USPD mit sich.
1921 rief ein gescheiterter Aufstand in Mitteldeutschland – die sogenannte Märzaktion – in der KPD eine neue Krise hervor. Weil die Reichsregierung Polizeieinheiten zur Entwaffnung der Arbeiter in die Fabriken geschickt hatte, riefen KPD und KAPD zum Generalstreik und zum Sturz der Reichsregierung auf. Der Aufstand war eindeutig verfrüht. Er endete mit einer blutigen Niederlage. In den Kämpfen und der anschließenden blutigen Repression fanden ungefähr 2.000 Arbeiter den Tod. Paul Levi, eine enger Freund Rosa Luxemburgs und wichtiger Führer der Partei, der – richtigerweise – von Anfang an gegen den Aufstand eingetreten war, reagierte, indem er die Partei öffentlich angriff. Er wurde schließlich ausgeschlossen und fand seinen Weg zurück in die Sozialdemokratie.
Die deutschen Märzereignisse standen im Mittelpunkt der Debatte des Dritten Kominternkongresses, der vom 22. Juni bis zum 21. Juli 1921 in Moskau stattfand. Trotzki bezeichnete den Kongress später als „Wegweiser“ und fasste seine Bedeutung mit den Worten zusammen: „Er stellte fest, dass die Mittel der Kommunistischen Parteien, politisch wie auch organisatorisch, für eine Eroberung der Macht nicht ausreichten. Er stellte die Parole auf: ‚Heran an die Massen‘, d.h. an die Eroberung der Macht durch die vorhergehende Eroberung der Massen in ihrem täglichen Leben und Kampf. Denn die Masse lebt auch in einer revolutionären Epoche ihr Alltagsleben, wenn auch auf etwas andere Art und Weise.“[7]
Der Dritte Kongress trat für Übergangsforderungen, die Taktik der Einheitsfront und die Forderung nach einer Arbeiterregierung ein, um das Vertrauen von Arbeitern zu gewinnen, die weiterhin die Sozialdemokraten unterstützten. Er beharrte auf der Notwendigkeit, innerhalb der Gewerkschaften zu arbeiten. Das stieß auf den erbitterten Widerstand von linken und ultralinken Strömungen innerhalb der KPD, die für die sogenannte „Offensivtheorie“ eintraten und jede Form von Kompromiss, von parlamentarischer und von Gewerkschaftsarbeit ablehnten. Sie wurden von Bucharin unterstützt, dem späteren Führer der rechten Opposition, der für eine „ununterbrochene revolutionäre Offensive“ eintrat. In Antwort auf diese Strömungen verfasste Lenin seine Schrift „Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“.
Studiert man die damaligen Auseinandersetzungen, fällt auf, dass Lenin und Trotzki extrem geduldig mit den unterschiedlichen Strömungen der KPD umgingen. Sie bemühten sich, zu erziehen, zu erklären, zu konsolidieren und verfrühte Spaltungen zu vermeiden. Sie zügelten Heißsporne auf der Linken und auf der Rechten, die ihre Gegner ausschließen wollten. Sie versuchten Levi in der Partei zu halten, bis sein provokatives Benehmen dies unmöglich machte. Während des Dritten Kongresses diskutierten sie stundenlang im kleinen Kreis mit den verschiedenen KPD-Fraktionen. Sie blieben unnachgiebig gegenüber den Linksradikalen, waren sich aber auch eines konservativen Elements in der Parteiführung bewusst, auf das diese Linken reagierten. Anders gesagt: Lenin und Trotzki waren bemüht, eine ausgeglichene, erfahrene Führung zu entwickeln, die mit Widersprüchen umgehen und rasch auf veränderte Umstände reagieren konnte. Sie standen damit in deutlichem Gegensatz zu den Methoden, welche die Komintern später unter Stalin entwickeln sollte.
Der Ruhrkampf
Eineinhalb Jahre nach dem Dritten Kominternkongress waren die Konflikte innerhalb der KPD nicht wirklich gelöst. Als französische Truppen die Ruhr besetzten, entbrannte der Streit zwischen der Führungsmehrheit und der linken Opposition wieder mit voller Kraft. Es gab Differenzen über den Kurs, der im besetzten Ruhrgebiet verfolgt werden sollte, und über die Frage, ob die KPD eine linke SPD-Regierung in Sachsen unterstützen solle.
An der Spitze der KPD stand nun Heinrich Brandler, ein Gründungsmitglied des Spartakusbunds. Während viele frühere Linke scharf nach rechts geschwenkt waren, hatte sich unter der Führung von Ruth Fischer, Arkadi Maslow und – in geringerem Maße – Ernst Thälmann ein neuer linker Flügel herausgebildet. Fischer und Maslow waren junge Intellektuelle, die der Bewegung erst nach dem Krieg beigetreten waren. Hinter ihnen stand die Mehrheit der einflussreichen Berliner Organisation. Thälmann war Arbeiter und durch die USPD zur KPD gestoßen. Er führte die Partei in Hamburg.
Am 10. Januar fiel die SPD-Regierung in Sachsen und die KPD warb für eine Einheitsfront und eine Arbeiterregierung. Während die Mehrheit der SPD eine Koalition mit bürgerlichen Parteien bevorzugte, trat eine linke Minderheit für ein Bündnis mit der KPD ein. Die KPD führte eine energische Kampagne für ein „Arbeiterprogramm“, das neben anderen die folgenden Forderungen enthielt: Beschlagnahmung des Eigentums der früheren königlichen Familie, Bewaffnung der Arbeiter, Säuberung der Justiz, der Polizei und der Verwaltung, Einberufung eines Betriebsrätekongresses und Kontrolle der Preise durch gewählte Komitees.
Dieses Programm fand in der SPD Unterstützung, wo der linke Parteiflügel schließlich die Mehrheit gewann. Die SPD akzeptierte das „Arbeiterprogramm“ mit einer Ausnahme: der Auflösung des Parlaments und der Einberufung eines Betriebsrätekongresses. Auf dieser Grundlage bildete die SPD eine Regierung, die von der KPD unterstützt wurde.
Die KPD-Führung und Radek, der mittlerweile eine Führungsfunktion in der Komintern ausübte, unterstützten diesen Schritt. Die KPD-Linke lehnte ihn dagegen entschieden ab. In ihren Augen war die Unterstützung der sächsischen Regierung kein zeitweiliger taktischer Schritt, um sozialdemokratische Arbeiter zu gewinnen, sondern eine politische Anpassung an die linken Sozialdemokraten, die sie als ebenso verräterisch wie die rechten einschätzten. Ihr Misstrauen war nicht unbegründet, wie die späteren Ereignisse zeigen sollten: Am 21. Oktober blies Brandler den vorbereiteten Aufstand ab, weil ihn die linken Sozialdemokraten nicht unterstützten.
An der Ruhr, wo sich die SPD uneingeschränkt hinter die Kampagne des „passiven Widerstands“ der Cuno-Regierung stellte, distanzierte sich die KPD hingegen deutlich von ihr. Die Cuno-Regierung ihrerseits arbeitete mit paramilitärischen, heimlich von der Reichswehr unterstützten Gruppen und mit faschistischen Banden zusammen, die sie zu Sabotageakten gegen die französischen Besatzer ermutigte. Aus ganz Deutschland strömten rechte und faschistische Kräfte an die Ruhr, mit denen sich die SPD in einer faktischen Allianz wieder fand.
Die KPD wandte sich gegen den Nationalismus der SPD und verurteilte ihn scharf. Sie sah darin eine Wiederholung ihrer Haltung im Jahr 1914, als die SPD die Kriegskredite für den Ersten Weltkrieg unterstützt hatte. Die KPD rief zum Kampf gegen die französischen Besatzer und die Berliner Regierung auf. Eine Schlagzeile der Roten Fahne lautete: „Schlagt Poincaré an der Ruhr und Cuno an der Spree“. Diese Linie fand ihre Bestätigung, als Arbeiter gegen die unerträglichen sozialen Zustände rebellierten und gegen die Besatzer, die örtlichen Unternehmer und die Berliner Regierung gleichermaßen protestierten.
Doch bald mischten sich die Führer der KPD-Linken ein und agitierten auf Parteiversammlungen an der Ruhr. Ruth Fischer verlangte, die KPD solle die Arbeiter zur Übernahme der Betriebe und Bergwerke, zur Ergreifung der politischen Macht und zur Errichtung einer Arbeiterrepublik an der Ruhr aufrufen. Diese Arbeiterrepublik werde dann „die Basis sein, von der aus eine Arbeiterarmee nach Mitteldeutschland marschieren, die Macht in Berlin ergreifen und ein- für allemal die nationalistische Gegenrevolution erledigen sollte“.[8]
Das war ein abenteuerlicher Kurs, vergleichbar mit der Märzaktion von 1921. Ein Aufstand an der Ruhr wäre isoliert geblieben, da es im übrigen Deutschland keine Vorbereitungen zu seiner Unterstützung gab. Außerdem wimmelte es im Ruhrgebiet von paramilitärischen und faschistischen Kräften und die französische Besatzungsarmee hätte einem proletarischen Aufstand kaum ruhig zugesehen. Die französischen Besatzer verfolgten zwar die Streiks mit einer gewissen Sympathie, solange sie sich gegen die deutsche Regierung richteten, aber ein proletarischer Aufstandsversuch wäre eine völlig andere Sache gewesen.
Als die Fraktionskämpfe innerhalb der KPD immer bitterer wurden, lud Sinowjew, der Sekretär der Komintern, beide Seiten nach Moskau ein, wo ein Kompromiss erzielt wurde. Die Komintern erklärte sich mit der Unterstützung der sächsischen SPD-Regierung durch die KPD einverstanden, kritisierte aber Formulierungen, die andeuteten, es handle sich um mehr als um eine zeitweilige Taktik. Fischers Pläne für die Ruhr wies sie zurück.
Die einstimmig verabschiedet Kompromissresolution enthält keinerlei Hinweise, dass sich die Kominternführung über das wachsende Tempo der Ereignisse in Deutschland bewusst war und Schlussfolgerungen daraus zog. Es heißt darin im Gegenteil: „Die Differenzen in der Partei haben zur Grundlage den langsamen Gang der revolutionären Entwicklung in Deutschland und die durch ihn erzeugten objektiven Schwierigkeiten, die aus der Partei rechte wie linke Abweichungen erzeugen.“[9]
Der Schlageterkurs
Im Juni führte Radek einen neuen Schwenk ein, der die ohnehin verwirrte KPD noch weiter desorientierte – den Schlageterkurs.
Die KPD hatte sich seit einiger Zeit Sorgen über das Anwachsen des Faschismus in Deutschland gemacht. Im Oktober 1922 hatte Mussolini in Italien die Macht übernommen, nachdem seine bewaffneten Stoßtrupps, die Fasci, eine Terrorkampagne gegen Arbeiterorganisationen und militante Arbeiter geführt hatten.
In Deutschland war die extreme Rechte bisher auf Überreste der kaiserlichen Armee und kleine antisemitische Parteien beschränkt geblieben. Doch 1923 begann sie zu wachsen und ihre soziale Basis zu verbreitern, allerdings noch nicht in dem Ausmaß wie später in den dreißiger Jahren. Die Agitation gegen die „Novemberverbrecher“, gegen Juden und Ausländer fand Resonanz unter deklassierten kleinbürgerlichen Elementen und einigen verarmten Arbeitern, die unter den Auswirkungen der Inflation litten. Insbesondere Bayern mit seinen weiten ländlichen Gebieten entwickelte sich zur Hochburg der extremen Rechten. Nach der blutigen Unterdrückung der Münchner Räterepublik 1919 hatte es sich zu einer Brutstätte nationalistischer, faschistischer und paramilitärischer Organisationen verwandelt.
An der Ruhr stellten sich Mitglieder der extremen Rechten als heroische Kämpfer gegen die französische Besatzung dar. Am 7. April verhaftete die französische Armee in Düsseldorf Albert Schlageter, ein Mitglied der Freikorps, weil er sich an einem Bombenanschlag auf eine Eisenbahnlinie beteiligt hatte. Er wurde von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und am 26. Mai hingerichtet. Die Rechten machten aus ihm sofort einen Märtyrer.
Im Juni schlug Radek auf einer Sitzung der Exekutive der Komintern (EKKI) vor, die KPD solle sich dieser Kampagne anschließen und sich an den Nationalismus der Faschisten anpassen, um von ihnen verführte Arbeiter und kleinbürgerliche Elemente auf ihre Seite zu gewinnen. Die kleinbürgerlichen Massen, Intellektuellen und Techniker, die eine große Rolle in der Revolution spielen würden, befänden sich im nationalen Gegensatz zum Kapitalismus, behauptete Radek. Um als Arbeiterpartei den Kampf um die Macht zu führen, müsse man Zugang zu diesen Massen finden. Die KPD dürfe dieser Verantwortung nicht ausweichen, sondern müsse deutlich machen, dass nur die Arbeiterklasse die Nation retten kann.
Im späteren Verlauf des Treffens pries Radek Schlageter dann als „mutigen Soldaten der Konterrevolution“, der es verdiene, „von uns Soldaten der Revolution männlich-ehrlich gewürdigt zu werden“. „Die Geschicke dieses Märtyrers des deutschen Nationalismus sollen nicht verschwiegen, nicht mit einer abwerfenden Phrase erledigt werden“, rief Radek. „Wir werden alles tun, dass Männer wie Schlageter, die bereit waren, für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden.“[10]
Der Schlageterkurs wurde von der Roten Fahne aufgegriffen und war wochenlang das beherrschende Thema. Sie verwirrte die einfachen Parteimitglieder, die dem nationalistischen Druck bisher widerstanden hatten. Dagegen gibt es keinerlei Hinweise, dass er die Reihen der Faschisten geschwächt hätte – abgesehen von einigen nationalbolschewistischen Wirrköpfen, die sich der KPD anschlossen und ihr eine Menge Ärger bereiteten, bevor sie sie wieder los wurde. Die Schlageter-Kampagne lieferte der SPD Munition für eine antikommunistische Kampagne und erschwerte es der französischen Kommunistischen Partei, unter den französischen Soldaten im Ruhrgebiet Solidarität mit den deutschen Arbeitern zu organisieren.
Die Cuno-Streiks
Während Radek den Schlageterkurs entwickelte, verschärfte sich der Klassenkampf in Deutschland. Im Juni und Juli brachen im ganzen Land Unruhen und Streiks gegen die hohen Preise aus. Oft beteiligten sich Hunderttausende daran, darunter viele Arbeiter, die noch nie zuvor an einem Arbeitskampf teilgenommen hatten. So traten Anfang Juni 100.000 schlesische Landarbeiter und 10.000 brandenburgische Tagelöhner in den Ausstand.
Am 8. August forderte Kanzler Cuno vor dem Reichstag weitere Opfer und Einsparungen und stellte die Vertrauensfrage. Die SPD versuchte, ihm die nötige Mehrheit zu verschaffen, indem sie sich der Stimme enthielt. Doch ausgehend von Berlin entwickelte sich eine spontane Welle von Streiks, die den Rücktritt der Regierung Cuno forderte.
Am 10. August lehnte eine Versammlung führender Gewerkschafter unter dem Druck der SPD einen Generalstreik ab. Nun ergriff ein von der KPD eilig zusammengerufener Betriebsrätekongress die Initiative und rief zum Generalstreik auf. Rund 3,5 Millionen Arbeiter befolgten den Aufruf. In mehreren Städten kam es zu blutigen Kämpfen mit der Polizei mit mehreren Dutzend Toten. Am folgenden Tag trat die Regierung Cuno zurück.
Die bürgerliche Herrschaft hing in der Luft. „Es hat nie in der neueren deutschen Geschichte einen Zeitabschnitt gegeben, der für eine sozialistische Revolution so günstig gewesen wäre wie der Sommer 1923,“ schreibt Rosenberg.[11] Vorerst rettete die SPD die bürgerliche Herrschaft. Gegen erheblichen Widerstand in den eigenen Reihen trat sie einer Koalitionsregierung unter Gustav Stresemann von der großkapitalistischen Deutschen Volkspartei (DVP) bei.
Vorbereitung der Revolution
Erst nach den Cuno-Streiks vom August wurde der KPD und der Komintern klar, welch revolutionäre Gelegenheit sich in Deutschland entwickelte. Nun änderten sie ihren Kurs. Am 21. August – exakt zwei Monate bevor Brandler den Aufstand absagen sollte – entschied das Politbüro der russischen Kommunistischen Partei, eine Revolution in Deutschland vorzubereiten. Es bildete eine „Kommission für internationale Angelegenheiten“, die sich mit der Arbeit in Deutschland befasste. Sie bestand aus Sinowjew, Kamenew, Radek, Stalin, Trotzki und Tschitscherin. Später kamen noch Dscherschinski, Piatakow und Sokolnikow hinzu.
Währen der nächsten Tage und Wochen ab es zahlreiche Diskussionen und eine ständige Korrespondenz mit den Führern der KPD, die häufig nach Moskau reisten. Es gab finanzielle, logistische und militärische Unterstützung zur Bewaffnung der proletarischen Hundertschaften, die in den vorangegangenen Monaten gebildet worden waren. Im Oktober wurden Radek, Piatakow und Sokolnikow nach Deutschland gesandt, um den Aufstand zu unterstützen.
Vor allem Trotzki bemühte sich unermüdlich, den Fatalismus und die Selbstzufriedenheit zu überwinden, die sowohl in der deutschen Sektion wie in der russischen Partei grassierten. Stalin hatte noch am 7. August – einen Tag vor Ausbruch der Cuno-Streiks – an Sinowjew geschrieben: „… für uns ist es von Vorteil, wenn sie [die Faschisten] als erste angreifen. … Meiner Meinung nach muss man die Deutschen zurückhalten und nicht ermuntern.“ Trotzki dagegen bestand darauf, dass der Aufstand im Laufe weniger Wochen, und nicht Monaten, vorbereitet und ein Zeitpunkt dafür festgelegt werden müsse.[12]
Was auf den ersten Blick wie ein organisatorischer Vorschlag aussah – die Festlegung eines Zeitpunkts für den Aufstand –, war in Wirklichkeit eine hochpolitische Frage. Nach Trotzkis Auffassung bestand nun die wichtigste Aufgabe darin, die gesamte Energie und Aufmerksamkeit der Partei auf die praktische Vorbereitung der Revolution zu konzentrieren. Von einer eher allgemeinen, propagandistischen Vorbereitung musste sie zur praktischen Vorbereitung des Aufstands übergehen.
Am 21. August argumentierte er auf einem Treffen des Politbüros der russischen Partei: „Was die Stimmung der revolutionären Massen Deutschlands betrifft, das Gefühl, dass sie sich auf dem Weg zur Macht befinden – eine solche Stimmung gibt es. Hier stellt sich aber die Frage der Vorbereitung. Das revolutionäre Chaos darf nicht abgesegnet werden. Die Frage lautet – entweder die Revolution entfachen oder sie organisieren.“ Trotzki warnte vor der Gefahr, dass die hervorragend organisierten faschistischen Banden unkoordinierte Aktionen der Arbeiter zerschlagen könnten, und forderte: „Die KPD muss eine Frist setzen, in der man sich vorbereitet, in militärischer Hinsicht und – in entsprechendem Tempo – in der politischen Agitation.“[13]
Dem widersetzte sich am heftigsten Stalin. Er lehnte einen Zeitplan ab und behauptete, „die Arbeiter glauben noch an die Sozialdemokratie“ und die Regierung halte noch acht Monate durch.[14]
Auch Brandler setzte sich in einem Brief an die Exekutive der Komintern vom 28. August für einen längeren Vorbereitungszeitraum ein. „Die Lebensdauer der Stresemannregierung wird nicht allzu groß sein“, schrieb er. „Trotzdem glaube ich nicht daran, dass die nächste Welle, die bereits im Anzug ist, schon die Machtfrage entscheidet. … wir versuchen, unsere Kräfte so zusammenzureißen, dass wir, wenn wir nicht ausweichen können, in 6 Wochen den Kampf aufnehmen können, gleichzeitig stellen wir uns aber so ein, dass wir mit solider Arbeit in einem Zeitraum von fünf Monaten fertig sind.“ Er fügte hinzu, dass er eine Frist von sechs bis acht Monaten für wahrscheinlich halte.[15]
Einen Monat später kam Trotzki in einer weiteren Diskussion zwischen der russischen Kommission und der deutschen Führung auf die Frage des Zeitplans zurück. Er unterbrach eine Diskussion über die Ruhrfrage und sagte, er verstehe nicht, warum man sie so oft berühre. „Es gilt jetzt, die Macht in Deutschland zu ergreifen. Das ist die Aufgabe, alles andere wird sich daraus ergeben.“
Er ging dann auf Bedenken ein, die deutsche Arbeiterklasse sei nur bereit, für ökonomische, nicht aber für politische Ziele zu kämpfen. „Die politischen Hemmungsprozesse sind nichts anderes als gewisse Zweifel, durch Niederlagen geschaffen, im Gehirn der Massen hinterlassen“, sagte er. „Aber die deutsche Arbeiterklasse für den entscheidenden revolutionären Kampf bekommen – und die Situation ist jetzt da –, kann die Partei nur, glaube ich, in dem Falle, wenn sie große Schichten der Arbeiterklasse, ihre führenden Schichten, überzeugt, dass sie auch organisatorisch fähig ist, im konkretesten Sinne des Wortes sie zum Sieg zu führen. … Wenn die Partei in einer solchen Situation fatalistische Tendenzen bemerken lässt, so ist es die größte Gefahr.“
Trotzki erläuterte dann, dass der Fatalismus verschiedene Formen annehmen könne: Erstens könne man sagen, die Situation sei revolutionär, und das von Tag zu Tag wiederholen. „Man gewöhnt sich daran, und die Politik besteht darin, dass man auf die Revolution wartet.“ Dann bewaffne man die Arbeiter und sage, es müsse zum Konflikt kommen. Doch dies sei „bewaffneter Fatalismus“.
Aus den Informationen, die er von den deutschen Genossen erhalten hatte, schloss Trotzki, dass sie die Aufgabe viel zu leicht auffassten. „Aber wenn die Sache so ist, dass die Revolution nicht eine konfuse Perspektive sein soll, sondern die Hauptaufgabe ist“, sagte er, „so muss man sie zur praktischen organisatorischen Aufgabe machen. … dann heißt es, die Frist fixieren, vorbereiten und schlagen.“[16]
Am 23. September veröffentlichte Trotzki sogar einen Artikel in der Prawda, der die Überschrift trug: „Kann man eine Konterrevolution oder eine Revolution auf einen bestimmten Tag ansetzen?“ Trotzki diskutiert die Frage allgemein, ohne Deutschland zu erwähnen, da der Aufruf eines Führungsmitglieds der Sowjetunion, einen Zeitpunkt für die deutsche Revolution festzusetzen, eine internationale Krise oder sogar einen Krieg ausgelöst hätte. Dennoch ist der Artikel ein Beitrag zur Diskussion über Deutschland.
Die verpasste Revolution
Schließlich wurde ein Aufstandstermin für den 9. November ins Auge gefasst. Doch nun beschleunigten sich die Ereignisse.
Am 26. September verkündete Kanzler Stresemann das Ende des passiven Widerstands gegen die französische Ruhrbesetzung. Anders, so die Begründung, sei die rasende Inflation nicht unter Kontrolle zu bringen. Das provozierte die Wut der Ultrarechten. Die bayrische Regierung verhängte noch am selben Tag den Ausnahmezustand und errichtete eine offene Diktatur unter Ritter von Kahr. Von Kahr arbeitete mit Hitlers Nationalsozialisten zusammen und plante – nach dem Vorbild von Mussolinis Marsch auf Rom – einen Marsch auf Berlin, um eine Diktatur in ganz Deutschland zu errichten. Kahr wurde vom Kommandanten der in Bayern stationierten Reichswehrtruppen unterstützt.
Die Berliner Regierung reagierte, indem sie ihrerseits eine Art Diktatur errichtete. Sie übertrug die Exekutivgewalt im ganzen Reich dem Reichwehrminister, der sie an den Oberbefehlshaber der Reichswehr, General von Seeckt, delegierte. Seeckt sympathisierte mit der äußersten Rechten und weigerte sich, die bayrischen Kommandeure zur Ordnung zu rufen. Führende Industrielle, wie Hugo Stinnes, unterstützten deren Forderung nach einer nationalen Diktatur, wobei ihnen Seeckt selbst als Diktator vorschwebte.
Am 13. Oktober verabschiedete der Reichstag mit den Stimmen der Sozialdemokraten nach tagelangen Auseinandersetzungen ein Ermächtigungsgesetz, das die Regierung bevollmächtigte, die sozialen Errungenschaften der Novemberrevolution von 1918 (insbesondere den gesetzlichen Acht-Stunden-Tag) abzuschaffen. Während also die Gefahr eines Staatsstreichs über Berlin hing, der die sozialdemokratischen Minister und Abgeordneten das Leben kosten konnte, beschlossen diese weitere Angriffe auf die Arbeiterklasse.
Sachsen und Thüringen bildeten das Zentrum des Arbeiterwiderstands gegen diese konterrevolutionären Machenschaften. Dort trat die KPD am 10., bzw. am 16. Oktober in linke SPD-Regierungen ein. Die Regierungsbeteiligung war Teil des in Moskau ausgearbeiteten Revolutionsplans. Sie sollte der KPD einen Stützpunkt und Zugang zu Waffen verschaffen.
Obwohl beide Regierungen völlig legal gebildet worden waren und über eine parlamentarische Mehrheit verfügten, weigerte sich der Reichswehrbefehlshaber in Sachsen, General Müller, ihre Autorität anzuerkennen. In Absprache mit der Berliner Regierung unterstellte er die sächsische Polizei seiner Befehlsgewalt.
Angesichts der Bedrohung aus Bayern, das südlich an Sachsen und Thüringen angrenzt, und aus Berlin, das nördlich der beiden Länder liegt, zog die KPD ihren ursprünglich für den November terminierten Aufstandsplan vor. Für den 21. Oktober berief sie einen Betriebsrätekongress nach Chemnitz, der zum Generalstreik aufrufen und damit das Signal zum deutschlandweiten Aufstand gegen sollte.
Doch als sich die linken Sozialdemokraten widersetzten, trat der KPD-Vorsitzende Brandler den Rückzug an und sagte den Aufstand ab. Die Mehrheit der Delegierten hätte den Generalstreikaufruf unterstützt, wie Brandler in einem privaten Brief an Clara Zetkin, eine enge Vertraute, berichtete. Aber er wollte nicht ohne die Unterstützung der linken Sozialdemokraten handeln.
„Dennoch erkannte ich im Verlaufe der Chemnitzer Konferenz, dass wir den Entscheidungskampf unter keinen Umständen aufnehmen konnten, nachdem wir die linke VSPD nicht zur Unterschrift für den Generalstreikbeschluss bekommen konnten“, schrieb Brandler. „Ich habe gegen große Widerstände den Karren herumgerissen und verhindert, dass wir als Kommunisten allein den Kampf aufgenommen haben. Natürlich hätten wir auf der Chemnitzer Konferenz eine Zweidrittelmehrheit für den Generalstreik zustande gebracht. Aber die VSPD hätte teilweise die Konferenz verlassen und die Verwirrungsparolen, dass die angekündigte Reichsintervention gegen Sachsen nur eine Verschleierung der Reichsexekutive gegen Bayern darstellen sollte, hätte unserer Kampfstimmung das Genick gebrochen. Ich habe bewusst auf … diesen faulen Kompromiss hingearbeitet.“[17]
Die Entscheidung, die Revolution abzusagen, erreichte Hamburg nicht rechtzeitig. Hier fand ein Aufstand statt. Aber er blieb isoliert und wurde innerhalb von drei Tagen besiegt.
Noch während der Betriebsrätekongress tagte, begann die Reichswehr Sachsen zu besetzen. Es kam zu Schießereien mit Arbeitern, die mehrere Tote forderten. Am 28. Oktober ordnete Reichspräsident Ebert, ein Sozialdemokrat, die Reichsexekution an: Er ließ die sächsische Regierung unter Erich Zeigner, ebenfalls ein Sozialdemokrat, gewaltsam durch die Reichswehr absetzen. Die Empörung darüber war so groß, dass sich die SPD schließlich aus der Großen Koalition in Berlin zurückziehen musste. Kurz danach rückte die Reichswehr auch in Thüringen ein und erzwang den Rücktritt der dortigen Regierung.
Das Vorgehen Eberts und Seeckts gegen die linken Regierungen in Sachsen und Thüringen ermutigte die extreme Rechte in Bayern. Am 8. November rief Adolf Hitler in München die „nationale Revolution“ aus. Ziel seines Putschversuchs war es, Diktator Kahr zu einem Marsch auf Berlin zu bewegen. General Ludendorff, ein ranghoher General aus dem Ersten Weltkrieg, der Hitler unterstützte, sollte die Führung übernehmen.
Der Putsch brach schnell zusammen, da Berlin inzwischen so weit nach rechts gerückt war, dass sich die bayrischen Konservativen nicht mehr einer windigen Gestalt wie Hitler zu bedienen brauchten. Präsident Ebert kam ihnen entgegen, indem er General von Seeckt von sich aus zum Diktator ernannte. In der Nacht nach dem Putsch übertrug er ihm den Oberbefehl über alle Streitkräfte und die Ausübung der vollziehenden Gewalt. Obwohl die Institutionen der Weimarer Republik nach wie vor existierten, gab es in Deutschland bis zum März 1924 faktisch eine Militärdiktatur.
Warum die KPD die Revolution verpasste
Warum verpasste die KPD die Revolution?
Die einfachste Antwort besteht darin, die gesamte Verantwortung auf Brandler abzuschieben. So reagierten Sinowjew und Stalin, die Brandler zum Sündenbock machten. Gleichzeitig warfen sie der KPD vor, sie habe falsche Informationen über die Lage in Deutschland geliefert und die revolutionären Möglichkeiten überschätzt.
Damit stellten Sinowjew und Stalin die gesamte Einschätzung in Frage, auf der der Plan für einen revolutionären Aufstand beruht hatte. Keine drei Wochen nach Abbruch des Aufstands begannen sie damit, die deutschen Ereignisse neu zu interpretieren. Sie vertuschten damit ihre eigene Verantwortung und verfolgten fraktionelle Ziele in der Auseinandersetzung mit der Linken Opposition, die in Russland nun voll entbrannt war. Am 15. Oktober war „Die Erklärung der 46“, das erste grundlegende Dokument der Linken Opposition, veröffentlicht worden, und Ende November schrieb Trotzki „Der Neue Kurs“.
Trotzki lehnte die leichtfertige Haltung Sinowjews und Stalins ab. Er war nicht mit Brandlers Entscheidung einverstanden, den Aufstand abzublasen. Aber er betrachtete sie nicht als isolierte Tat. Schließlich hatten Radek, der als Vertreter der Komintern in Chemnitz zugegen war, und die deutsche Zentrale, das führende Parteigremium, Brandlers Entscheidung zugestimmt.
Mit der Auffassung, dass die Revolution scheitern und die Kommunisten isoliert bleiben würden, wenn sie ohne Unterstützung der linken Sozialdemokraten einen Aufstand begännen, knüpfte Brandler an frühere Fehler an, die nicht nur er, sondern auch die Komintern zu verantworten hatten.
Sowohl die von Sinowjew geführte Komintern wie die Führung der KPD (Mehrheit wie linke Minderheit) hatten lange Zeit eine passive, „zentristische“ Haltung zu den deutschen Ereignissen eingenommen. Obwohl sich die soziale und politische Lage nach der französischen Ruhrbesetzung im Januar dramatisch verändert hatte, arbeiteten sie weiter mit politischen Methoden, die in einem früheren Stadium entwickelt worden waren, als die Revolution nicht unmittelbar auf der Tagesordnung stand. Erst sehr spät, Mitte August, vollzogen sie einen Kurswechsel und begannen, den Aufstand vorzubereiten. Das gab ihnen nur zwei Monate Vorbereitungszeit, und die Vorbereitung war unkoordiniert, zögerlich und ungenügend.
Trotzki ging in einer Rede, die er im Juni 1924 vor dem fünften Allunionskongress der Heil- und Sanitätsarbeiter hielt, auf die Gründe für die deutsche Niederlage ein. „Was war die wichtigste Ursache für die Niederlage der deutschen Kommunistischen Partei?“, fragte er.
Sie verstand nicht rechtzeitig, dass mit Beginn der Ruhrbesetzung und vor allem mit dem Abbruch des passiven Widerstands (Januar bis Juni 1923) eine revolutionäre Krise entstand. Sie verpasste den entscheidenden Moment […] Sie setzte nach dem Ausbruch der Ruhrkrise ihre agitatorische und propagandistische Arbeit auf der Grundlage der Einheitsfrontlosung fort – im selben Tempo und in den selben Formen wie vor der Krise. Inzwischen war diese Taktik aber völlig unzureichend. Der Einfluss der Partei wuchs von selbst. Eine abrupte taktische Wende war notwendig.
Man musste den Massen und vor allem der Partei selbst zeigen, dass es diesmal um die unmittelbare Vorbereitung der Machtergreifung ging. Es war notwendig, den wachsenden Einfluss der Partei organisatorisch zu festigen und Stützpunkte für einen direkten Angriff auf den Staat zu schaffen. Es war notwendig, die gesamte Parteiorganisation auf die Grundlage von Betriebszellen zu stellen. Es war notwendig, Zellen bei der Eisenbahn aufzubauen. Es war notwendig, in aller Schärfe die Frage der Arbeit in der Armee aufzuwerfen. Es war notwendig, besonders notwendig, die Einheitsfronttaktik voll und ausschließlich auf diese Aufgaben auszurichten, ihr ein entschiedeneres und festeres Tempo und einen ausgeprägten revolutionären Charakter zu verleihen. Auf dieser Grundlage hätte die militärisch-technische Arbeit entwickelt werden müssen […]
Die wichtigste Aufgabe aber bestand darin, rechtzeitig für die entscheidende taktische Wende in Richtung Machteroberung zu sorgen. Das wurde versäumt. Darin bestand das maßgebliche und verhängnisvolle Versäumnis. Daraus ergab sich der grundlegende Widerspruch. Einerseits erwartete die Partei eine Revolution, andererseits wich sie, weil sie sich bei den Märzereignissen [von 1921] die Finger verbrannt hatte, bis in die letzten Monate des Jahres 1923 dem Gedanken aus, eine Revolution zu organisieren, d.h. einen Aufstand vorzubereiten. Während die entscheidenden Fragen der Lösung zudrängten, entwickelte sich die politische Tätigkeit der Partei im Friedenstempo. Der Zeitpunkt für den Aufstand wurde festgelegt, als der Feind die von der Partei verlorene Zeit bereits genutzt und seine Stellung gestärkt hatte. Die militärisch-technische Vorbereitung der Partei, begonnen in fieberhaftem Tempo, fand getrennt von der politischen Aktivität der Partei statt, die sich im bisherigen Friedenstempo weiter entwickelte. Die Massen verstanden die Partei nicht und hielten nicht Schritt mit ihr. Die Partei merkte, dass sie von den Massen getrennt war, und reagierte gelähmt. Daraus ergab sich der plötzliche, kampflose Rückzug aus einer erstklassigen Stellung – die schlimmste aller Niederlagen.[18]
Wäre es im Oktober 1923 überhaupt möglich gewesen, einen erfolgreichen revolutionären Aufstand durchzuführen?
Es gibt mehrere Berichte von führenden deutschen Kommunisten und in Deutschland anwesenden Kominternführern und Militärexperten, die auf einen sehr schlechten Vorbereitungsstand hinweisen. Kampfabteilungen – die so genannten „Revolutionären Hundertschaften“ – waren zwar organisiert und ausgebildet worden, aber sie verfügten kaum über Waffen. Der Propagandaapparat der KPD war durch Verbote und Unterdrückung geschwächt und befand sich in einem trostlosen Zustand. Die Verbindung und Zusammenarbeit zwischen den Parteiregionen funktionierte sehr schlecht.
Andererseits legten die in Hamburg kämpfenden Arbeiter ein außerordentliches Maß an Mut, Disziplin und Wirksamkeit an den Tag. Auf den Barrikaden kämpften nur 300 Arbeiter, aber sie fanden eine breite, positive, wenn auch weitgehend passive Resonanz unter breiten Bevölkerungsschichten.
In seiner Rede vor den Heil- und Sanitätsarbeitern betonte Trotzki, dass man die Dynamik der Revolution mit berücksichtigen müsse. „Stand die Mehrheit der arbeitenden Massen hinter den Kommunisten?“, fragte er. „Diese Frage kann nicht mithilfe von Statistiken beantwortet werden. Es ist eine Frage, die durch die Dynamik der Revolution entschieden wird.“
„Waren die Massen kampfbereit?“ fuhr Trotzki fort. „Die gesamte Geschichte des Jahres 1923 lässt in dieser Hinsicht keinen Zweifel.“ Er schloss: „Unter diesen Umständen hätten die Massen nur vorwärts gehen können, wenn es eine feste, selbstbewusste Führung und Vertrauen der Massen in diese Führung gegeben hätte. Debatten darüber, ob die Massen kampfbereit waren oder nicht, sind äußerst subjektiv und bringen in erster Linie das mangelnde Selbstvertrauen der Parteiführer zum Ausdruck.“[19]
Lehren des Oktober
Die kampflose Kapitulation war das denkbar schlechteste Ergebnis der deutschen Ereignisse. Sie demoralisierte und desorganisierte die KPD und verschaffte der herrschenden Elite und dem Militär die Möglichkeit, in die Offensive zu gehen und ihre Herrschaft zu konsolidieren. Trotzki beharrte deshalb darauf, die Lehren aus der deutschen Niederlage rücksichtslos zu ziehen. Er war strikt dagegen, die Verantwortung auf einzelne Sündenböcke abzuladen – denn das war nur eine andere Art, den grundlegenden politischen Fragen auszuweichen. Die Lehren dienten nicht nur dazu, die deutsche Führung auf zukünftige revolutionäre Gelegenheiten vorzubereiten, die sich unweigerlich ergeben würden. Sie waren auch für alle anderen Sektionen der Komintern von großer Bedeutung, die vor ähnlichen Herausforderungen und Problemen stehen würden.
Trotzki machte darauf aufmerksam, dass die Lehren aus der russischen Oktoberrevolution – der einzigen erfolgreichen proletarischen Revolution in der Weltgeschichte – noch nie gründlich gezogen worden waren. Im Sommer 1924 veröffentlichte er die Schrift „Lehren des Oktober“, die im Lichte der deutschen Niederlage auf den erfolgreichen russischen Oktober eingeht.
Trotzki betonte, dass es nötig sei, die „Gesetze und Methoden der proletarischen Revolution“ zu studieren. Es gebe Fragen, vor denen jede revolutionäre Partei stehe, wenn sie in eine revolutionäre Periode eintrete: „Die Krisen innerhalb der Partei treten im allgemeinen bei jedem ernsten Wendepunkt der Entwicklung der Partei als Vorbote oder Folgeerscheinung derselben auf. Das erklärt sich daraus, dass jede Entwicklungsperiode der Partei ihre eigenen charakteristischen Züge trägt und die Arbeit nach bestimmten Methoden und Gepflogenheiten geleistet wird. Eine taktische Neuorientierung bedeutet immer einen Bruch mit den bisherigen Methoden und Gepflogenheiten. Hier liegt die nächste und unmittelbarste Ursache zu allen innerparteilichen Reibungen und Krisen.“
Trotzki zitierte Lenin, der im Juli 1917 geschrieben hatte: „Zu oft ist es vorgekommen, dass bei jähen geschichtlichen Ereignissen selbst die fortgeschrittensten Parteien längere Zeit gebraucht haben, sich in die neue Lage hineinzufinden, alte Losungen wiederholt haben, die gestern richtig waren, aber heute jeden Sinn verloren und zwar so ‚jäh‘ verloren haben, wie die geschichtliche Wendung ‚jäh‘ eintraf.“
„Hierdurch erwächst die Gefahr,“ folgerte Trotzki,
kommt der Umsturz sehr plötzlich und hat die vorhergehende Periode viele konservative Elemente in den führenden Organen der Partei angesammelt, so wird sie sich im entscheidenden Moment als unfähig erweisen, ihre Führerrolle zu erfüllen, zu der sie sich im Laufe vieler Jahre und Jahrzehnte vorbereitet hat. Die Partei wird von Krisen zersetzt, die Bewegung geht an ihr vorüber – zur Niederlage. […]
Die gewaltigste Umstellung ist aber die, wenn die proletarische Partei von der Vorbereitung, der Propaganda, der Organisation, der Agitation übergeht zum unmittelbaren Kampf um die Macht, zum bewaffneten Aufstand gegen die Bourgeoisie. Alles, was in der Partei vorhanden ist an unentschlossenen, skeptischen, opportunistischen, menschewistischen Elementen, erhebt sich gegen den Aufstand, sucht für seine Opposition nach theoretischen Formeln und findet sie – bei den gestrigen Feinden – den Opportunisten. Diese Erscheinung werden wir noch öfter beobachten können.[20]
Sinowjew und Stalin lehnten Trotzkis Einschätzung ab. Motiviert durch fraktionelle und subjektive Motive verfälschten sie die deutschen Ereignisse, verwischten sie ihre eigenen Spuren und machten Brandler zum Sündenbock für alles, was schief gelaufen war. Die Folgen waren katastrophal. Die Führung der KPD wurde zum fünften Mal in fünf Jahren ausgewechselt, ohne dass irgendwelche Lehren gezogen wurden.
Wie Radek während einer heftigen Auseinandersetzung mit Stalin auf einer Plenarsitzung des russischen Zentralkomitees im Januar 1924 hervorhob, wurde ein erfahrener marxistischer Kader durch Leute ersetzt, deren Hintergrund entweder die zentristische USPD war oder die überhaupt keine revolutionäre Erfahrung hatten. Brandler, ein Gründungsmitglied des Spartakusbunds mit einer 25-jährigen Geschichte in der Bewegung, wurde durch Ruth Fischer und Arkadi Maslow ersetzt, zwei junge Intellektuelle aus reichem, bürgerlichen Elternhaus ohne jegliche revolutionäre Vergangenheit. Die Mittelgruppe, die jetzt die Mehrheit der Führung bildete, war der KPD erst im Dezember 1920 beigetreten, als sich die linke Mehrheit der zentristischen USPD mit der KPD zusammenschloss.
Stalins Verbindung mit Fischer und Maslow war besonders zynisch, da er während der Ereignisse stets die rechtesten Standpunkte vertreten hatte. Stalin gewann Maslows Unterstützung – gegen den eine Untersuchung lief, weil er 1921 während der Märzaktion angeblich Informationen an die Polizei gegeben hatte –, indem er dafür sorgte, dass die Anklagen gegen ihn fallen gelassen wurden.
Das Auswechseln der Führung sowie weitere Säuberungen und Ablösungen in den folgenden Jahren sollten schließlich zur vollständigen Unterordnung der KPD unter das Diktat Stalins führen. Das hatte katastrophale Folgen, als die verheerende Linie der KPD Hitler zehn Jahre später den Weg an die Macht ebnete. Die damals vorherrschende Theorie des Sozialfaschismus, die Sozialdemokratie und Faschisten gleichsetzt, war zum ersten Mal in einem Dokument über die deutschen Ereignisse von 1923 aufgetaucht, das von Sinowjew verfasst und gegen den Widerstand der Linken Opposition im Januar 1924 von der EKKI verabschiedet wurde. Darin heißt es: „Die leitenden Schichten der deutschen Sozialdemokratie sind im gegenwärtigen Moment nichts anderes als eine Fraktion des deutschen Faschismus unter sozialistischer Maske.“[21]
Nachdem es die Partei versäumt hatte, rechtzeitig von der Einheitsfrontaktik zum Kampf um die Macht überzugehen, lehnten Sinowjew und Stalin die Einheitsfronttaktik insgesamt ab. Die Theorie des Sozialfaschismus, die jede Form der Einheitsfront mit der SPD gegen die Nazis ablehnte, wurde 1929 neu belebt und entwaffnete die Arbeiterklasse im Kampf gegen den Faschismus.
Zum Abschluss seien die wichtigsten Lehren aus dem Deutschen Oktober in Trotzkis Worten noch einmal zusammengefasst. In „Die Dritte Internationale nach Lenin“ schrieb er:
Die Rolle des subjektiven Faktors kann in einer Periode der langsamen organischen Entwicklung eine durchaus untergeordnete bleiben. Dann entstehen solche lauen Sprichwörter, wie: „Wer langsam fährt, kommt auch zum Ziel“ und „Man kann mit dem Kopf nicht durch die Wand rennen“ usw., welche sozusagen die ganze taktische Weisheit einer organischen Epoche zusammenfassen, die kein „Überspringen einer Etappe“ verträgt. Sobald aber die objektiven Voraussetzungen herangereift sind, wird der Schlüssel zu dem ganzen historischen Prozess in die Hand des subjektiven Faktors, d.h. der Partei gelegt. Der Opportunismus, der bewusst oder unbewusst im Geiste der Vergangenheit lebt, neigt immer dazu, die Rolle des subjektiven Faktors, d.h. die Bedeutung der Partei und der revolutionären Führung zu unterschätzen. Das alles trat in den Diskussionen über die Lehren des deutschen Oktober, des anglo-russischen Komitees und der chinesischen Revolution klar zutage. In allen diesen, wie auch anderen, weniger bedeutsamen Fällen äußerte sich die opportunistische Tendenz darin, dass sie sich lediglich auf die „Massen“ verließ und die Frage der „Spitze“, der revolutionären Führung völlig vernachlässigte. Eine solche Einstellung, die überhaupt falsch ist, wirkt sich in der imperialistischen Epoche direkt vernichtend aus.[22]
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[1] Leo Trotzki, Lehren des Oktober, Dortmund 1978, S.14
[2] Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt am Main: Athenäum 1988, S. 395
[3] ebd. S.402
[4] Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus, Band 1, Frankfurt 1969, S.43
[5] Rosa Luxemburg, Rückblick auf die Gothaer Konferenz, in Gesammelte Werke Band 4, Berlin 1974, S.273
[6] Ebend. S.274
[7 Leo Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Essen 1993, S.100
[8] Ruth Fischer, ‚Stalin und der deutsche Kommunismus‘, Frankfurt am Main, S. 310
[9] ‚Resolution zu den Differenzen in der KPD‘, in ‚Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung‘, Reihe II, Band 7/2, Teil 2, S. 302 (9)
[10] Die Rote Fahne, 26. Juni 1923
[11] Arthur Rosenberg, op.cit., S. 401
[12] Bernhard H. Bayerlein u.a. Hsg., ‚Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern‘, Berlin 2003, S. 100
[13] ebd. S. 122
[14] ebd. S. 124
[15] ebd. S. 135-136
[16]ebd. S. 165-167
[17] ebd. S. 359-360 (unsere Hervorhebung)
[18] Leon Trotsky, Through What Stage Are We Passing, in The Challenge of the Left Opposition (1923-25), Pathfinder Press 1975, p. 170-171 (aus dem Englischen)
[19] ebend. S.169
[20] Leo Trotzki, ‚Lehren des Oktober‘, http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1924/lehren/einleit.htm
[21] Bernhard H. Bayerlein u.a. Hsg., ibid., S. 464
[22] Leo Trotzki, ‚Die Dritte Internationale nach Lenin‘, Essen 1993, S. 96-97
#Titelbild: Reichsexekution gegen Sachsen, die Reichswehr geht in Freiberg gegen KPD-Mitglieder vor [Photo by Bundesarchiv, Bild 102-00189 / CC BY-SA 3.0]
Quelle: wsws.org… vom 21. Oktober 2023
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitswelt, Deutsche Revolution, Deutschland, Faschismus, Gewerkschaften, Politische Ökonomie, Russische Revolution, Sozialdemokratie, Stalinismus, Strategie
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