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Zur Bedeutung des britischen Bergarbeiterstreiks 1984/85

Eingereicht on 24. Juni 2024 – 16:35

Dossier. Als die ehemalige britische Premierministerin Margret Thatcher am 8.4. 2013 starb, hat er auf die SMS „Thatcher tot“ nicht wie üblich pflichtschuldiges Bedauern geäußert, sondern nur lapidar geantwortet „Scargill lebt“. Die Rede ist von Arthur Scargill, in den 1980er Jahren der legendäre Führer der britischen  Bergarbeitergewerkschaft NUM (National Union of Mineworkers) und erbitterter Thatcher-Gegner. Heute ist Arthur Scargill 80 Jahre alt geworden. Die britischen Bergarbeiter haben ihren einjährigen Kampf (1984/85) gegen Privatisierung und Zechenschließungen trotz ihres großen Engagements und ihres enormen Kampfeswillen am Ende verloren. Daran konnten auch die gewerkschaftlichen Solidaritätsbewegungen mit den streikenden Bergleuten in anderen Ländern nichts ändern…“ Artikel von Helmut Schneider vom 11.1.2016 Siehe auch zum Thema:

  • Der britische Miners’ Strike stand für die große Niederlage im letzten Gefecht der Arbeiter*innenklasse. 40 Jahre später wissen wir: Das letzte Gefecht war er nicht – aber was dann?

„Reenactment, das ist die Nachstellung eines historischen Ereignisses, häufig einer Schlacht. (…) Der 18. Juni 1984 gilt als Schlüsselereignis des britischen Miners’ Strike. Und der wiederum gilt als Schlüsselereignis für die westliche Arbeiter*innenbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Im März 1984 hatte die große Auseinandersetzung um die Kohleminen des Vereinigten Königreiches begonnen, fast genau ein Jahr später wurde sie beendet – mit einer Niederlage für die Arbeiter, die mit den Zechenschließungen ihre Jobs verloren und den Erniedrigungen überlassen wurden, die der verkümmernde britische Sozialstaat für sie bereithielt. Damit allerdings waren sie in diesen Jahren wahrlich nicht allein. Berühmt, auch über die Grenzen des Landes hinaus, wurde ihr Streik, weil er bereits für Zeitgenoss*innen die Aura eines »letzten Gefechtes« besaß. Bis heute gilt der Miners’ Strike als epochemachend – das Fiasko der britischen Kumpel war ein Fest für den Neoliberalismus, den Strukturwandel, es besiegelte das Ende der alten Arbeit, das Ende des Klassenkampfes, also: das Ende der Geschichte. (…) Heute wissen wir, dass das nicht stimmt. Dass Margaret Thatchers Sieg über die National Union of Mineworkers (NUM), die Gewerkschaft der Bergarbeiter, zwar eine, zweifellos sehr wichtige Etappe für die Herrschenden, aber keineswegs das Ende des Klassenkampfes war. Global ohnehin nicht, da die Klasse der Lohnabhängigen heute so groß ist wie noch nie in der Geschichte der Menschheit und der Kapitalismus die Klassenauseinandersetzung in sich trägt wie die Wolke den Regen. Aber auch nicht in den USA, wo sich 1981 gewissermaßen der Vorläuferstreik des britischen Bergarbeiterstreiks abgespielt hatte, jener der Fluglots*innen, mit dessen Niederringen Ronald Reagan seiner britischen Kollegin Thatcher vorausgeeilt war. Heute ist klar, »the defeat« war brutal, aber nicht endgültig – seit einigen Jahren schon erlebt die US-Arbeiter*innenbewegung ein Comeback, auch wenn der Weg freilich weit und beschwerlich ist. Und selbst im Vereinigten Königreich, wo die Gewerkschaften als unwiederbringlich bezwungen galten, sind sie zurück: 2023 gab es dort in verschiedenen Sektoren die größten und längsten Streiks seit der Thatcher-Ära. (…) Und wie sieht es mit der Gegenwart und ihrem Verhältnis zu 1984/85 aus? Das lässt sich in zehn Jahren bestimmt viel besser sagen. Aber zweierlei scheint mir doch wichtig festzuhalten. Erstens: Wo es 2001 ein Reenactment zur Versöhnung oder Revanche brauchte, weil die Erfahrung der ohnmächtig machenden Niederlage noch frisch war, da sind die Originalereignisse und sogar die Re-Inszenierung heute historisch. Nicht, weil die Zeitzeug*innen nicht mehr unter uns wären, nein. Sondern weil ihre Erfahrungen nicht mehr die alles Bestimmenden sind. Sogar wer zur Zeit des Reenactments geboren wurde, ist heute ein*e junge*r lohnabhängig Beschäftigte*r – und hat 2023 möglicherweise schon selbst gestreikt. Zweitens: Diese jungen Lohnabhängigen erfahren dann, was vielleicht die allerwichtigste Lehre ist, die auch heute noch vom großen Kampf der Kumpel gültig bleibt, nämlich dass Streiks lebensverändernd sein können. Marsha Marshall beispielweise, die auf einem der Bilder hier zu sehen ist und 2009 starb, war 1984, als der Arbeitskampf begann, Hausfrau, hatte bereits zwei erwachsene Kinder und ihre Heimat noch nie verlassen. Während des Streiks wurde sie Organisatorin der Gruppe Women Against Pit Closures (WAPC), in der sich Ehefrauen der Bergarbeiter zusammengeschlossen hatten. Als WAPC-Vertreterin reiste Marsha Marshall fortan nicht nur durch das gesamte Vereinigte Königreich, hielt Reden, warb um Unterstützung und stand plötzlich im regen Austausch mit bekannten Feministinnen. Sie besuchte nun auch mehrere europäische Länder und sprach beispielsweise vor 4.000 Gewerkschafterinnen in Italien. Das Leben von Marsha Marshall hat sich durch diesen Arbeitskampf verändert und in gewisser Hinsicht verbessert – auch wenn er in der Niederlage endete. Wie Rosa Luxemburg das mal zitiert hat: Ein mit Kraft und Solidarität geführter Streik ist immer unverloren. Ganz egal, wie aktuell oder unaktuell der Miners‘ Strike also heute noch ist: In den Leben derer, die dabei waren, lässt es sich noch erkennen – das Glimmen der Geschichte.“ Artikel von Nelli Tügel in ak 705 vom 18. Juni 2024 („Das Glimmen der Geschichte“)

  • The Enemy within: Der gescheiterte Bergarbeiterstreik 1984/85 hat Großbritannien zum Schlechten verändert – bis heute
    „Als Magret Thatcher, britische Premierministerin von 1979 bis 1990, im April 2013 starb, löste dies mancherorts weniger Anteilnahme als bittere Freude aus. Dies galt besonders dort, wo Belegschaften im großen Bergarbeiterstreik von 1984/85 ein Jahr lang hartnäckig gegen die beabsichtigten Grubenstilllegungen gekämpft, schwer gelitten und letztlich verloren hatten. Für diese Menschen war und blieb Thatcher ein Feindbild, ja ein Hassobjekt, war für sie die Frau, die ihnen Lebensgrundlage, Gemeinschaft, Würde und Organisationsmacht genommen hatte. Wie fast jede Personalisierung in Geschichte und Politik ist auch diese verkürzt, doch trifft sie in einem ungewöhnlich hohen Maße zu. Thatcher selbst hatte die Feindlogik in ihrer Sprache und Politik verfolgt, so in der berüchtigten Phrase vom «inneren Feind» («The enemy within»), der zu besiegen sei, so wie zuvor der «äußere Feind» Argentinien 1982 bei der Rückeroberung der Falkland-Inseln. Die unwiderrufliche Schwächung der Gewerkschaftsbewegung war ein wesentliches Ziel der «konservativen Revolution» Margret Thatchers (1925-2013). Die besonders militante Bergarbeitergewerkschaft NUM (National Union of Mineworkers) unter ihrem ebenso charismatischen und radikalen wie autoritären Präsidenten Arthur Scargill (geboren 1938) war ein naheliegendes Feindbild für Thatcher. (…) Die Arbeiter:innenbewegung hat auch aus manchen Niederlagen Erfahrungen gesammelt und Fähigkeiten gelernt, die die Niederlagen überdauert haben. Der Streik von 1984/85 hätte diesbezüglich manches aufzuweisen gehabt, doch hat die nahezu totale Niederlage der NUM dieses Lernen aus einer Niederlage nicht zugelassen. Der forcierte Niedergang der Kohleindustrie hat nicht nur die von ihr geprägten Regionen und Gemeinschaften, sondern auch eine Gewerkschaftsbewegung zerstört, die Stärke besaß und Selbstbewusstsein vermittelte. Die Streikenden des langen Jahres 1984/85, ihre Familien und Unterstützer:innen haben es gleichwohl verdient, für ihren bewundernswerten, ja heroischen Kampf erinnert zu werden. Die Zeiten der Kohle und anderer fossilen Energieträger kommen – zu spät – an ihr Ende. Diese Zeiten zu romantisieren wäre falsch. Arrogant und dumm wäre es aber, die erkämpften ökonomischen, sozialen und politischen Errungenschaften dieser Phase der industriellen Arbeiter:innenbewegung gering zu schätzen. Wir stehen auf ihren Schultern, auf den Schultern auch derjenigen, die 1984 und 1985 zwölf bittere Monate lang in England, Wales und Schottland für ihr ökonomisches Überleben, ihre Gemeinschaften, ihre Organisationsmacht und ihre Selbstachtung gestreikt haben.“ Beitrag von Florian Weis vom 7. März 2024 bei der RLS mit vielen weiterführenden Hinweisen
  • Besonders interessant im Artikel von Helmut Schneider vom 11.1.2016 : „… Die Solidaritätskampagne mit den britischen Miners hatte etwa in Deutschland eine erstaunliche Resonanz, aber sie musste gegen den hinhaltenden Widerstand der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschafsführungen namentlich der IG Bergbau und der IG Metall durchgesetzt werden, nur unterstützt von führenden Funktionären der damals noch selbständigen IG Druck und Papier. Aber den Export von Streikbrecherkohle nach Großbritannien konnte auch diese  Solidaritätsbewegung nicht verhindern. (…) Im Rückblick zeigt sich: Der britische miner’s strike wie auch zwei Jahre später der Kampf um Rheinhausen gehören zu den letzten großen gewerkschaftlichen Abwehrkämpfen in Europa gegen den Durchmarsch von Neoliberalismus und Finanzkapitalismus, die sich seitdem weitgehend ungebremst entfalten konnten…“

Siehe dazu im LabourNet-Archiv:

Quelle: labournet.de… vom 24. Juni 2024

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