Die Nato-Erklärung und die tödliche Strategie der Neokonservativen
Jeffrey Sachs. Um der Sicherheit Amerikas und des Weltfriedens willen sollten die USA das neokonservative Streben nach Vorherrschaft sofort zugunsten von Diplomatie und friedlicher Koexistenz aufgeben.
Im Jahr 1992 ist der außenpolitische Exzeptionalismus der USA explodiert. Die USA haben sich immer als eine außergewöhnliche Nation betrachtet, die dazu bestimmt ist, die Führungsrolle in der Welt zu übernehmen. Der Niedergang der Sowjetunion im Dezember 1991 überzeugte eine Gruppe engagierter US-Ideologen – die als Neokonservative bekannt wurden –, dass die USA nun die Welt als unangefochtene und einzige Supermacht beherrschen sollten.
Trotz unzähliger außenpolitischer Katastrophen durch die Politik der Neokonservativen treibt die Nato-Erklärung 2024 diese Agenda noch weiter auf die Spitze und damit die Welt näher an den Rand eines Atomkriegs.
Wer sind und was wollen die Neokonservativen?
Die Neokonservativen wurden ursprünglich von Richard Cheney angeführt, dem US-Verteidigungsminister von 1992. Jeder US-Präsident seither – Clinton, Bush, Obama, Trump und Biden – hat die neokonservative Agenda der US-Hegemonie verfolgt und die USA in endlose Kriege ihrer Wahl, darunter in Serbien, Afghanistan, im Irak, in Syrien, Libyen und der Ukraine verwickelt. Ebenso haben sie die Osterweiterung der Nato rücksichtslos durchgeführt, trotz eines klaren Versprechens der USA und Deutschlands an den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow im Jahr 1990, dass die Nato keinen Zentimeter nach Osten vorrücken würde.
Die Kernidee der Neokonservativen ist, dass die USA militärische, finanzielle, wirtschaftliche und politische Dominanz über jeden potenziellen Rivalen in jedem Teil der Welt besitzen sollten. Diese Vorstellung richtet sich vor allem gegen rivalisierende Mächte wie China und Russland und bringt die USA daher in direkte Konfrontation mit ihnen.
Die amerikanische Hybris ist dabei verblüffend: Der größte Teil der Welt will nicht von den USA beherrscht werden, geschweige denn von einem US-Staat, der eindeutig von Militarismus, Elitedenken und Habgier angetrieben wird.
„Projekt für ein neues amerikanisches Jahrhundert“
Der neokonservative Plan für die militärische Vorherrschaft der USA wurde im Projekt für ein neues amerikanisches Jahrhundert dargelegt.
Der Plan beinhaltet eine rücksichtslose Nato-Osterweiterung und die Umwandlung der Nato von einem Verteidigungsbündnis gegen eine inzwischen untergegangene Sowjetunion in ein Offensivbündnis, das zur Förderung der US-Hegemonie genutzt wird.
Die US-Rüstungsindustrie ist der wichtigste finanzielle und politische Unterstützer der Neokonservativen. Die Rüstungsindustrie begann die Lobbyarbeit für die Nato-Osterweiterung in den 1990er Jahren. Joe Biden war von Anfang an ein überzeugter Neokonservativer, zuerst als Senator, dann als Vizepräsident und jetzt als Präsident.
Um das Ziel der Vorherrschaft zu erreichen, stützen sich die neokonservativen Pläne
- auf CIA-Regimewechsel-Operationen und
- von den USA vom Zaun gebrochene und geführte Kriege,
- auf US-Militärstützpunkte in Übersee (derzeit gibt es rund 750 Auslandsstützpunkte in mindestens 80 Ländern),
- auf die Militarisierung fortschrittlicher Technologien (Biokriegsführung, künstliche Intelligenz, Quantencomputer usw.) und
- einen umfassenden Einsatz der Informationskriegsführung.
Die hegemonialen Bestrebungen der USA haben die Welt dazu gebracht, dass jetzt in der Ukraine ein offener Krieg zwischen den beiden führenden Atommächten der Welt, Russland und den Vereinigten Staaten tobt.
Dieser wurde provoziert durch die unerbittliche Entschlossenheit der USA, die Nato trotz des erbitterten Widerstands Russlands auf die Ukraine auszudehnen, sowie durch die Beteiligung der USA am gewaltsamen Putsch auf dem Maidan (Februar 2014), der eine neutrale Regierung stürzte, und durch die Untergrabung des Minsk-II-Abkommens durch die USA, das die Autonomie der ethnisch-russischen Regionen in der Ostukraine festgelegt hatte.
Nato ein Verteidigungsbündnis?
In der jüngsten Nato-Erklärung wird die Nato als Verteidigungsbündnis bezeichnet, aber die Fakten sagen etwas ganz anderes.
Die Nato hat wiederholt offensive Aktionen durchgeführt, einschließlich Regimewechsel-Operationen. 1999 wurde Serbien bombardiert, um diese Nation in zwei Teile zu spalten, wobei die Nato eine wichtige Militärbasis in der abtrünnigen Region Kosovo errichtete.
Auch hat die Nato in vielen Kriegen der USA eine wichtige Rolle gespielt. Zum Beispiel wurde die Nato-Bombardierung Libyens dazu benutzt, um die Regierung von Muammar Gaddafi zu stürzen.
Streben der USA nach Hegemonie heute wahnhaft
Das Streben der USA nach Hegemonie, das schon 1992 arrogant und unklug war, ist heute absolut wahnhaft, da die USA eindeutig mit mächtigen Rivalen konfrontiert sind, die in der Lage sind, mit den USA auf dem Schlachtfeld, bei der Stationierung von Atomwaffen und bei der Produktion und dem Einsatz fortschrittlicher Technologien zu konkurrieren.
Chinas BIP (Bruttoinlandprodukt) ist heute rund 30 Prozent größer als das der USA, gemessen an internationalen Preisen, und China ist der weltweit kostengünstigste Produzent und Lieferant vieler wichtiger grüner Technologien, darunter Elektrofahrzeuge, 5G, Photovoltaik, Windkraft, modulare Kernkraft und andere.
Chinas Produktivität ist inzwischen so groß, dass sich die USA über Chinas “Überkapazitäten” beschweren.
Traurig und alarmierend ist, dass die Nato-Erklärung die neokonservativen Wahnvorstellungen wiederholt.
Trägt Russland die alleinige Verantwortung für den Ukraine-Krieg?
In der Nato-Erklärung wird fälschlicherweise behauptet, dass “Russland die alleinige Verantwortung für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine trägt”, trotz der Provokationen der USA, die zum Ausbruch des Krieges schon im Jahre 2014 geführt haben.
Die NATO-Erklärung bekräftigt Artikel 10 des NATO-Washingtoner Vertrags, wonach die NATO-Osterweiterung Russland nichts angeht. Dennoch würden die USA niemals akzeptieren, dass Russland oder China eine Militärbasis an der US-Grenze (etwa in Mexiko) errichten, wie es die USA erstmals 1823 in der Monroe-Doktrin erklärten und seitdem immer wieder bekräftigt haben.
Biowaffenforschung soll weitergeführt werden
Die Nato-Erklärung bekräftigt das Engagement der Nato für Bioverteidigungstechnologien, obwohl es immer mehr Beweise dafür gibt, dass die US-Ausgaben für die Bioverteidigung durch die NIH die Laborproduktion des Virus finanziert haben, das die Covid-19-Pandemie verursacht haben könnte.
Weitere Stationierung von antiballistischen Raketen
In der Nato-Erklärung wird die Absicht verkündet, weiterhin antiballistische Aegis-Raketen zu stationieren (wie sie es bereits in Polen, Rumänien und der Türkei getan hat), obwohl der Rückzug der USA aus dem ABM-Vertrag und die Stationierung von Aegis-Raketen in Polen und Rumänien die nukleare Rüstungskontrollarchitektur zutiefst destabilisiert haben.
Kein Interesse an einem Verhandlungsfrieden in der Ukraine
In der Nato-Erklärung wird keinerlei Interesse an einem Verhandlungsfrieden für die Ukraine bekundet.
Stattdessen wird der “unumkehrbare Weg zur vollständigen euro-atlantischen Integration, einschließlich der Nato-Mitgliedschaft”, bekräftigt. Doch Russland wird die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine niemals akzeptieren, so dass die “unumkehrbare” Verpflichtung eine unumkehrbare Verpflichtung zum Krieg ist.
Die Washington Post berichtet, dass Biden im Vorfeld des Nato-Gipfels ernsthafte Bedenken hatte, einen “unumkehrbaren Weg” zur NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zu versprechen, doch Bidens Berater wischten diese Bedenken beiseite.
Weltuntergangsuhr steht auf 90 Sekunden vor Mitternacht!
Die Neokonservativen haben unzählige Katastrophen für die USA und die Welt verursacht, darunter mehrere gescheiterte Kriege, eine massive Steigerung der US-Staatsverschuldung, die durch Billionen von Dollar verschwenderischer und kriegsbedingter Militärausgaben angetrieben wurde, und die zunehmend gefährliche Konfrontation der USA mit China, Russland, dem Iran und anderen Staaten.
Die Neokonservativen haben die Weltuntergangsuhr auf nur 90 Sekunden vor Mitternacht (Atomkrieg) gebracht, verglichen mit 17 Minuten im Jahr 1992.
Diplomatie und friedliche Koexistenz statt Streben nach Hegemonie
Um der Sicherheit Amerikas und des Weltfriedens willen sollten die USA das neokonservative Streben nach Hegemonie sofort zugunsten von Diplomatie und friedlicher Koexistenz aufgeben.
Leider hat die Nato mit ihrer Erklärung gerade das Gegenteil getan.
Der vorliegende Artikel mit dem Titel „The NATO Declaration and the Deadly Strategy of Neoconservatism“ erschien am 13. Juli 2024 auf der US-Website Common Dreams. Er wurde mit Erlaubnis des Autors von Klaus-Dieter Kolenda ins Deutsche übertragen und mit einigen Zwischenüberschriften versehen. Am Schluss ist noch eine kurze aktuelle Ergänzung des Übersetzers angefügt.
Kurze aktuelle Ergänzung des Übersetzers
Am Rande des Nato-Gipfels in Washington in der letzten Woche war bekannt geworden, dass die USA von 2026 an in Deutschland wieder zerstörerische Waffensysteme stationieren wollen, die weit bis nach Russland reichen sollen.
Darunter sollen Marschflugkörper vom Typ Tomahawk mit einer Reichweite von bis zu 2500 Kilometern sein, die technisch gesehen auch nuklear bestückt sein können, sowie Flugabwehrraketen vom Typ SM-6 und neu entwickelte Hyperschallwaffen.
Russland und China haben auf diese Ankündigung scharf reagiert.
Der Kreml-Sprecher Dimitrij Peskow sagte auf eine entsprechende Frage eines russischen Fernsehjournalisten: „Unser Land steht im Fadenkreuz amerikanischer Raketen in Europa. Wir haben das alles schon einmal durchgemacht“. Russland habe die Fähigkeit zur Abschreckung dieser Raketen. „Aber das potenzielle Opfer sind die Hauptstädte dieser Staaten“, fügte er hinzu.
Die IPPNW hat zu den höchst alarmierenden Plänen zur Stationierung von neuen Mittelstreckenraketen in Deutschland in einer Presseerklärung vom 17.07.2024 ebenfalls Stellung bezogen. Dort heißt es u. a.:
„Die ärztliche Friedensnobelpreisträger-Organisation IPPNW kritisiert die Beschlüsse der Nato als weitere Stufe der Eskalation und als brandgefährlich. Mit der Ankündigung der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen vom Typ Tomahawk in Deutschland sollen erstmals seit dem Abzug der atomaren Mittelstreckenraketen im Jahr 1991 im Zuge des INF-Abkommens wieder Raketen auf deutschem Boden stationiert werden.
Tomahawks können mit konventionellen oder atomaren Sprengköpfen bestückt werden. Am 1. Februar 2019 hatten die USA das INF-Abkommen zum Verzicht auf atomare Mittelstreckenraketen aufgekündigt. Zudem ist die Einrichtung eines neuen Ukraine-Kommandos in Wiesbaden ein weiterer Eskalationsschritt, der Deutschland tiefer in den Krieg hineinzieht.
Der Konflikt um die Entwicklung der sowjetischen SS-20-Raketen und der Nato-Doppelbeschluss im Jahr 1979 hatte die Welt damals an den Rand eines Atomkriegs gebracht. Wer den Krieg verhindern will, muss den Frieden vorbereiten, statt weitere Schritte in Richtung atomarer Eskalation zu gehen“, erklärt die IPPNW-Vorsitzende Dr. Angelika Claußen.
Die Verhinderung eines Atomkrieges und die Beendigung des Ukrainekrieges gehören zusammen und müssen für die Bundesregierung oberste Priorität haben.
Quelle: overton-magazin.de… vom 20. Juli 2024
Tags: Dritter Weltkrieg, Imperialismus, Russland, Strategie, Ukraine, USA
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