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Arbeiterklasse und Covid-19: Das Klassenvirus

Eingereicht on 30. September 2020 – 15:59

Vorabdruck aus: Peter Mertens: Uns haben sie vergessen. Die werktätige Klasse, die Pflege und die Krise, die kommt. Verlag am Park, Berlin 2020, 154 S., 14 Euro. Wir drucken daraus einen redaktionell gekürzten Abschnitt aus dem ersten Kapitel »Helden«. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

In Italien erkämpften vielerorts die Werktätigen selbst die Einhaltung von Coronasicherheitsvorkehrungen. Hier eine Demonstration von Beschäftigten im Gesundheitswesen (Rom, 2.7.2020)

Wenn wir etwas gelernt haben, dann dies: welche Menschen die Gesellschaft tatsächlich funktionieren lassen. Es sind nicht die überbezahlten Vorstandsvorsitzenden oder die Magnaten. Jahrelang haben sie uns erzählt, dass sie für unseren Wohlstand sorgen. Nichts davon. Es ist die werktätige Klasse, die alles am Laufen hält. Normal arbeitende Männer und Frauen. Menschen, die nie in Talkshows oder auf Meinungsseiten erscheinen, außer wenn über sie geredet wird. Die jeden Tag ihre Arbeitskraft verkaufen. Die Regale füllen. Die Lkw abladen. Die Bettlaken waschen. Die Senioren versorgen. Die Erdbeeren pflücken. Die in den Geschäften bedienen. Die Tiere in Fleischfabriken zerlegen. Die den Müll abholen, die Fabriken am Laufen halten, die Feuer löschen, die Flure putzen, die Kleinkinder versorgen … Ohne diese Menschen könnten wir in Zeiten einer Pandemie nicht überleben. Wir bekämen keine Pflege, hätten kein Essen, wären nicht sicher. Während sie sich dem Virus aussetzen, liefern sie den Beweis für die gähnende Kluft zwischen der Bewertung ihrer Arbeit auf dem Markt – ein karger Lohn – und dem Sozialwert ihrer Tätigkeit. Sie sind unverzichtbar.

Vor und nach dem Virus

Laut offiziellen Zahlen der Europäischen Union hat während der Pandemie beinahe ein Drittel der werktätigen Klasse einen »essentiellen Beruf« ausgeübt. Unterricht, Landwirtschaft und Lebensmittelbereich, Wissenschaft und Technik, Pflege und Reinigung sind die wichtigsten Sektoren, aber bei weitem nicht die einzigen.¹ »Lange Zeit dachte man, dass Roboter und Technologie die Arbeit der Menschen ersetzen würden«, sagt der Professor für Arbeitssoziologie Mateo Alaluf. »In dieser Krise haben wir festgestellt, dass menschliche Arbeit ein wesentliches Element bleibt. All diejenigen, die ganz hinten in der Lohnreihe stehen, müssen doch als erste wieder ran. Die Menschen, die am wenigsten verdienen, sorgen dafür, dass unsere Gesellschaft weiter läuft.« Der Soziologe kommt zu dem Schluss: »Die Krise hat die Ungleichheiten wieder größer und die Klassengegensätze wieder sichtbarer gemacht.«²

In den Vereinigten Staaten sind diese Gegensätze noch größer. Tausende Arbeiter in der Fastfoodbranche, Landarbeiter und Fleischverarbeiter sind dort angewiesen auf Nahrungsmittelgutscheine. Am Tag Lebensmittel verarbeiten und sich abends bei den Lebensmittelbanken in die Schlange stellen. Nicht anders ergeht es vielen Busfahrern, Putzhilfen, Lagerarbeitern, Paketdienstmitarbeitern, Müllwerkern und Haushaltshilfen. Oft sind diese Niedriglöhner die höchsten Risiken eingegangen. Als »essentielle Arbeitnehmer« sind sie an die Front geschickt worden. Um Menschen zu versorgen, zu ernähren, zu schützen. »Wir sind überhaupt nicht essentiell. Wir werden einfach geopfert. Wenn ich hier an Corona sterbe, werde ich einfach ersetzt. Ich habe keine Schutzmaske. Keine Handschuhe. Das einzige, was ich habe, ist die dumme blaue Jacke von Walmart.« Das erzählt Kassiererin Jennifer Suggs dem New Orleans Public Radio. Die Helden der Coronakrise, »die Kanaille« des Kapitalismus. In normalen Zeiten erfahren sie schamlose Ausbeutung durch Bosse und Chefs und die Missachtung der politischen Klasse.

Dann kommt »Coronavirus Disease 2019« oder kurz Covid-19, und es kommt heraus, dass es die werktätige Klasse tatsächlich gibt. Mehr noch: Sie ist unverzichtbar. Sie bringt alles zum Laufen. Sie kriegt Applaus. Die Klasse, die jeden Morgen zur Arbeit fährt, ohne sich viele Fragen zu stellen, stellt sich plötzlich sehr viele Fragen. Warum muss ich mich zwischen Gesundheit und Arbeit entscheiden? Warum kann ich nicht unter vernünftigen Bedingungen gesund arbeiten? Wie kann man behaupten, dass es zu unsicher ist hinauszugehen, außer, wenn man zur Arbeit muss? Ist es notwendig, dass ich meine Arbeit weitermache, wenn die Kurve mit der Zahl der Infizierten nach oben schießt? Warum so viele Maßnahmen gegen Versammlungen auf der Straße, während wir bei jedem Schichtwechsel mit Hunderten von Menschen durch dasselbe Tor müssen? Wir sorgen für die Gesellschaft, wer sorgt sich um uns?

Je deutlicher die Nützlichkeit der werktätigen Klasse wird, desto deutlicher auch die Nutzlosigkeit der schwätzenden Klasse. Menschen mit Status, öffentlicher Anerkennung und Beachtung in den Medien fehlt jetzt eines: ihr gesellschaftlicher Nutzwert. Der französische Soziologe Gérard Mauger urteilt scharf: »Diese Pandemie hat gezeigt, wie nutzlos die faulenzende Klasse ist, jene Klasse, die überhaupt nichts produziert, die Trader, Manager, Consultants und Berater, Kommunikationsspezialisten und all die anderen Verkäufer heißer Luft.«³

Bei den ersten Lockdown-Maßnahmen im März will Flanderns Ministerpräsident Jan Jambon, dass die Haushaltshilfen weiterarbeiten. »Man kann sich doch in den ersten Stock setzen, wenn die Putzfrau unten arbeitet«, meint er. Damit kreiert der Politiker der Nieuw-Vlaamse Alliantie (Neu-Flämische Allianz, eine Partei, die Flandern von Belgien ablösen möchte, jW) ungewollt eine klare Metapher der Gesellschaft: Während die Putzfrauen in den unteren Stockwerken weiterarbeiten müssen, zieht sich die Elite in die sicheren Ebenen zurück.

Das Zuhause ist nicht für jeden gleich. Eine kleine Wohnung ist keine Villa in Brasschaat. Vier nörgelnde Kinder in einer kleinen Wohnung sind schwieriger als die gleiche Rasselbande in einem Haus mit Garten. Die nächtliche Schlaflosigkeit aufgrund von Finanzproblemen ist bei Reichen von anderer Natur als bei jenen, die wenig oder gar nichts verdienen. Wir waren nicht gleich, bevor die Pandemie ausbrach, und während der Pandemie sind wir es genausowenig.

Während der Coronakrise wurden 44.000 Kinder (in Flandern, jW) befragt.⁴ Jedes zweite Kind erzählt, dass jetzt viel Krach zu Hause sei. Jedes zehnte Kind erlebt körperliche oder verbale Gewalt. Die Hälfte hat jetzt mehr Stress in der Schule. Jedes vierte Kind findet, dass im Haus zuviel los ist, um Schulaufgaben machen zu können, und jedes siebte Kind hat keinen Ort, an den es sich in Ruhe zurückziehen kann. Bei Familien mit finanziellen Schwierigkeiten haben 44 Prozent der Kinder niemanden, der ihnen bei den Schulaufgaben hilft. Bei ihren Altersgenossen in bessergestellten Familien sind es hingegen 21 Prozent. Die Wände verbergen viel, aber die Ungleichheit ist hart.

Risikogebiet Arbeitsplatz

Auch der Arbeitsplatz ist nicht für alle gleich. Aber der Präsident des belgischen Unternehmerverbandes VBO, Pieter Timmermans, erklärt keck: »Ich darf sogar sagen, dass der Ort, an dem man arbeitet, vielleicht sogar der sicherste Ort ist, um sich nicht zu infizieren.« Als ein verdutzter Journalist dem Chef aller Chefs vorhält, dass sich im Einzelhandel und beim Pflegepersonal Menschen auf der Arbeit angesteckt hätten, antwortet Timmermans: »Das können Sie nicht beweisen. Woher wollen Sie wissen, ob ein Arbeiter sich tagsüber auf der Arbeit angesteckt hat und nicht abends zu Hause.«⁵ Damit ist die Angelegenheit für Timmermans und die Seinen erledigt: Die Arbeit ist virussicher. Warum? Weil er es gesagt hat! Die große Coronastudie der Universität Antwerpen beweist genau das Gegenteil. Die Untersuchung von 80.000 Befragten ergab, dass die Hälfte der Ansteckungen wahrscheinlich auf der Arbeit erfolgte.⁶

Während der VBO die Produktion für sicher erklärt, haben die meisten Menschen auf der Arbeit nicht einmal genug Schutzausrüstungen. Es herrscht ein Riesenmangel an Schutzmasken und angemessener Arbeitskleidung. In vielen Sektoren ist es auch unmöglich, anderthalb Meter Abstand zu halten. Die belgische Regierungsbehörde Sciensano, welche die Daten über Covid-19 sammelt, gibt den Beruf der Coronapatienten nicht an. In Großbritannien macht der statistische Dienst das schon. Da gibt es eine höhere Sterblichkeit bei den »essentiellen Berufen«. Vor allem bei Berufen, bei denen die Menschen im Kontakt zu anderen stehen.⁷

Der Arbeitsplatz ist nicht der sichere Hafen, den die »Arbeitgeber« daraus machen wollen. Im Gegenteil. Die höchste Zahl der Todesopfer von Covid-19 finden die britischen Forscher beim Bewachungspersonal, bei Taxi- und Busfahrern, Vorarbeitern, beim Verkaufs- und Geschäftspersonal, bei Bauarbeitern und in Serviceberufen, wie beispielsweise Lieferanten an Krankenhäuser sowie Küchen- und Catering-Mitarbeiter und Kellner.⁸ »Es sind genau die Berufe, die oft am schlechtesten bezahlt werden, mit den heikelsten Arbeitsbedingungen und in prekären Stellungen«, schreiben die Forscher.⁹ Die Berufe, mit denen die höchsten Risiken verbunden sind, werden am geringsten bezahlt. Covid-19 ist auch ein Klassenvirus, mit Niedriglöhnern in der Frontlinie. »Es ist ein wichtiger Bericht. Er bestätigt, dass Covid-19 bei der Erwerbsbevölkerung weitgehend eine Berufskrankheit ist. Nicht nur für Arbeitnehmer im Pflege- und Sozialsektor, sondern auch in vielen anderen Berufen mit Kontakten zu Menschen«, erklärt Neil Pearce. Er ist Dozent für Epidemiologie und Biostatistik. Er führt aus: »Das höchste Risiko ist auf Arbeitsstellen zu finden, die einen Kontakt mit der Öffentlichkeit verlangen. Das überrascht nicht. Man muss nicht höhere Wissenschaften studiert haben, um zu verstehen, dass man als Busfahrer andauernd Kontakt mit der Öffentlichkeit hat, oft ohne die richtigen Schutzmittel. Und dass man damit ein höheres Risiko eingeht, sich mit dem Coronavirus anzustecken.«¹⁰

Eine französische Untersuchung kommt zum gleichen Schluss: geringqualifizierte Arbeiter, die in ihren Berufen häufig mit der Öffentlichkeit in Kontakt treten, sind am stärksten von diesem Virus betroffen.¹¹ Wo viele Menschen eng zusammenkommen, fühlt sich das Virus pudelwohl. Es schlägt hart zu in den dichtbevölkerten Arbeitervierteln der Großstädte, genau wie früher die Spanische Grippe, die Cholera oder die Pest. Das Virus braucht soziale Kontakte. Diese findet es schneller etwa in Hochhäusern, wo viele Menschen dicht beieinander leben, und in überbevölkerten Vierteln mit wenig Grünfläche und Raum im Freien. Oft sind es die Viertel, wo viele Werktätige der »Ersten Linie« wohnen, die auch bei der Arbeit tagtäglich mit vielen Menschen in Kontakt kommen. »Covid-19 hat wie alle Krankheiten eine stark sozialwirtschaftliche Dimension. Diese Dimension ist territorial verankert«, schließt die Pariser Professorin Nadine Levratto ihre Untersuchung.¹² Der britische Journalist Owen Jones nimmt kein Blatt vor den Mund: »Natürlich ist das Coronavirus eine Klassenangelegenheit.«¹³

Beim Ausbruch der Pandemie wurden zahlreiche Einschränkungen verhängt. In Spanien durften die Menschen das Haus nur verlassen, um dringende Einkäufe zu erledigen oder zum Arzt zu gehen. Die Polizei konnte kontrollieren, ob sie auch wirklich im Geschäft waren. Sie durfte in die Einkaufstasche schauen oder nach dem Kassenzettel fragen. In Frankreich musste man eine schriftliche Erklärung bei sich haben, wenn man das Haus verließ. Sport durfte man nur zu bestimmten Zeiten am Tag treiben. In Polen durfte man seinen Hund höchstens 1.200 Meter von zu Hause aus Gassi führen. Keinen Meter weiter. Im Park oder im Wald spazierengehen war verboten. Bei uns wurden Viertel abgesperrt, Spielplätze zugemacht, Cafés und Restaurants geschlossen und Theater und Sporteinrichtungen verriegelt. Versammlungen waren verboten. Auf eine Maßnahme mehr oder weniger kam es nicht an.

Bleib in deiner Bude! Das ist unsere Bürgerpflicht. Außer wenn es um Großbetriebe geht. Dann ist alles viel schwieriger. Dann muss man wahrscheinlich doch nicht zu Hause bleiben. Als ob Arbeitsplätze keine Versammlungsräume wären. Um die Kapitalisten nicht zu verärgern, darf bei uns der Lockdown nicht mal so genannt werden. Am Freitag, den 13. März, dem Tag, an dem die ersten Maßnahmen ergriffen wurden, erklärte der Ministerpräsident Jan Jambon im Radio: »Ich würde es ausdrücklich nicht Lockdown nennen.«

Selbst ist der Arbeiter

Als das Virus auf italienischem Boden Fuß fasst, beginnt ein erbitterter Kampf um Covid-19 am Arbeitsplatz. Einerseits der Tod durch das Virus, auf der anderen Seite der wirtschaftliche Schaden durch einen Lockdown. Das eine wird dem anderen gegenübergestellt. Eine makabre Buchführung von zwei Realitäten. Die Gesundheit der Menschen einerseits – die Warenwirtschaft, wohlgemerkt eine Schöpfung der Menschheit, andererseits. Die mächtigen Padroni, die Eigentümer der Großbetriebe, fordern: Die Produktion muss komplett weiterlaufen. Sie erhalten auch Unterstützung von der extremen Rechten, die – wenn es hart auf hart kommt – immer die Kapitalisten unterstützt.

Die italienische Fernsehserie »Gomorrha« nach dem Bestseller von Roberto Saviano ist hart und rauh, stellenweise widerlich. Der Autor ist schon vieles von der italienischen Mafia gewohnt. Aber was er beim Ausbruch der Pandemie erlebt, übertrifft alles: »In Italien war die stärkste und reichste Region am wenigsten bereit, gegen die Pandemie zu kämpfen. Die Verantwortlichen dort haben Entscheidungen getroffen, für die sie sich früher oder später verantworten müssen. Sie haben verhindert, dass Arbeiter zu Hause blieben. Sie haben sie gezwungen, zwischen ihrem Leben und der Arbeit zu wählen. Das hat diese massive Ansteckungswelle verursacht. Mit einer unvorstellbar hohen Zahl an Todesopfern in der Folge. Wir haben es hier mit einer Region zu tun, wo die herrschende Klasse beschlossen hat, sich ›nicht aufhalten zu lassen‹. Wo sie sich der Gefahr eines Massakers bewusst war und wo sie dieses ›Pokerspiel‹ bewusst gewagt hat.« (Le Monde, 12.4.2020)

Doch man ist zu Beginn der Pandemie überhaupt nicht bereit, auch nur einen Teil der Wirtschaft »einer aus dem Ruder gelaufenen Grippe zu opfern«. Man rechnet mit der Herdenimmunität. Ja sicher, es werden einige Menschen sterben. Aber das passiert dann schnell, und die wirtschaftlichen Folgen sind nicht so verheerend. Erst als deutlich wird, dass die Öffentlichkeit das Massensterben in den überlasteten lombardischen Krankenhäusern nicht tolerieren wird und das medizinische Personal immer lauter gegen dieses unmenschliche Selektieren protestiert, erst als es bereits viel zu spät ist, um die Übersterblichkeit zu vermeiden, erst dann wird ein Teil der Wirtschaft mal kurzfristig heruntergefahren.

Selbst dann versuchen die Interessengruppen der Großunternehmen weiterhin, ihre Branche auszunehmen. Die US-amerikanische Botschaft in Italien setzt sich dafür ein, dass die Leonardo-Fabriken im italienischen Cameri am Höhepunkt des Lockdown produzieren. Es sei unerlässlich, F-35-Kampfflugzeuge zu bauen, während sämtliche Coronakurven nach oben schießen. Anderswo strecken die Autolobbyisten ihre Tentakel aus, um die Produktion von Fahrzeugen als eine wesentliche menschliche Aktivität zu gewährleisten.

In vielen Sektoren haben die Arbeiter selbst auf den Pausenknopf der Produktion gedrückt. »Non siamo carne da macello« – wir sind kein Schlachtvieh. Mit dieser Begründung legten Zigtausende italienische Arbeiter die Arbeit nieder. Auf unserer digitalen Feier des 1. Mai (der belgischen Partei der Arbeit, jW) ist Francesca Re David zu Gast, die Frau an der Spitze der italienischen Metallarbeiter. Sie erzählt: »Die Metallarbeiter waren die ersten, die es beschlossen haben: Stopp mit der Produktion unter unsicheren Umständen. Die verbindlichen Maßnahmen gegen Corona außerhalb der Fabrik müssen auch in der Fabrik gelten. Das heißt: mindestens anderthalb Meter Abstand garantieren und für jeden Arbeiter ausreichend Schutzmaterial vorhalten. Wir haben für unsere Sicherheit gestreikt. Zuerst lokal, bei Fiat zum Beispiel. Danach national. Bis die Industrie nachgegeben hat und ein Protokoll unterzeichnete. Erst dann hat die Regierung eingegriffen. Sie hat letztlich beschlossen, alle nicht essentiellen Betriebe stillzulegen. Das alles haben wir selbst erzwingen müssen.«

Unter dem Druck der Arbeiterbewegung schließen die nicht-essentiellen Betriebe, so kommt ein Teil der Wirtschaft zum Stillstand. In unserem Land zwingen die Arbeiter von Audi in Brüssel, Volvo Trucks in Gent und Safran Aero Boosters in Lüttich die Geschäftsleitung, die Produktion zeitweilig einzustellen. In Frankreich darf Amazon France laut richterlichem Beschluss nur noch essentielle Produkte versenden. Der Betrieb muss die Gewerkschaften bei der Risikoanalyse auf der Arbeit einbeziehen, so entscheidet das Gericht.

Kaum sind die Maßnahmen eingeführt, da beginnt auch schon der Streit, sie wieder aufzuheben. Konservative Kolumnisten wie Thomas Friedman in der New York Times (19.5.2020) führen sofort die Kampagne gegen die Lockdown-Vorschriften an. »Die machen keinen Sinn, denn gegen Mutter Natur kann man nicht gewinnen«, heißt es. Und: »Wir müssen aufpassen, dass das Heilmittel nicht schlimmer wird als die Krankheit selbst.«

In Deutschland hört man genau die gleiche Platte. »Geld oder Leben« titelt die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 26. März, kaum vier Tage nach Einführung der Kontaktbeschränkungen. Die Zeitung ärgert sich, dass »die Regierung jetzt vor allem dem Rat der Virologen folgt«. Man stelle sich vor: Wissenschaft vor Wirtschaft! Die Zeitung schließt: »Präsident Donald Trump und der ehemalige Manager von Goldman Sachs, Alexander Dibelius, haben in den letzten Tagen deutlich gemacht, dass sie den Preis für die Schutzmaßnahmen zu hoch finden. Die Medizin ist jetzt schlimmer als die Krankheit, so sieht auch Trump es.« »Wir müssen aufpassen, dass das Heilmittel nicht schlimmer wird als die Krankheit selbst.« US-Präsident Trump wiederholt diese Phrase gebetsmühlenartig. In Flandern imitiert der regierende Bürgermeister von Antwerpen, Bart De Wever, ihn mit dem gleichen Satz.

Den ganzen Monat April hauen uns Belgiens Premierministerin Sophie Wilmès und Flanderns Ministerpräsident Jan Jambon vier »Neu«-Wörter um den Ohren: neu aufnehmen, neu starten, neu ankurbeln, neu beginnen. In welche Richtung? Alles muss so schnell wie möglich wieder beginnen. Ein wenig Kollateralschaden beim Arbeitervolk? Et alors? Und wenn schon? Die Heldinnen und Helden sollen arbeiten. Und schweigen.

Starke Gewerkschaft, sichere Arbeit

Als die Betriebe schließlich wieder an den Start gehen, sorgen die Gewerkschaften mit dafür, dass die Sicherheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz eingehalten werden. Der Leitfaden »Sicher am Arbeitsplatz«, der ausgezeichnete Maßnahmen enthält, um ein sicheres Arbeitsumfeld zu schaffen und um die notwendigen Vorkehrungen zu ergreifen, ist leider »nicht verbindlich«. Und so beginnt überall eine neue Phase im Kampf um den Respekt für die Gesundheitsregeln auf der Arbeit.

In Detroit fordern Arbeiter von Chrysler zehn Minuten Pause pro Stunde, um an den Arbeitsplätzen zu lüften. Sie bestehen darauf, ausreichend Abstand halten zu können beim Schichtwechsel und in der Kantine. Sie finden vor allem, dass die Arbeiter das Recht haben, bestimmte Aufgaben zu verweigern, wenn sie diese für nicht sicher halten. Das ist wichtig. Dass Betroffene selbst angeben können, ob eine Situation sicher ist oder nicht. Der Manager kann so etwas nicht hinter seinem Computer bestimmen. Recht haben sie. Da die Beschäftigten ihre Stimme erheben, werden an vielen Orten die notwendigen Gesundheitsmaßnahmen ergriffen. Und das hilft. Überall sieht man eine Konstante: Je stärker sich die Gewerkschaft durchsetzt, desto sicherer ist die Arbeit.

Anmerkungen

1 Vgl. die Studie »Immigrant Key Workers: Their Contribution to Europe’s Covid-19 Response« von Francesco Fasani und Jacopo Mazza, 23.4.2020

2 Zitiert nach Elodie Blogie: »Le coronavirus ou le retour en grâce de la lutte des classes?«, in: Le Soir, 19.4.2020

3 Zitiert nach Sylvester Rome: »Débat. Classes populaires: vers une reconnaissance de celles et ceux qui font réellement tourner le pays?«, in: L’Humanité, 24.4.2020

4 Vgl. Kommissariat für Kinderrechte: Mehr als 44.000 Kinder und jüngere Menschen über Corona.

5 Vgl. »Coronavirus: pour Pieter Timmermans (FEB), ›l’endroit où vous travaillez est peut-être le lieu le plus sûr pour ne pas être contaminé‹« im belgischen Sender RTBF, 30.4.2020

6 Vgl. die Coronastudie der Universität Antwerpen unter www.uantwerpen.be

7 Vgl. »Coronavirus (Covid-19) related deaths by occupation, England and Wales: deaths registered between 9 March and 25 May 2020« auf der Website des »Office for National Statistics«, www.ons.gov.uk

8 Vgl. Science Media Centre: Expert reaction to new ONS analysis looking at deaths related to Covid-19 and occupation, 11.5.2020

9 Zitiert nach Dominique Méda: »Les morts de la première ligne«, in: Le Monde, 25.5.2020

10 Vgl. Science Media Centre, 11.5.2020

11 Alexandra Chaignon: »Le coronavirus, révélateur des inégalités de richesse«, in: L’Humanité, 23.6.2020

12 Ebd.

13 Owen Jones: »Boris Johnson’s message to the working class: good luck out there«, in: The Guardian, 12.5.2020

Quelle: jungewelt.de… vom 30. September 2020

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