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VW: Ein Desaster für die ganze Klasse

Eingereicht on 23. Dezember 2024 – 10:41

Mattis Molde. Alle scheinen zufrieden. Auch wenn die IG Metall – anders als noch beim Abschluss für die Flächentarifverträge der Metall- und Elektroindustrie – keine gemeinsame Erklärung mit der Gegenseite herausgegeben hat, so klingen doch alle Erklärungen zu diesem Ergebnis sehr positiv. „Kahlschlag abgewendet“, begrüßt sie das Ergebnis.

Volkswagenchef Oliver Blume sagte in einer Erklärung: „Mit dem beschlossenen Maßnahmenpaket hat das Unternehmen entscheidende Weichen für seine Zukunft in Bezug auf Kosten, Kapazitäten und Strukturen gestellt […] Wir sind jetzt wieder in der Lage, unser eigenes Schicksal erfolgreich zu gestalten.“ Auch die Regierung begrüßt das Ergebnis, Bundeskanzler Scholz (SPD) lobt die Tarifeinigung bei Volkswagen als eine „gute, sozial verträgliche Lösung“. Der Kompromiss stelle bei allen Härten sicher, dass der Konzern und seine Beschäftigten in eine sichere Zukunft gingen.

Tatsächlich hat sich die Konzernspitze in drei zentralen Punkten durchgesetzt: 35.000 Arbeitsplätze bei VW werden bis Ende 2030 vernichtet. Diese massive Arbeitsplatzvernichtung darf aber nicht über betriebsbedingte Kündigungen erfolgen, sondern „nur sozialverträglich“, d. h. mit Abfindungen oder Altersteilzeit. Es werden zwar unmittelbar keine Werke geschlossen – was auch technisch nicht ganz so einfach wäre –, aber in Osnabrück und Dresden läuft die Produktion aus. Für danach gibt es Versprechen, dass „Käufer:innen bzw Betreiber:innen gesucht“ würden, was z. B. bei Ford Saarlouis genausowenig eingelöst worden ist wie bei Vallourec Stahl oder Thyssen Krupp.

Es gilt auch als sicher, dass kein anderer Autokonzern ein solches bestehendes Werk übernehmen will. Es gibt genug Überkapazitäten in Europa, und wenn Neuansiedlungen wie Tesla stattfinden, dann weit unter dem Entgeltniveau eines bestehenden Betriebes. Im Falle von Osnabrück spekuliert „Der Aktionär“ mit Berufung auf die BILD, dass das Rüstungsunternehmen Renk Interesse haben könnte. Von der IG Metall wird diese Art der Zukunftssicherung nicht weiter kommentiert.

Die dritte Forderung der Bosse war eine Lohnsenkung von 10 % sofort über alles. Bekommen haben sie, dass die 5,16 % Erhöhung der Entgelttabellen, die in den Flächentarifen für die nächsten 2 Jahre vereinbart worden ist, bei VW nicht umgesetzt wird. Zugleich werden die Arbeitszeiten für diejenigen, die bisher unter 35 Stunden Wochenarbeitszeit lagen (vor Januar 2005 eingestellte Beschäftigte), um 1 bzw 2 Stunden auf 35 pro Woche verlängert, wofür es einen finanziellen Teilausgleich gibt. Auch Sonderzahlungen werden gekürzt. Darunter fallen Urlaubs-, Weihnachtsgeld und ein Bonus. Bei VW sind aber diese Zahlungen anders als in den Flächentarifen geregelt. Daher sind die Kürzungen für Werksangehörige schwer, für Außenstehende fast gar nicht zu bewerten. Sicher ist aber, dass der Konzern deutlich näher an den 10 % Entgeltkürzungen liegt als die IG Metall mit der Forderung nach 0 %. Oder anders gesagt: Es wäre schön, wenn die Gewerkschaft bei der Flächentarifrunde 2024 in der Metall- und Elektroindustrie so erfolgreich gewesen wäre wie der Vorstand in der VW-Runde.

Zu guter Letzt hat die IG Metall aber noch „erreicht“, dass es zukünftig eine Prämie gibt, die nur Gewerkschaftsmitglieder erhalten. Immer wieder kommen in der IG Metall Vorschläge hoch, Mitglieder tariflich besser zu stellen, um das „Trittbrettfahren“ zu verhindern, nämlich dass Nichtmitglieder die gleichen Tariferhöhungen wie Mitglieder erhalten. Das Thema ist in der IG Metall umstritten. Bei VW wird es pervertiert: Aus den Sonderzahlungen, die ihnen gekürzt werden, erhalten Mitglieder jetzt etwas zurück, was sie dann als Mitgliedsbeitrag an die IG Metall abliefern dürfen. Wer so handelt, fürchtet Massenaustritte.

Der Sieg der Bosse

„Das gemeinsam erklärte Ziel: Die Marke Volkswagen Pkw wird bis 2030 als Kern der Volkswagen AG weltweit technologisch führender Volumenhersteller“, nennt der Vorstand das Ziel der Vereinbarung. Aber zahlen tun nur die Arbeiter:innen.

Er  beziffert seinen Erfolg so: „Durch den erzielten Abschluss werden mittelfristig mehr als 15 Mrd. Euro pro Jahr nachhaltige Kosteneffekte der Volkswagen AG erreicht. Davon kommen mittelfristig jährlich über 4 Mrd. Euro durch die aktuellen Verhandlungsumfänge Arbeitskosten, Struktur- und Produktionsmaßnahmen sowie Werkebelegungen. Allein die Arbeitskostenentlastung beträgt 1,5 Mrd. Euro pro Jahr.” (VW Group, Medieninformation Nr. 137/2024)

Der Vorstand erzielt also „mittelfristig nachhaltige Kosteneffekte“, die mit 15 Milliarden fast dem Gewinn des Jahres 2023 von 18 Milliarden entsprechen. Wenn die Arbeitskostenentlastung von 1,5 Mrd. die Entgelte betrifft, dürften „Strukturmaßnahmen“ den Personalabbau und „Produktionsmaßnahmen“ die Verlagerung der Herstellung, vor allem die Verlagerung von Golf und Golf Variant aus Wolfsburg nach Puebla, Mexico, meinen.

Es bleiben noch 11 Milliarden, die laut Vorstand im direkten oder indirekten Zusammenhang „mit diesem Abschluss“ stehen. Markenvorstand Schäfer hatte schon vor den letzten Verhandlungen erwähnt, dass in den laufenden Programmen, u. a. bei Material und Logistik, schon 7,5 Mrd. eingespart worden seien. Bei dieser Gelegenheit hatte er übrigens die Forderung nach den 4 Milliarden erneuert, die er jetzt vollumfänglich erhalten hat.

Diese 7,5 Milliarden zahlen wohl tausende Beschäftigte bei der VW-eigenen Leihfirma sowie die, die in der Werks- und Produktionslogistik und bei den Zulieferern arbeiten. Das kostet ebenfalls zehntausende Arbeitsplätze und bedeutet für viele schlechter bezahlte Beschäftigte noch weitere Lohndrückerei.

Woher die restlichen 3,5 Milliarden kommen, ob und wie dazu etwas in den 90 Stunden Verhandlung vereinbart worden ist, kann aus den bestehenden Quellen nicht erschlossen werden. Sicher ist, dass als Folge dieses Abschlusses nicht nur die Beschäftigten von VW Milliarden zahlen, sondern auch weitere Zehntausende, von denen viele auch IG Metaller:innen sind oder sein könnten, ihre Arbeit verlieren oder Einkommen einbüßen. In Zwickau hatten Betriebsrat, Vertrauensleute und die lokale IG Metall übrigens einen offenen Brief verfasst, der auf das Schicksal von 1.000 befristet Beschäftigten hinwies, die schon jetzt ihre Arbeit verlieren.

Die roten Linien der IG Metall

Ihren Erfolg sieht die IG Metall darin, dass ihre roten Linien nicht überschritten worden seien. Sie lenkt damit davon ab, dass sie der Vernichtung von über 35.000 Arbeitsplätzen allein bei VW zugestimmt hat. Sie erwähnt diese Zahl noch nicht mal in ihren öffentlichen und betrieblichen Verlautbarungen und die Betroffenen in anderen Unternehmen sind ihr ebenfalls keine Erklärung wert. Diese rote Line, dass es keine betriebsbedingten Kündigungen geben dürfe – für die Stammbelegschaft! – ist dann auch das Einzige, was wirklich erreicht worden ist. Der Lohnverlust ist nur aufgeschoben, die Schließung von 2 Werken ebenfalls.

Diese roten Linien haben aber auch von Anfang an signalisiert, dass die IG Metall die Forderungen des Kapitals erfüllen will – ebenso wie ihr früh unterbreitetes Angebot, auf die kommende Tariferhöhung zu verzichten. Ebenso wie ihr Bemühen, die Tarifrunde VW von der Tarifrunde Fläche abzukoppeln und ihre krampfhaften Versuche, Solidarisierung von und mit anderen Belegschaften einzugrenzen.

Diese Haltung der IG Metall wie auch der Betriebsratsspitzen bei VW ist nicht neu und auch der heftige Angriff des Vorstandes konnte und kann diese nicht davon abbringen. Das Wohl des größten deutschen Autokonzerns war der Gewerkschaftsführung immer das Wichtigste. Das sichert auch der Bürokratie Aufsichtsratsposten und ein stabiles Machtgefüge innerhalb der Gewerkschaft.

Diese Sozialpartner:innenschaft bedeutet auch in einer globalen Industrie, die Interessen des Weltkonzerns gegen die Konkurrenz der anderen Monopole zu vertreten. Dafür machte man in der Vergangenheit so ziemlich alles mit: die Umstrukturierung der heimischen Produktion auf fette SUVs oder andere als Transportmittel ineffiziente Luxusvehikel; Abgasbetrug; bei Konflikten des Konzerns mit ausländischen Belegschaften keine oder nur begrenzte Solidarität; Abbruch der Unterstützung der Anstrengungen der amerikanischen Automobilgewerkschaft UAW, die dortigen VW-Belegschaften zu organisieren.

Dies schließt auch die enge Kollaboration mit der Regierung ein: So tritt die IG Metall in Brüssel gemeinsam mit Regierung und Verband der Autoindustrie für die optimale Regelung für deutsche Hersteller auf Kosten der Umwelt an (Abgasskandal), so trägt sie die Aufrüstungspolitik der Regierung öffentlich mit und stillschweigend die damit einhergehenden sozialen Kürzungen. Und wenn die Metallgewerkschaften weltweit gegen den Völkermord in Gaza protestieren, dann unterstützt die IG Metall in Deutschland diesen doch nach Kräften.

Für diese Sozialpartner:innenschaft im Kampf um Weltmarkt und Weltmacht haben IG Metall und der VW-Gesamtbetriebsrat Zehntausende Arbeitsplätze und Milliarden an Lohnsumme geopfert. Ja, die IG Metall Führung wollte diesen Abschluss so, wie er ausgefallen ist. Bei zwei Warnstreiks durften die Beschäftigten Dampf ablassen und den Lohnausfall selbst tragen. Kein Streik, noch nicht einmal ein 24-stündiger, wurde bei diesem Vorhaben vorbereitet. Der „Arbeitskampf, den die Bundesrepublik so seit Jahrzehnten nicht erlebt hat“ (Bezirksleiter Gröger), war in Wirklichkeit nie vorgesehen.

Diese Niederlage der IG Metall ist nicht die schlimmste. Aber sie bringt sie auf den tiefsten Punkt ihrer Geschichte. Sie hat an ihrer stärksten Bastion den schlimmsten Angriff seit Jahrzehnten zugelassen. Sie hat ihn nicht wirklich bekämpft, sondern„sozial mitgestaltet“. Und sie hat ein Zeichen für die gesamte Branche, ja für die gesamte Arbeiter:innenklasse gesetzt: Die potentiell kampfstärksten und bestorganisierten Lohnabhängigen, die „schweren Bataillone“, werden auch bei einem konzentrierten Angriff nicht zum Kampf mobilisiert. Die IG Metall verrät damit nicht nur die unmittelbaren Interessen ihre eigenen Mitglieder, sie fällt der gesamten Klasse faktisch in den Rücken. Ein entschlossener Kampf bei VW und in der gesamten Autoindustrie hätte zumindest eine gewerkschaftliche, wenn nicht politische Wende einläuten können. Doch die Risiken eines solchen Kampfes wollten die Bürokrat:innen in der Gewerkschaftsführung und im Konzernbetriebrat bewusst nicht eingehen, denn er hätte, ob gewollt oder nicht, die Sozialpartner:innenschaft und Klassenzusammenarbeit faktisch in Frage gestellt. Und das will die Bürokratie unbedingt vermeiden, dafür nimmt sie auch eine kampflose Niederlage in Kauf, solange sie nur bei deren Ausgestaltung „partnerschaftlich“ mitwirken kann.

Bruch mit der Unterordnung

Mit dieser Politik ist kein gewerkschaftlicher Erfolg möglich. Wer im globalen Autokrieg zur treuen Handlangerin der Monopole wird, wird das auch in anderen Kriegen, degradiert die Arbeiter:innenklasse zum Spielball und Opfer von Regierung und Kapital, zur leichten Beute für reaktionäre Ideen.

Mit der Bürokrat:innenkaste, die diese Gewerkschaft führt, ist keine Wende möglich. Gut denkbar aber, dass einzelne Kräfte in ihr versuchen werden, sich neu zu positionieren. Entscheidend ist, dass sich was an der Basis bewegt, der Schritt vom Abkotzen zur organisierten klassenkämpferischen Opposition gesetzt wird, die mit der Sozialpartner:innenschaft bricht. Die Kritik am Ausverkauf durch den Apparat kann und muss dazu als Ansatz genutzt werden:

  • Kritik formulieren, in sozialen Netzwerken verbreiten, Gleichgesinnte sammeln! Anträge und Resolutionen in gewerkschaftliche Gremien und Betriebsversammlungen einbringen!
  • Vertrauensleuteversammlungen wieder zur Diskussion nutzen, neue Kolleg:innen gewinnen!
  • Sich im Betrieb, Konzern und darüber hinaus vernetzen! Die Bürokratie hat die Strukturen in der Hand. Wir brauchen eigene!
  • Es gibt kleine Ansätze für solche Vernetzungen, z. B. die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG). Es braucht mehr davon und eine solidarische und demokratische Zusammenarbeit auf einer klassenkämpferischen Grundlage.

Weder bei VW noch in der Metallindustrie insgesamt ist die Krise vorbei. Handeln ist angesagt. Letztlich kann die Politik der Gewerkschaft nur geändert werden, wenn es auch eine politische Alternative zur Unterordnung unter Märkte und kapitalistische Krisen gibt. Aus dem Widerstand dagegen, dass die arbeitenden Menschen die Lasten der Krise tragen, muss auch der Kampf entstehen, dass sie entscheiden, was, wie und wo produziert wird.

Quelle: arbeiterinnenmacht.de… vom 23. Dezember 2024

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