Marxistische Denkvernetzung zwischen Indien und Europa
Mit dem Projekt des Mangroven Verlags möchte Mahaboob Hassan den Boden für einen Kontinente übergreifenden Austausch schaffen, der insbesondere die marxistische Tradition gesellschaftskritischen Denkens als Brücke der Verständigung zwischen Europa auf der einen und Süd- wie Ostasien auf der anderen Seite nutzt. Dies könnte sich in beide Richtungen produktiv entwickeln, haben die europäischen Metropolengesellschaften nicht zuletzt in Sicht auf ihre Kolonialgeschichte doch nicht weniger Bedarf an der „Selbstreproduktion und Selbstbefruchtung kritischen Denkens“ [i] wie die Klassengesellschaften des indischen Subkontinents und der Versuch Chinas, auf der Basis einer stürmischen kapitalistischen Entwicklung doch noch die Kurve in einen Sozialismus chinesischer Prägung zu nehmen.
Auf der Linken Literaturmesse beantwortete der Wissenschaftler und Verleger dem Schattenblick einige Fragen zum Selbstverständnis seines Verlagsprojektes.
Schattenblick (SB): Herr Mahaboob Hassan, worauf gründet sich Ihr Verlagsprojekt?
Mahaboob Hassan (MH): Schon während meines Studiums der Politikwissenschaft, Literatur und Philosophie in Kassel habe ich mir Gedanken darüber gemacht, welchen Beitrag ich dazu leisten könnte, um beide Kontinente, Europa und den indischen Subkontinent, einschließlich Bangladesch, längerfristig zusammenzubringen. Als Student fiel mir auf, daß man hier viel auf Englisch lesen muß, aber kaum auf deutsche Fachliteratur zurückgreifen kann. Übersetzungen für das deutsche Lesepublikum wie auch umgekehrt vom Deutschen ins Englische schienen mir daher wichtig zu sein. Aus eigener Erfahrung weiß ich zudem, daß auf dem indischen Subkontinent nur ein literarisches Genre verfügbar ist, nämlich poststrukuralistische und postmoderne Literatur, aber keine soziologisch-marxistischen Publikationen. In dieser Hinsicht gibt es wirklich eine Riesenlücke, die ich schließen wollte.
Ein anderer Punkt, der mich angetrieben hat, ist die zunehmende Anonymisierung bzw. Entfremdung zwischen den Fachdisziplinen beider Kontinente, die Wissenschaft generieren, aber einander nicht kennen. Dies zeigt sich auch daran, daß indische Publikationen hier an der Universität nicht zugänglich sind. Ich sehe meine Verlagsaufgabe darin, hiesige Autoren in Indien bzw. Asien und umgekehrt bekanntzumachen, um darüber ein kleines Forum anzubieten für den Gedankenaustausch und so gemeinsam Wissenschaft generieren zu können.
SB: Verstehe ich Sie recht, daß in Indien und Bangladesch nur die angloamerikanische Wissenschaftstradition präsent ist?
MH: Absolut. Es ist nicht hinnehmbar, wenn insbesondere postmodernistische Literatur den indischen Markt überflutet, aber keine rein soziologisch-marxistische Literatur vorhanden ist.
SB: Aber hatte Indien nicht immer schon eine relativ starke KP, die für eine marxistische Theoriebildung auf dem Subkontinent gesorgt hat?
MH: Das mag schon sein, aber dennoch finden Subaltern oder Cultural Studies wesentlich mehr Resonanz als die kleine Zahl marxistischer Theoretiker, die Wissenschaft generieren.
SB: Nun gehört die marxistische Tradition auch im europäischen Kultur- und Sprachraum nicht gerade zu den prominenten Wissenschaftsschulen. Halten Sie es für möglich, gar für eine gesellschaftliche Notwendigkeit, daß die marxistische Theoriebildung noch einmal eine Renaissance erlebt?
MH: Auf jeden Fall müßte man soziale Bewegungen und Theorie stärker miteinander verschränken. Das ist, denke ich, in Indien anders als im europäischen Raum. In Indien finden in verschiedenster Art und Weise Emanzipationsbestrebungen statt, sei es bei den Frauen, Landlosen, Adivasi oder innerhalb der Kasten. Enormes Potential ist also vorhanden, was fehlt, ist die Verschränkung von Theoriebildung mit Alltagspolitik.
SB: Es gibt in Indien erhebliche soziale und ökologische Konflikte um Land, die nach wie vor den Charakter antikolonialistischer Kämpfe haben. Reicht es da nicht aus, wenn sich die Menschen den Postcolonial Studies zuwenden, oder halten Sie das für ein unzureichendes Konzept?
MH: Definitiv, das ist ihrem Wesen nach eine Herrschaftswissenschaft, die weder die Klassen- noch die Machtfrage stellt. Daß die Ökonomie in dieser Art von Theoriebildung überhaupt keinen Faktor darstellt, ist ebenso bemerkenswert wie gleichzeitig beängstigend.
SB: Im Westen einigermaßen bekannt ist eine indische Wissenschaftlerin wie Radhika Desai, die sich stark für die Interessen der indigenen Bevölkerung einsetzt. Wie würden Sie die Wirksamkeit an politischer Intervention der Intellektuellen heute in Indien und Bangladesch einschätzen?
MH: Radhika Desai ist eine marxistisch orientierte Wissenschaftlerin, von daher erkenne ich sie als progressive und soziologisch-marxistische Wissenschaftlerin an. Eine Theorie, die die Kolonialgeschichte aufzuarbeiten versucht, aber die politischen Konsequenzen in der Gegenwart ausklammert, hilft uns hingegen nicht weiter. So gibt es bis heute immer noch kein souveränes Erziehungswesen in Indien. Es hat durchaus viele Versuche gegeben, die aber vom IWF oder der Weltbank, hinter denen natürlich die Interessen der Großmächte stehen, immer wieder torpediert wurden. Hinzu kommt, daß die indischen Eliten sich den USA oder dem Westen verbunden fühlen, nicht aber den Bauern und der Arbeiterklasse. Es war schon Verrat gewesen, als Indien 1947 unabhängig wurde und Pakistan und Bangladesch unter der Zweinationentheorie zusammengingen, was aber nicht funktioniert hat. Das Problem ist, daß die indische Avantgarde postmodernistischen Schriften aus Frankreich wie Foucault oder Derrida oder denen der nordamerikanischen Intellektuellen den Vorzug gibt. Das ist Jetset, eine Modewissenschaft, und hat nichts mit der Arbeiterklasse zu tun. Offenbar bekümmert es die indischen Eliten nicht, daß so viele Leute in Armut leben und marginalisiert sind.
SB: Es gibt indische Linke, die der Ansicht sind, daß die Bourgeoisie des Landes nach der Unabhängigkeit, die stark im Zeichen Mahatma Gandhis stand, im Grunde genommen ein britisch geprägtes Weltbild fortgeschrieben hat und sich daher nicht viel geändert hätte. Dementsprechend werde auch Gandhi überbewertet, weil er im Wesentlichen ein liberaler Denker war und keine Klassenpositionvertreten hat. Sehen Sie das genauso?
MH: Es ist richtig, daß Gandhi nie eine Position vertreten hat, die der Arbeiterklasse wirklich zugutegekommen ist. Seine Positionen waren eher rückschrittlich und in der Sache ambivalent. Natürlich hat er mit seinem gewaltfreien Weg Indien retten wollen, aber letztendlich ist er von radikalen Hindus ermordet worden. Die Macht- oder Klassenfrage hat er jedenfalls nicht gestellt, und auch die Eliten in Indien, Bangladesch oder Pakistan wollten nichts davon wissen.
SB: Ist es zutreffend, wenn in dem Buch „Speak Up! Sozialer Aufbruch und Widerstand in Indien“ [ii] geschrieben wird, daß ungefähr auf einem Drittel des indischen Staatsgebietes permanenter Kriegszustand herrscht?
MH: Ja, absolut, das man kann so sagen.
SB: Das ist hierzulande kaum präsent, eher wird Indien als größte Demokratie der Welt dargestellt. Stellen diese militärischen Aktionen der amtierenden hindunationalistischen Regierung gegen Teile der eigenen Bevölkerung eine Art inneren Kolonialkrieg dar?
MH: Es ist ein Klassenkrieg, der auf einen unbewältigten Klassenkonflikt zurückgeht. Von einem Kolonialkrieg im strengeren Sinne würde ich nicht sprechen, zumal die Kriege in Indien oder Bangladesch unter der britischen Kolonialherrschaft nur 200 Jahre in die Historie zurückreichen. Tatsächlich hat das Land eine ungleich längere Kolonial- oder Unterjochungsgeschichte hinter sich, man denke da an die Fremdherrschaft der Moguln, Turkmenen und Afghanen. Wenn man aber noch weiter in die Historie zurück- und von 10.000 Jahren Kolonialgeschichte ausgeht, versteht man, wie sich eine elitäre Klasse ausbilden konnte, die auch nach der Unabhängigkeit 1947 kein Interesse an einer wirklichen Veränderung hatte. Statt dessen wurden mit Hilfe von IWF und Weltbank die semifeudalen und -kolonialen Verhältnisse noch verschärft, was sich auch daran zeigt, daß Indien keine finanzpolitische Hoheit besitzt.
SB: In Indien werden heute insbesondere Konflikte um die Landfrage bzw. die Subsistenzproduktion ausgetragen, die im Zeichen des Kampfes gegen globale Agrarkonzerne wie Monsanto stehen. Wie beurteilen Sie die Bewegung, die Vandana Shiva vertritt? Ist es in Ihren Augen eine progressive Kraft mit der Aussicht auf eine emanzipatorische Entwicklung?
MH: Ja, jede Bewegung hat ihre fortschrittliche Seite. Vandana Shiva beschreibt in erster Linie die Not der Bauern und welche Konsequenzen dies für Indien hat. Jahrzehntelang haben IWF und Weltbank uns Wohlstand für alle vorgegaukelt und im gleichen Zuge die Subsistenzökonomie kaputtgemacht und damit Monsanto und anderen Konzernen, die auf Monokultur setzen, den Weg bereitet. Dagegen ist eine riesige Bewegung von Dalits, Adivasi bis zu den Naxaliten und Maoisten aufgestanden. Jeden Tag sterben so viele Menschen. Wenn Indien und Bangladesch die ökonomische Frage nicht lösen, obwohl enorme Reichtümer vorhanden sind, die jedoch nur einer kleinen Zahl von Menschen zugutekommen, werden die Konflikte weiter gären. Im Wesentlich geht es um die Eigentumsfrage.
SB: Indien hegt sowohl regionale als auch Großmachtambitionen und steht damit zu China in starker Konkurrenz. Wie bewerten Sie den Versuch Indiens, sich als Staat zu einem strategischen Akteur von Weltrang hochzuarbeiten?
MH: Das ist eine schwierige Frage. Indien hat so viele Probleme in den Abermillionen marginalisierten Menschen und Landlosen, die kein Obdach und keine Perspektive haben. Als Atommacht ist die militärische Option sicherlich sehr heikel, aber ich denke, wenn Menschen unter solcher Armut in Indien leben, mag der Staat vielleicht weitergehende Ambitionen haben, aber mit Großmachtambitionen geht das nicht zusammen.
SB: Was würden Sie sich von einer europäischen bzw. deutschen Linken im Verhältnis zum indischen Subkontinent wünschen, mehr Interesse und Engagement für die dortigen Kämpfe?
MH: Meine Verlagsgründung zielt ja darauf, europäische Linke, Marxisten, Kommunisten mit indischen Linken und Marxisten zusammenzubringen, damit sie miteinander reden und so alle Animositäten und Vorurteile überwinden können. Von einer solchen Zusammenarbeit verspreche ich mir sehr viel.
SB: Vielen Dank für das Gespräch.
Quelle: schattenblick… vom 20. Juni 2017
[i] http://mangroven-verlag.de
[ii] http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar661.html
Tags: Imperialismus, Indien, Lenin, Marx, Postmodernismus, Strategie, Widerstand
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