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500 Jahre Reformation und der Fluch der Lohnarbeit

Eingereicht on 30. Oktober 2017 – 9:19

Textauszug aus Otto Rühle: Illustrierte Kultur-und Sittengeschichte des Proletariats, Berlin 1930. S. 18 und folgende.

In der Feudalzeit war die Wirtschaft ausschließlich oder vorwiegend betrieben worden in Hinblick auf den Bedarf, also nach Maßgabe der vorhandenen Ansprüche. Entweder stand Art und Umfang des Konsums von vornherein fest, wie in der Familie, der Fronwirtschaft oder Dorfgemeinde, oder aber der Konsum wurde von der Kundschaft durch die Bestellung von Beginn der Produktion geltend gemacht. Bis zum städtischen Handwerk herauf war alle Produktion organisch eingeordnet, eingebettet in eine lebendige Einheit, ein überindividuelles Leben, das Stamm, Sippe, Familie, Dorfgemeinschaft, Gilde oder Zunft hieß. Erst kam der Mensch, dann die Arbeit, die der Sicherung des Lebens diente. Der Mensch arbeitet um zu leben. Dies wurde mit Beginn der bürgerlichen Epoche anders. An Stelle der natürlichen Gebilde, in deren Inneren sich die Produktion als ein Teilprozess des Stoffwechsels abspielte, trat ein Abstraktum: das Geschäft. Der Wirtschaftsprozess verselbstständigte sich. Die einzelnen Wirtschaftsakte wurden nicht mehr auf eine bestimmte Person bezogen, sondern zielten auf ein vom rein wirtschaftlichen Geist erfülltes Abstraktum, gleichsam auf sich selber als Ganzes. Die Vermögensbeziehungen waren entpersönlicht, versachlicht. Diese Verselbstständigung des Geschäfts gehört zur Entstehung und zum Wesen der kapitalistischen Unternehmung. Denn die Versachlichung der Wirtschaftsakte ermöglicht es, sie ohne alle Rücksicht auf andere Interessen nur auf den Gewinn auszurichten, und die Verselbstständigung des Geschäfts schaffte dem grenzenlosen Gewinn freie Bahn. So gewann in dem von allen Persönlichen abgelösten Wirtschaftsmechanismus das Erwerbsprinzip volle Freiheit zu ungehinderter Entfaltung und Betätigung.

Die auf Erwerbszweck und Gewinn abzielende Arbeit konnte aber zu keinem Resultat kommen, wenn weiterhin der Grundsatz galt, dass der Mensch nur arbeite um zu leben. Deshalb musste mit dieser These gebrochen werden. Der bürgerliche Mensch kehrte sie um, indem er die Maxime aufstellte: Der Mensch lebt, um zu arbeiten. Nur unter Anerkennung dieses Grundsatzes hatte er Aussicht, dass sich der Erwerbszweck der Produktion und Wirtschaft für ihn praktisch realisieren würde.

Diese Umstellung der Postulate machte es notwendig, in der gesellschaftlichen Ideologie dem Begriff der Arbeit einen anderen Sinn unterzuschieben, besonders der Lohnarbeit einen anderen Wertakzent zu geben. Das mittelalterliche Denken hatte für die Lohnarbeit, um des Erwerbs und der Bereicherung willen geleistet, wenig Verständnis. Jetzt galt es, Bauern und Handwerker für die Industriearbeit zu gewinnen. Dazu musste ihr Widerstand gegen die Erwerbsarbeit überwunden werden. Mit dieser Aufgabe betraute der bürgerliche Mensch die Kirche. Wie wir wissen, hat die Entwicklung der christlichen Kirche ihren Ausgang genommen von der christlichen Laiengemeinschaft. Sie ging also vom Kollektivismus aus, dessen ideologischer Träger sie blieb. Aber indem sie sich eine hierarchische Organisation gab mit Zentralismus, Autorität, Disziplin usw., entwickelte sie in sich eine Machtposition und Befehlshaberschaften, deren Repräsentanten notwendigerweise Persönlichkeiten, Kommandeure, Helden werden mussten. Sie züchtete Herren, Machthaber, Kirchenfürsten, Könige und landete beim Prinzip des Individualismus. Im Katholizismus vollzog sich diese dialektische Entwicklung, soweit sie der Feudalismus brauchte. Dem Protestantismus fiel dieselbe Aufgabe für das bürgerlich-kapitalistische Zeitalter zu. Das Charakteristische der protestantischen Ideologie liegt darin, dass sie den Individualismus in der religiösen Gedankenwelt völlig uneingeschränkt zur Anerkennung und Geltung brachte. Sie erhob fürs erste zum Grundsatz, dass jeder einzelne sich seinen eigenen Gott aus seinen Innersten neu erschaffen müsse. Weiter verwies sie den Gläubigen zur Verrichtung seiner Gebetsübungen aus der großen Gemeinde ins stille Kämmerlein. Endlich verkündete sie, dass jeder wahrhafte Gläubige ein Priester sei, der ohne Mittelsperson aus freien, eigenen Recht mit Gott in Verbindung treten könne. Aber auch den Intellektualismus führte Luther in das christliche Leben ein. An Stelle der Person des Papstes setzte er als höchste Instanz das Wort Gottes, statt des Menschen also ein Buch. Und während der Katholizismus die Rechtfertigung durch gute Werke lehrte, trat er für Rechtfertigung allein durch den Glauben ein. Dieser Glaube aber lief auf nichts anderes hinaus, als auf ein Sichklammern an den toten Buchstaben der Lehre.

Endlich hat Luther das Element der Weltlichkeit in die Religion getragen. Er erklärte, dass man überall und zu jeder Zeit, in jedem Stand und Beruf, Amt und Gewerbe gottgefällig leben könne. Er übersetzte in der Bibel das Wort Arbeit mit dem Worte Beruf, dem er den Beiklang einer göttlichen Berufung, einer religiösen Verpflichtung verlieh. Er maß auch der auf materiellen Gewinn abzielenden kapitalistischen Erwerbstätigkeit den Wert einer von Gott den Menschen gestellten Aufgabe zu, die zu erfüllen Christenpflicht sei. Damit leistet er der bürgerlichen Klasse den allerwichtigsten Dienst. Denn „diese Ausprägung des Berufsbegriffs hat“, wie auch Max Weber konstatiert, „dem modernen Unternehmer ein fabelhaft gutes Gewissen und außerdem ebenso arbeitswillige Arbeiter geliefert, indem er der Arbeiterschaft als Lohn ihrer asketischen Hingabe an den Beruf und ihrer Zustimmung zu rücksichtsloser Verwertung durch den Kapitalismus die ewige Seligkeit in Aussicht stellte, die in Zeiten, wo die kirchliche Disziplin das gesamte Leben in einem uns jetzt unfassbaren Grade in ihre Zucht nahm, eine ganz andere Realität darstellte als heute.“ Indem die protestantische Abendmahlsgemeinschaft die „ethische Vollwertigkeit“, von der die Zulassung abhängig war, mit der „geschäftlichen Ehrbarkeit“ identifizierte, war jeder einzelne im Interesse des Unternehmertums der Kirchendisziplin unterstellt. Die Weihe der Arbeit war auf diese Weise in einen seelischen Zwang zur Lohnarbeit verwandelt worden.

Noch weiter als die Lutherkirche ging der Calvinismus. Er hat das bürgerliche Element innerhalb der religiösen Ideologie und kirchlichen Organisation zur Reinkultur entwickelt. Nicht nur, dass Calvin die wortwörtliche Anbetung der Heiligen Schrift lehrte, er machte auch durch die Lehre von der Prädestination die Kirche zum mächtigsten Hilfsinstrument der bürgerlichen Interessen. Denn wenn der Mensch erst durch seinen Wandel erfuhr, ob er zu den von Gott Begnadeten gehörte, dieser Wandel aber durch Kirchengesang und Kirchenzucht bestimmt wurde, war es ein Leichtes, den Wandel nach den Bedürfnissen zu regulieren, die das kapitalistische Bürgertum im Sinne ihrer materiellen Interessen und Vorteile entwickelte. In der Tat wurde durch den Calvinismus jeder Lebensdrang unterbunden, jede Lebensfreude unterdrückt, jeder Lebensgenuss als Sünde und Verbrechen bestraft. In den Mittelpunkt der kirchlichen Ideologie wurde der Satz gestellt, dass Gott den Menschen in die Welt gesetzt habe, damit er arbeite. Damit wurden die Massen zu Fleiß, Unterwürfigkeit, asketischer Lebensführung erzogen, die aufstrebenden Unternehmerschichten zu Nüchternheit, Sparsamkeit, rechnerischen Verhalten und ökonomischer Wirtschaftsweise angehalten. Der Entfaltung des Erwerbssinns und der Entwicklung der Erwerbswirtschaft war aufs kräftigste Vorschub geleistet. Eine derart machtvolle, unbewusst raffinierte Veranstaltung zur Züchtung kapitalistischer Individuen hat es in keiner anderen Kirche oder Religion jemals gegeben.

Quelle: Gruppe Internationaler SozialstInnen… vom 30. Oktober 2017

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