Afrin: Verbrecherisches Hasardspiel Erdogans
Svenja Spunck. Die kurdische Autonomieregion Rojava in Nordsyrien ist der türkischen AKP-Regierung ebenso ein Dorn im Auge wie die pro-kurdische Partei HDP, die Erdogans Truppen bei den letzten Wahlen fast um eine Mehrheit für seine autoritäre Verfassung gebracht hatte. Durch eine massive Verschärfung der staatlichen Repression, die nun mehr sechste Verlängerung des Ausnahmezustandes und die Inhaftierung tausender Oppositioneller hält er sich weiter an der Spitze des Regimes.
Türkei und KurdInnen
Zwar ist der Maulkorb, den er der kurdischen Bewegung in der Türkei aufgesetzt hat, bisher recht erfolgreich, über die Landesgrenzen hinaus gelang es Erdogan jedoch bisher nicht, Einfluss auf die Entwicklungen in Syrien zu nehmen – wie er es sich seit 2011 vorgestellt hatte. Obwohl die Türkei Waffen und Soldaten nach Syrien schickte und reaktionäre Verbände der FSA um sich schart, standen die Stadt Qamischli (kurdisch: Qamislo) und der Kanton Afrin (kurdisch: Efrîn), die von der kurdischen PYD regiert werden, kurz vor der Vereinigung. Mit dem Erstarken der PYD in Syrien, so die Furcht Erdogans, stände die Einheit mit den KurdInnen in der Türkei bevor und damit de facto die Grenzziehung des Nahen Ostens auf dem Spiel.
Da auch das Assad-Regime solch eine geographische Neudefinition um jeden Preis verhindern will, ließ sie dem türkischen Militär im Norden freie Hand und protestierte nicht gegen den Einmarsch türkischer Truppen. Diese liefern sich seit Monaten immer wieder Gefechte mit den Kräften der SDF, die maßgeblich von den USA finanziert werden. Seit dem 19. Januar bombardiert die türkische Armee aus der Luft die Stellungen der YPG/YPJ. Am 20. Januar startete der Einsatz von Bodentruppen. Obwohl Russland den Luftraum kontrolliert und das Assad-Regime verkündete, sämtliche türkische Flugzeuge vom Himmel zu schießen, konnte die türkische Armee bisher ungestört agieren.
Türkei, Bundesrepublik Deutschland und USA gegen Russland und Syrien?
Die Panzer, die über die syrische Grenze rollen, sind vom Typ Leopard II, made in Germany. Weitere Lieferungen an die Türkei wurden vor wenigen Tagen bekannt gegeben. Nachdem sich die Außenminister Gabriel und Çavusoglu bei Gabriel zu Hause in Goslar in einem privaten, gemütlichen Ambiente getroffen hatten, verkündeten sie beide ausdrücklich, wie eng sie auch durch eine persönliche Freundschaft verbunden seien. Im Interview mit derARD-Tagesschau rechtfertigte Gabriel die Lieferung an die Türkei (seit 10 Jahren übrigens), mit dem angeblichen Bündnis der NATO-Partner im Kampf gegen den sog. „Islamischen Staat“ (IS). Dabei ist seit langem bekannt, dass die Türkei nicht gegen den IS kämpft, sondern dessen Anhänger im Süden des Landes medizinisch versorgt und IS-Gruppen sich ungestört selbst in großen Städten der Türkei organisieren können, während die Grenze für zivile Geflüchtete aus Syrien durch eine Mauer abgeriegelt wird.
Während Erdogan schon angekündigt hat, demnächst auch die östlichen Kantone um die Stadt Manbidsch (kurdisch: Minbic) anzugreifen, um keinen „Terrorkorridor“ zuzulassen, ruft das Auswärtige Amt „alle Beteiligten auf, jetzt besonnen zu handeln und keine neue Gewalt aufkommen zu lassen.“
Hierbei wird unterschlagen, dass es sich um einen Angriffskrieg der Türkei auf die KurdInnen handelt. Zugleich wird eine Hintertür für einen gemeinsamen Kampf gegen „Terroristen“ offen gelassen. Denn auch in Deutschland nahmen die Angriffe auf sämtliche demokratische Rechte der kurdischen Bewegung in den letzten Wochen massiv zu, was sich durch Verhaftungen auf Demonstrationen, Hausdurchsuchungen und Einleitungen von Gerichtsverfahren ausdrückte. Die französische Regierung findet klarere Worte gegenüber der türkischen Regierung und fordert sie auf, die Offensive gegen die KurdInnen zu stoppen, man solle sich stattdessen eher auf den Kampf gegen die Terroristen des IS konzentrieren.
Besonders brisant in diesem Konflikt ist das Kräftemessen der zwei NATO-Partner Türkei und USA, die offensichtlich gegensätzliche Interessen verfolgen. Solange die Türkei jedoch noch keine großen Militärschläge vollzogen hatte, wurde der Konflikt auf den Nebenschauplätzen von Reisewarnungen und Visabeschränkungen geführt. Nachdem die USA angekündigt hatten, eine 30.000 Mann starke Truppe nach Nord-Syrien zu schicken, die dort gemeinsam mit der YPG/YPJ eine „Sicherheitszone“ errichten sollte, bereitete sich die türkische Armee auf den Einmarsch vor. Das Weiße Haus riet der türkischen Regierung mehrmals, von einem Angriff auf syrisch-kurdische Gebiete abzusehen.
Außenminister Tillerson leugnete jedoch auch, jemals den Aufbau der 30.000 Mann-Truppe in Nord-Syrien angekündigt zu haben. Allenfalls wäre die Presseerklärung falsch formuliert worden. Über dieses „Missverständnis“ wird sicherlich bei dem Treffen in den nächsten Tagen geredet werden, wenn die stellvertretende NATO-Generalsekretärin Rose Gottemoeller in die Türkei fährt. Für die AKP-Regierung ist es nicht hinzunehmen, dass die USA eventuell noch mehr Waffen an die KurdInnen in Syrien liefern würden, um sich ihr eigenes Einflussgebiet in Syrien auszubauen. Für Erdogan ist der Angriff auf Afrin ein heikles Unterfangen, obwohl dieser westliche Kanton abgeschnitten ist vom Rest der kurdischen Gebiete. Er geht das Risiko dennoch ein, denn er braucht auf Grund der innenpolitischen Lage außenpolitische Erfolge.
Während die Auswirkungen dieses Angriffs auf die türkisch-amerikanischen Beziehungen noch nicht sicher sind, ist bereits klar geworden, dass die USA die KurdInnen im Stich lassen. Schon während ihrer Allianz hatten sie die Hilfe für Rojava auf militärische Mittel beschränkt, die den USA dienten, und die Lieferung von Maschinen für den wirtschaftlichen Aufbau verweigert. Zweifellos stellt die Schwächung der KurdInnen auch einen Rückschlag für die USA dar, weil sie praktisch über keinen anderen einigermaßen verlässlichen Verbündeten in Syrien verfügen und somit nur wenig bei der Neuordnung des Landes „mitbestimmen“ können. Aber sie sind erst recht nicht bereit, eine weitere Verschlechterung der Beziehungen mit Ankara für die KurdInnen zu riskieren.
Sicherlich hat auch Russland den Angriff mit gemischten Gefühlen betrachtet. Aber es wurde klar, dass es diesen hinnehmen würde. Kurz vor dem Angriff auf Afrin wurden die dort stationierten Einheiten der russischen Armee zurückgezogen und auch das Flugverbot wird gegen türkische Kriegsflugzeuge nicht umgesetzt. Bereits vor einigen Tagen fand ein Treffen zwischen dem türkischen Geheimdienstchef, dem Generalstabschef und der russischen Regierung in Moskau statt, bei der wahrscheinlich das Vorgehen abgesprochen wurde. Hier ziehen zwei Kräfte am gleichen Strang, die sich somit der KurdInnen entledigen wollen und dadurch den einzigen zuverlässigen Partner der USA aus Syrien zunichtemachen würden.
Innenpolitische Gründe Erdogans
Aber hinter dem Angriff stecken auch wichtige innenpolitische Gründe. In der Türkei stehen 2019 stehen die wichtigsten Wahlen seit der Erdogan-Ära an. Spätestens im November werden die Präsidentschafts- und Parlamentswahl gleichzeitig stattfinden. Dann treten die Verfassungsänderungen des Referendums von 2017 in Kraft. Wer diese Wahl gewinnt, wird demnach den Posten des neuen Staatsoberhaupts und auch des/r RegierungschefIn mit großer Macht bekleiden, da das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Die bisherigen Kandidaten sind Recep Tayyip Erdogan, der sich die Zustimmung der MHP bereits gesichert hat. Seine größte Rivalin ist Meral Aksener mit ihrer neu gegründeten Iyi Parti (GutePartei), einer Abspaltung von der MHP. Die Iyi erreicht in Umfragen bereits 20 Prozent und wäre damit nach der CHP die drittstärkste Partei im Parlament. Die MHP verliert momentan massiv an Stimmen und Mitgliedern und taugt höchstens noch als Steigbügelhalterin und Lückenfüllerin für die AKP.
Auch die HDP muss um ihren Einzug bangen, auch wenn sie in den Umfragen noch weit vor der MHP liegt. Der HDP droht jedoch das Verbot und ihre politischen FührerInnen befinden sich im Gefängnis. Da sich die AKP der misslichen Lage ihres einzigen Verbündeten, der MHP, im Klaren ist, wird momentan über eine Senkung der Hürde auf 5 % diskutiert. Ebenfalls als Vorbereitung auf die Wahl ist die Rücktrittswelle von AKP-BürgermeisterInnen zu sehen.
Prominentestes Beispiel ist der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökçek, der nach 23 Jahren im Amt „freiwillig“ zurücktrat, nachdem beim Verfassungsreferendum 2017 das AKP Evet-Lager in Ankara knapp verloren hatte. So wie im Falle Gökçeks sollen die Posten nun durch erfolgversprechendere PolitikerInnen ausgetauscht werden.
Auch die CHP rüstet auf und wählte vergangene Woche Canan Kaftancıoğlu zur Vorsitzenden der Istanbuler und damit größten Ortsgruppe der Partei. Dass keine 24 Stunden nach ihrem Amtsantritt ein Verfahren gegen sie wegen Terrorpropaganda für die PKK und DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front), der Erniedrigung des türkischen Staates und Beleidigung des Präsidenten eröffnet wurde, macht sie auf den ersten Blick sympathisch. In der Tat gehört sie zum linken Flügel der Partei, unterstützt offen die Kämpfe um Frauenrechte, bezeichnet den Genozid an den ArmenierInnen als solchen und war solidarisch mit den Gezi-Protesten sowie den KurdInnen in Kobanê. Außerdem verurteilte sie scharf diejenigen, die in der Nacht des Putsches vom 15. Juli 2016 das AKP-Regime brutal verteidigten und propagiert eine Aktionseinheit zwischen CHP und HDP. Die Hoffnung, dass mit ihrer Wahl ein neuer Wind in die CHP einzieht, der einigen dort zumindest die Augen öffnet, die sich noch Illusionen in eine Kooperation mit der AKP machen, entpuppt sich jedoch gerade als eine Illusion. Der CHP-Vorsitzende Kiliçdaroglu stimmte in den Kriegsrausch der AKP mit ein und erklärte am 19. Januar: „Kein Land kann die Einnistung von Terrororganisationen an seinen Grenzen dulden. Unserer heldenhaften Armee gilt unser Vertrauen und der Operation Olivenzweig unsere Unterstützung.“
Die Illusion vieler Linker, man könnte gemeinsam mit der CHP eine demokratische Front gegen die AKP aufbauen, wurde damit wieder einmal als vollkommen falsch entlarvt. Wer sich wirklich als demokratisch und solidarisch mit dem Kampf der Kurdinnen versteht, muss diese chauvinistische, rassistische Partei verlassen.
Doch Erdogan steht auch unter Erfolgsdruck. Die schwierige innenpolitische Lage zeichnet sich nicht nur an der Parteienkonstellation ab, auch ökonomisch wird es für die AKP zunehmend härter, sich zu behaupten. Die Verkündung des Mindestlohnes von 1600 Lira zu Beginn des Jahres löste einen Sturm der Empörung zumindest in den sozialen Medien aus. Der Vorsitzende der Gewerkschaft DISK meint, man müsse mindestens 2300 Lira monatlich verdienen, doch den Mindestlohn würden allein die Regierung und die Arbeit„geber“Innen festlegen. Die Jugendarbeitslosigkeit habe zwar in den letzten Monaten abgenommen, liegt jedoch immer noch bei 20 %. Betrachtet man genauer, wo diese Jugendlichen arbeiten, stößt man meist auf hochgefährliche Arbeitsplätze wie in der Baubranche, wo jährlich dutzende Menschen durch Unfälle ums Leben kommen. Nach dem Militärdienst, der viele junge Männer traumatisiert, fehlen vor allem der ländlichen Bevölkerung Arbeits- und Ausbildungsperspektiven. Diese und andere Probleme setzen sich momentan nicht in großen Protesten auf der Straße um, sondern drücken sich eher in einer riesigen Fluchtbewegung nach Europa aus – in erster Linie der Mittelschicht, die sich das leisten kann.
Obwohl Erdogan auch rhetorisch in alle Richtungen schießt und sich scheinbar unbeeindruckt und stark zeigt, ist deutlich zu erkennen, dass er außenpolitische Erfolge und den türkischen Nationalismus braucht, um seine Herrschaft zu halten. Der Unterstützung der USA im Kampf gegen die KurdInnen nicht mehr sicher, das Gefühl, in Syrien rinne ihm der mühevoll aufgebaute Einfluss durch die Hände, und innenpolitisch mit schwindender Macht, holt er nun außenpolitisch zum Gegenschlag aus.
Der Angriff rollt
Am Morgen des 19. Januar kursierten Bilder von großen weißen Bussen im Internet, die im Süden der Türkei über die syrische Grenze fuhren. Hierbei handelte es sich nicht um eine Klassenfahrt, sondern bei näherem Betrachten überquerten dort die Klischee-Salafisten vom Dienst bzw. von der Dschabhat Fatah asch-Scham die Demarkationslinie, um gemeinsam mit dem türkischen Militär die YPG/YPJ in Afrin anzugreifen. Kurz darauf folgten die ersten Berichte über starken Beschuss der kurdischen Stellungen und die PYD verkündete, dass sie die Angriffe nicht nur in Nordsyrien zurückschlagen, sondern ihren Kampf gegen Erdogan auch in die Türkei tragen werde.
Doch der Kampf zwischen dem türkischen Militär und der PYD ist kein Kampf von gleich oder nur ähnlich starken GegnerInnen. Die Türkei, einer der wichtigsten Staaten im Bunde der NATO, füllt trotz aller Differenzen eine Schlüsselrolle für die USA zwecks Kontrolle über die Region aus. Die PYD wiederum ist eine Kraft, die zwar momentan als Teil der SDF und politisch stärkste Kraft in Nord-Syrien als Vehikel dient, um die Präsenz der USA zu begründen, stellt jedoch eine nicht-staatliche Militäreinheit dar, welche die Grenzziehung in Frage stellt.
Die Geschichte der KurdInnen ist dafür bekannt, kurzzeitig im Machtkampf für einen der Imperialismen eingespannt zu werden und davon profitieren scheinen zu können, indem ihnen Autonomierechte oder gar eigene Staaten versprochen werden. Am Ende werden sie jedoch wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen. Nun droht ihnen ein ähnliches Schicksal, da die USA durch eine permanente Kooperation mit der PYD die Hinwendung der Türkei Richtung Russland riskieren würden.
Mit der Zerschlagung der KurdInnen im Norden Syriens wäre einer der größten Störfaktoren bei der Neuordnung Syriens aus dem Weg geschafft. Daran hat nicht nur die Türkei, sondern auch Assad ein großes Interesse.
Welche Position müssen RevolutionärInnen in dieser Situation einnehmen?
Der Angriff auf die KurdInnen in Syrien ist ein reaktionäres, verbrecherisches Vorhaben der Türkei, das von allen imperialistischen Mächten geduldet wird. RevolutionärInnen müssen deshalb für die Niederlage der türkischen Armee und das Selbstbestimmungsrecht der KurdInnen im gesamten Nahen Osten eintreten.
Deshalb muss ebenfalls der sofortige Stopp sämtlicher Waffenlieferungen an die Türkei gefordert werden sowie der Abzug der deutschen Bundeswehr aus der Region. Um den berechtigten Aufstand gegen Assad und die demokratische Revolution in Syrien im Keim zu ersticken, wurden reaktionäre Kräfte wie die al-Nusra-Front (heute: Dschabhat Fatah asch-Scham) und andere Salafisten finanziert, die nun Seite an Seite mit der türkischen Armee kämpfen.
Die Grenzen zwischen der Türkei und Syrien müssen nicht für diese Kräfte, sondern für die syrischen Geflüchteten geöffnet werden – nieder mit der Grenzmauer! Der Eingriff der ImperialistInnen in Syrien transformierte den berechtigten Kampf der Opposition in einen der tödlichsten Konflikte des 21. Jahrhunderts. Kampf der türkischen Invasion! Solidarität mit dem kurdischen Befreiungskampf! Sofortiger Abzug aller imperialistischen Kräfte!
Quelle: arbeiterinnenmacht.de… vom 23. Januar 2018
Tags: Deutschland, Imperialismus, Russland, Syrien, Türkei, USA, Widerstand
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