Ist Rassismus oder Ausländergewalt in Chemnitz das Problem?
Peter Nowak. „Giffeys Besuch führt sie als erstes zu dem Tatort“, titelt Die Welt über den Chemnitz-Besuch der Bundesfamilienministerin, die als erstes Mitglied der Bundesregierung in die sächsische Stadt gereist ist, seit sie im Brennpunkt steht. Doch was war die Ursache? Und was ist der Tatort?
Darüber tobt seit einer Woche der Streit, nicht nur in den Medien und sozialen Netzwerken, sondern auch auf Dresdens Straßen. Das zeigte sich auch beim Giffey-Besuch: Im Welt-Artikel war der Tatort die Stelle in der Brückenstraße, wo ein Mann nach einer Messerattacke verblutet ist.
In anderen Meldungen wurde hervorgehoben, dass die Ministerin die Stadt besuchte, die in den vergangenen Tagen wegen rechter Demonstrationen in die Schlagzeilen geraten ist. Tatsächlich hat sich beides in den letzten Tagen in Chemnitz zugetragen. Doch seit einer Woche tobt der Streit, was das zentrale Problem in Chemnitz ist.
Von der Bürgerrechtlerin zur rechten Bürgerin
Da stehen sich zwei Lager gegenüber, die nicht so einheitlich sind, wie es den Anschein hat. Da ist das konservativ-nationalistische Lager, das die Grenzen in Deutschland dicht machen will und sich durchaus eine Art Orbán-Regierung für Sachsen wünscht. Dort sind Grenzen dicht und der christliche Bezug wird dort nicht über die Bergpredigt und das Kirchenasyl, sondern über das sogenannte „christliche Abendland“ definiert, das sogar bei manchen Ex-Linken heute auf Sympathie stößt.
Innerhalb dieses national-konservativen Spektrums tummeln sich Personen aus verschiedenen rechten Zirkeln. Erklärte Neonazis sind dabei aber nicht die Mehrheit. Manche, wie der PI-News Autor Michael Stürzenberger, der einen prowestlichen Rechtskonservatismus im Sinne der CSU unter F.J. Strauß mit einer klaren Islamfeindschaft kombiniert, bezeichnet die offenen Neonazis als „Linksnationalisten“ und fordert sie auf, ihre eigene Demonstrationen zu organisieren.
Andere aus dem rechtskonservativen Lager haben keine Probleme, mit offenen Neonazis zu demonstrieren. So setzt sich mit den Ereignissen in Chemnitz nur eine Entwicklung fort, die nicht erst 2015 mit der Zunahme der Migration einsetzte.
Seit mehr als 10 Jahren demonstrieren sogenannte konservative Bürger gemeinsam mit organsierten Neonazis gegen den Bau einer Moschee wie in Berlin-Heinersdorf, gegen Flüchtlingsunterkünfte und dann eben bei den Montagsdemonstrationen und Pegida.
Eigentlich aber reicht die Kooperation zwischen Neonazis und rechten Bürgern bis in den Herbst 1989 zurück, als aus der Parole der linken DDR-Opposition „Wir sind das Volk“ das nationalistisch „Wir sind ein Volk“ geworden ist.
Zwei der bekannten Bürgerrechtlerinnen, die heute die Sorgen der rechten Bürger teilen, sind Vera Lengsfeld und Angelika Barbe. Doch wie sie sehen auch andere ehemalige DDR-Bürgerrechtler in Pegida und Co. eine Fortsetzung der Demonstrationen vom Herbst 1989 in der DDR und meinen das positiv. Das hat Vera Lengsfeld in ihrer in national-konservativen Kreisen viel diskutierten Medienschelte „Die Hetze gegen das Volk“ klar formuliert:
Den Anfang machte Bild mit einer Berichterstattung, die alle Regeln eines seriösen Journalismus verletzt. „Rechte ziehen durch Chemnitz“, titelt das Blatt und zieht dann vom Leder: 1000 Menschen, darunter viele Rechte, hätten sich am Sonntagnachmittag versammelt. Sie skandierten „Wir sind das Volk“. Der Ruf der Friedlichen Revolution von 1989 wird so en passant zum „rechten“ Slogan erklärt.
Vera Lengsfeld
Damit blamiert sie allerdings die vielen Grünen und Linksliberalen, die die DDR-Bürgerrechtler als die neuen Demokraten missverstanden hatten und jeglichen Vergleich mit den Rechten als SED-Propaganda bekämpften.
Es waren nur wenige schlaue Linke auch in der BRD, wie der Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremlitza, die von Anfang an nicht an die Erzählung von den großen Demokratiepotentialen der Bürgerrechtsbewegungen in der DDR glaubten und das völlig unabhängig davon, wie man das DDR-System einschätzte.
Daher ist es umso erstaunlicher, dass manche ehemals deutschlandkritische Linke wie der Rote Salon Leipzig in dem Bemühen, Anschluss an die liberale Moderne zu finden, fast all ihre früheren Erkenntnisse dementieren und sowohl den Anschluss der DDR als auch den Jugoslawienkriege nachträglich verteidigen.
Weltoffen für den Wirtschaftsstandort Deutschland oder für die Menschenrechte?
Aber auch das sogenannte liberal-weltoffene Lager, das sich im Streit um die Interpretation der Ereignisse von Chemnitz in der letzten Woche den Rechten entgegenstellte, ist keineswegs homogen. Da finden sich viele, denen es um den Erhalt von Menschenrechten geht, manche sehen hierin die Voraussetzung für weitergehende linke Utopien.
Doch auch Wirtschaftsliberale, die wissen, dass die deutsche Wirtschaft schon mittelfristig Arbeitsplätze braucht, heißen natürlich Migranten willkommen. Da wird auch schon geklagt, dass die Negativpresse über Chemnitz die Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025gefährden könnte.
Einer derjenigen, der diese Bewerbung unterstützt, wird in der Taz als parlamentarischer Vertreter des weltoffenen Chemnitz bezeichnet: der Unternehmer Lars Fassmann. Fassmann hat auch nichts dagegen, als Gentrifizierer bezeichnet zu werden, was dann in der Taz als „Räume besetzen“umschrieben wird.
Was aber nicht nur in der Auseinandersetzung um Chemnitz fehlt, ist eine linke staats- und kapitalismuskritische Position, bei der eben „weltoffen“ nicht zum Synonym für Gentrifizierung wird. Es ist dann nicht ausgeschlossen, dass es zwischen einer solchen eigenständigen antagonistischen Position und der liberalen Fraktion in bestimmten Fragen Kooperationsmöglichkeiten gibt.
Aber das würde bedeuten, dass eine Linke erst einmal eigenständig wahrnehmbar ist. Das Fehlen einer solchen Position lässt sich am Beispiel Chemnitz in den letzten Tagen gut beobachten. Da fragt die liberale Taz, die Polizeieinsätze gegen Demonstrationen sonst heftig kritisiert, warum in Chemnitz nicht Polizei aus anderen Bundesländern angefordert wurde – was inzwischen auch geschehen ist.
Linke sollten nicht die Position des Staatsschutzes übernehmen
Es ist natürlich völlig berechtigt, darauf hinzuweisen, mit welchem Polizeiaufgebot die Staatsmacht im letzten Jahr gegen eine Antifa-Demo in Wurzen vorgegangen ist. Doch das kann aus einer linken und eigentlich auch aus einer liberalen Perspektive nicht dazu führen, dass nun beklagt wird, dass nicht auch in Chemnitz SEK eingesetzt wird.
Auch die Titulierung der Chemnitzer Demonstrationen als „Aufmärsche“ oder „Aufzüge“ ist zu hinterfragen. Solche Begrifflichkeiten werden in der Regel bei Demonstrationen angewandt, die den liberalen Rahmen, den die Staatsmacht wünscht, überschreiten. Dabei nehmen erst einmal Menschen mit unterschiedlicher politischer Gesinnung ein Demonstrationsrecht wahr. Es ist für eine Linke klar, dass sie sich gegen rechte Positionen auf der Straße wendet, auch mit Gegendemonstrationen und Blockaden.
Es ist aber nicht sinnvoll, sich dabei auf die Position einer Polizeibehörde zu begeben, die solche Demonstrationen möglichst ganz verhindern will. Dabei sollte man auch die Taktik der Überskandalisierung hinterfragen. Die harten Polizeieinsätze gegen linke Demonstrationen werden dadurch vorbereitet, indem wochenlang vor Gewalt gewarnt wird wie im Vorfeld von Wurzen.
Es sind vor allem diese rechten Bürger, die jetzt in Chemnitz auf die Straße gehen, die dann harte Hand gegen die Linke fordern. Nun sollten diese nicht den Fehler machen, eine ebenso harte Hand gegen die Rechte zu fordern. Und es ist auch noch eine illusionäre Forderung, weil repressive Staatsorgane strukturell rechts sind, was sich auch an Polizeieinsätzen gegen Punks und Unangepasste in der DDR zeigte.
Jetzt also die Staatsmacht aufzufordern, sie solle doch jetzt mal genauso hart gegen Rechte wie gegen Linke vorgehen, zeugt von der Schwäche der Linken. Da hilft es auch nicht, wenn man dann besonders drastische Begriffe für die Zustände in Dresden benutzt und von „Pogromen“ auf den Straßen der Stadt spricht.
Damit wird man auch den Opfern von tatsächlichen Pogromen in der Vergangenheit und Gegenwart nicht gerecht. Vor allem besteht die Gefahr, dass durch solche alarmistischen Meldungen die Sensibilität für reale Probleme sinkt. Denn manchen, die in den letzten Tagen in Chemnitz auf der Straße waren, sind solche Gedanken durchaus zuzutrauen.
Der geleakte Haftbefehl
Das Fehlen einer linken Position wurde auch bei dem geleakten Haftbefehl deutlich. Was auch immer das Motiv des verantwortlichen Justizangestellten gewesen ist, im Sinne der Transparenz von staatlichen Akten ist nicht einzusehen, warum solche Dokumente geheim bleiben sollen.
Es geht dabei nicht um den Schutz des Verdächtigten, sondern um Staatsschutz. Daran sollte sich eine Linke nicht beteiligen. Die Rechte kann daraus nur Vorteile ziehen, weil scheinbar alle Anhänger des weltoffenen Lagers hier die Staatsraison verteidigen. Dabei kann mit dem Haftbefehl, die in rechten Netzwerken verbreitete Story von den 25 Messerstichen widerlegt werden können, die zur Emotionalisierung der rechten Klientel diente.
Das aber bedeutet nicht, die tödlichen Stiche irgendwie zu relativieren oder unter den Tisch zu kehren. Auch hier konnte das rechte Lager von den Fehlern der anderen Seite profitieren. Anfangs schien der Tote fast nur eine Fußnote und die rechten Demonstrationen standen im Mittelpunkt für das weltoffene Lager. Die Rechte konnte dann noch damit punkten, dass das Opfer einen kubanischen Vater hatte und man so kein Rassist sein könne.
Warum konnte die Ablehnung der rechten Demonstrationen auf Seiten der Gegner nicht verbunden sein mit einer Kritik an den zuweilen toxischen Männergruppen, die dann auch Tote in Kauf nehmen?
Dabei sollten ausdrücklich keine ethnischen Zuschreibungen gemacht werden. Die Täter handelten nicht als Syrer, Iraker etc., sondern als Individuen in konkreten Lebenssituationen. Wieweit dabei Prägungen in ihren Heimatländern, auf der Flucht oder bei ihrem Leben in Deutschland eine Rolle spielen, muss Gegenstand von weiteren Ermittlungen sein.
Zwangshomogenisierung unterschiedlicher Wirklichkeiten
Doch schon jetzt ist klar, dass die Zwangsunterbringung von Migranten an Orten, wohin sie nie wollten, solche Taten eher fördern als verhindern, weil damit auch eine Zwangshomogenisierung völlig unterschiedlicher Individuen verbunden ist, die nur eines gemeinsam haben: Dass sie aus dem gleichen Land oder der gleichen Region geflohen sind.
Die Gründe dafür sind so unterschiedlich wie ihre Lebensrealitäten. Da können ehemalige syrische IS-Kämpfer und ihre Opfer im deutschen Flüchtlingsheim zwangsweise zusammen treffen. Der Kampf gegen diese Zwangshomogenisierung der Migranten müsste ebenso Teil einer linken Praxis „nach Chemnitz“ sein wie die Abwehr der Romantisierung von Flucht und Migration, wie sie in Teilen der Refugees-Welcome-Bewegung anzutreffen war.
Jenseits von rassistischen Ressentiments und Verklärung
Der preisgekrönte Film Global Family, der noch bis 3.9. in der Arte-Mediathek abgerufen werden kann, bietet ein solches Bild jenseits von rassistischen Ressentiments und Verklärung. Am Beispiel einer somalischen Familie wird gezeigt, wie auch innerhalb der Familie selbst gegen eine 90-Jährige Gewalt ausgeübt wird. Man will den Wunsch der alten Frau unterstützen, in Deutschland, wo einer ihrer Söhne lebt, ihre letzten Jahre zu verbringen und bekommt Wut auf die Verhältnisse, die das verhindern.
Man bekommt aber auch einen Grimm auf ihren Sohn, der lieber sein ungebundenes Leben weiterführen will, als seiner Mutter ihren Herzenswunsch zu erfüllen. Denn die Übersiedlung der Mutter nach Deutschland scheitert im Film zumindest daran, dass er keine geregelte Arbeit und auch keine geeignete Wohnung für sie nachweisen konnte.
Nun hätte man annehmen können, dass so ein Nachweis mit etwas Anstrengung hätte beigebracht werden können. Es ist nur eins von vielen Beispielen, wo man sich einen differenzierten Blick wünscht. Das ist die Voraussetzung, dass eine Linke auch wieder Mehrheiten in der Bevölkerung gewinnen kann.
Momentan ist da in Chemnitz wenig Hoffnung. Die Teile der Bevölkerung, die für eine Orbanisierung Deutschlands eintreten, sind nicht offen für linke Themen und da kann sie sich auch alle Versuche sparen.
Doch die Linke soll sich vorbereiten auf Situationen, in denen die Zumutungen der kapitalistischen Gesellschaft auch durch die Ethnisierung des Sozialen und Politischen nicht zugekleistert werden können.
Quelle: Telepolis.de… vom 1. September 2018
Tags: Deutschland, Neue Rechte, Postmodernismus, Rassismus, Repression, Strategie
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