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Politische Ursachen der wachsenden Armut in Deutschland

Eingereicht on 5. April 2015 – 15:29

Daniel Kreutz. Im Februar hat der Paritätische Wohlfahrtsverband (PARI), dessen Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider aus vielen Talkshows als Armenfürsprecher bekannt ist, die lange Liste der Armutsberichte unterschiedlicher Herausgeber ergänzt. Da sich die Botschaften meist ähneln – die Armut wächst und betrifft vorrangig die «üblichen Verdächtigen» (Erwerbslose, Alleinerziehende, Geringqualifizierte, Migranten, Kinder) – und sie von der Politik mit zynischer Regelmäßigkeit ignoriert werden, lösen solche Berichte nur noch selten gesteigertes öffentliches Interesse aus. Der aktuelle PARI-Bericht «Die zerklüftete Republik» enthält indes auch Befunde und Schlüsse, die, obzwar nicht unbedingt neu, doch Aufmerksamkeit verdienen.

Der Bericht dokumentiert auf Basis der Daten für 2013 und in Zeitreihen ab 2006 nicht nur neue Armutsrekorde für Deutschland und fast alle Bundesländer, auch solche mit vergleichsweise niedriger Armutsquote. Er belegt auch eine zunehmende – und titelgebende – sozialräumliche Zerklüftung. Der Schwerpunkt des Berichts liegt auf der vergleichend Betrachtung nach Ländern und Regionen: Betrug der Abstand zwischen der am wenigsten und der am meisten von Armut betroffenen Region 2006 noch 17,8%, waren es 2013 bereits 24,8%.

Bemerkenswert ist insbesondere der «politisch alarmierende» Befund einer doppelten Entkoppelung der Armutsentwicklung: vom gesellschaftlichen Reichtum und von der (registrierten) Arbeitslosigkeit. Zwischen 2006 und 2013 ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) mit Ausnahme des Krisenjahrs 2009 stetig um gut 419 Mrd. Euro auf 2,81 Billionen Euro gestiegen, gleichzeitig sank die Arbeitslosenquote mit gleicher Unterbrechung ebenso kontinuierlich um 36,1% (von 10,8 auf 6,9 Prozentpunkte). Doch die Armutsquote ist um 10,7% weiter gestiegen (von 14% auf 15,5% der Bevölkerung) – seit 2010 mit mehr Dynamik als vor der Krise.

Der PARI-Bericht interpretiert dies zutreffend als Ausdruck zunehmender Verteilungsungleichheit und fortschreitender Prekarisierung von Erwerbsarbeit im Gefolge von Hartz IV. Nur noch einen «schwachen Zusammenhang» sieht er zwischen der Arbeitslosenquote und der SGB-II-Quote, also dem Anteil der Bevölkerung, der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II bezieht. Bei einem Rückgang der Arbeitslosenquote um 36% ist die SGB-II-Quote zwischen 2006 und 2010 nur um 14% gesunken. Dies verweist auf die Zunahme der «working poor», aber auch auf den Kahlschlag in der aktiven Arbeitsmarktpolitik seit 2010, der den ALG-II-Beziehenden gezielt Haushaltslasten der Finanzmarktkrise aufhalste und ihre Rolle als Ladenhüter am Arbeitsmarkt zementierte.

Der Bericht folgert: «Wo das Volkseinkommen nominal wie auch real fast stetig zunimmt, die Arbeitslosenquote sinkt, zugleich jedoch die Einkommensarmut wächst und die Langzeitarbeitslosigkeit auf hohem Niveau verbleibt, haben wir es weniger – oder auch gar nicht – mit wirtschaftlichen, sondern vor allem mit politischen Problemen in Form von wirtschafts-, arbeitsmarkt- und verteilungspolitischen Unterlassungen zu tun.» Manche Wahrheit kann nicht oft genug gesagt werden.

Folgenlose Klage

Leider nur angedeutet, aber nicht mit Daten unterlegt ist: Die Zunahme des Anteils am Gesamteinkommen, den die reichsten Haushalte kassieren, hat offenbar dazu geführt, dass die amtliche Schwelle der Einkommensarmut von 60% des mittleren Einkommens «bedenklich» zum Grundsicherungsniveau hin sinkt und dieses in manchen Regionen bei Familien mit mehreren Kindern bereits unterschreitet. Die bisherige Kluft zwischen Armuts- und Grundsicherungsschwelle, die stets Forderungen nach höheren Regelsätzen befeuerte, könnte sich damit trotz wachsender gesamtwirtschaftlicher Einkommenssumme schließen.

Die abschließend skizzierten Vorschläge, mit denen aus PARI-Sicht gegenzusteuern wäre, weisen zwar im großen und ganzen in die richtige Richtung, bleiben aber gemessen an der eigenen Analyse lückenhaft. So finden sich außer der Forderung nach einer deutlichen Anhebung des Mindestlohns, der mit 8,50 Euro «kein tatsächlich armutspolitisches Werkzeug» ist, keine Vorschläge zum Abbau prekärer Beschäftigungsformen. Vor allem aber wird darauf verzichtet, die realpolitische Schlüsselfrage auch nur zu stellen: Wie können die gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse, die bislang die Umverteilung zur Spitze der Verteilungshierarchie garantieren, aufgebrochen und zugunsten sozialer Gerechtigkeit verändert werden?

Seit Jahrzehnten mangelt es weder an Erkenntnissen über die drängenden Problemlagen noch an brauchbaren Alternativvorschlägen zur neoliberalen Politik. Es mangelt an starken sozialen Bewegungen, die reale Veränderungen in Reichweite bringen könnten. Immerhin hat der PARI dieses «verbotene» Terrain mit den Mobilisierungen des «UmFAIRteilen»-Bündnisses 2012/2013 schon einmal betreten. Es wieder zu räumen, statt nach Strategien der Fortentwicklung zu suchen, wäre ein Rückschritt, den noch so gute Berichte nicht aufwiegen könnten.

Quelle: www.sozonline.de

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