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Die «Beschwerdehefte» der «Gelben Westen»

Eingereicht on 2. Dezember 2018 – 16:47

Robert Duguet. Als soziale Bewegung, die von mehr als 80% des französischen Volkes unterstützt wird, kehrt sie zur Methode des «cahier de doléances» zurück, ein wichtiges vorbereitendes politisches Instrument für die Explosion von 1789 und die Auflösung der Monarchie aus göttlichem Recht. Einige offizielle Vertreter der Arbeiterbewegung dieses Landes, von Parteien oder Gewerkschaften, wollen in der Bewegung nur Elemente der extremen Rechten sehen, wie beispielsweise das Rassemblement National von Marine Le Pen oder Souveränisten à la Dupont Aignan, die versuchen, auf deren sozialen Bestrebungen eine populistische Politik aufzupfropfen, ganz nach dem italienischen Beispiel.

Diese Ängste im Zusammenhang mit den letzten Stützen einer «Arbeiteraristokratie» – bequeme Positionen unter der Verkleidung der Republik – wollen vorerst nicht berücksichtigen, dass diese Schichten der Lohnarbeiterschaft und der ruinierten Kleinbourgeoisie völlig ihrem Schicksal überlassen sind.

Gestern hörte ich im Radio die Aussage eines Bauern über seine materielle Situation; er erklärte, dass er bis zu 80 Arbeitsstunden pro Woche arbeite, ohne dass er und seine Familie davon leben könnten. Noch besser, für diesen Monat November 2018, mache seine eigene Mutter, die im Ruhestand sei, die Einkäufe für den Haushalt. Wie viele dieser Männer und Frauen, die die gelbe Weste tragen, befinden sich jetzt in einer derart erniedrigenden Situation.

Was steckt hinter diesem «Hell-Dunkel»?

Wenn wir also diesen Forderungskatalog lesen, so fällt einem der gelegentlich dessen widersprüchlicher Charakter auf: Ein Volk, das die gewerkschaftlichen Strategien der Aktionstage und der darauf folgenden Niederlagen seit 1995 leid ist, ist mit all seinen Illusionen, seinen ideologischen und organisatorischen Schwächen in Bewegung getreten. Zumal die offizielle Arbeiterbewegung nicht mehr ihre Rolle als Vorläufer des einst so genannten Bewusstseins der Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse spielt, die in der Lage ist, die Gesellschaft auf der Grundlage der Befreiung von der kapitalistischen Ausbeutung neu aufzubauen.

In diesem Hell-Dunkel, um das Bild von Antonio Gramsci zu übernehmen, können neue Monster auftauchen, wenn die Arbeiterbewegung nicht die Initiative ergreift. Ihr Platz ist in der Begleitung der Bewegung der Gelben Westen und der Konvergenz. Dies scheint mir der einzuschlagende Weg ist.

Wie wir eine solche «soziale Bewegung» nicht verstehen dürfen

Leider scheint es, dass einige Strömungen weit links von einer Kurzsichtigkeit betroffen sind, die an Dummheit grenzt. So charakterisierte die Tribune des Travailleurs, ein Organ der POID [Parti Ouvrier Indépendant Démocratique, einer der beiden Flügel des «Lambertismus», den der Autor dieses Artikels gut kennt] von letzter Woche, die Bewegung der Gelben Westen als im Allgemeinen von den Faschisten manipuliert. Der Hauptführer dieser Partei, Daniel Glückstein, schrieb: «Unter der gelben Weste bleibt der Arbeiter ein Arbeiter, und der Chef ein Chef. Ganz zu schweigen von denen, deren braune Hemden unter den gelben Weste hervorragen….» Und er fügt in einer Anmerkung hinzu: «Uniform der SA, Kamptruppen der Hitlerpartei in Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren». Hier wird die überwiegende Mehrheit der Gelben Westen, wenn wir der Logik des Editorials folgen, in Sturmtruppen von Ernest Röhm verwandelt [Führer Sturmabteilung (SA), der im Juli 1934 nach der Auflösung der SA Ende Juni 1934 durch Hitlers Beschluss im Gefängnis hingerichtet wurde]. Es folgt eine ganze Seite mit individuellen Zeugnissen, die in der lokalen Presse gesammelt wurden (was für Quellen!) und rassistische, antisemitische Kommentare oder Aktionen anführen.

Nehmen Sie eine Demonstration der CGT oder des FO und befragen Sie einzelne Teilnehmer: Es wird sicherlich einige geben, die Ihnen sagen werden, dass sie ihre Nachbarn nicht mehr auf dem Treppenabsatz dulden können, weil sie ihre Merguez am Sonntagmorgen auf der Terrasse kochen und dabei zu laut arabische Musik hören. Diese Darstellung ist nicht nur nicht ernst zu nehmen, sie spiegelt auch eine Richtung wider, die wenig mit dem Trotzkismus zu tun hat.

Von Daniel Glückstein waren wir sehr an sehr genaue Zitate aus der «marxistischen Orthodoxie» gewöhnt. Fügen wir diesen folgendes aus 1916 hinzu, einem Jahr vor der großen Russischen Revolution. Hier spricht Lenin: «….. wer auf eine reine soziale Revolution wartet, wird nie lange genug leben, um sie zu erleben. Er ist nur ein Revolutionär in Worten, der nichts davon versteht, was eine wahre Revolution ist. Die sozialistische Revolution in Europa kann nur die Explosion des Massenkampfes der Unterdrückten und Verärgerten aller Art sein. Elemente der Kleinbourgeoisie und rückständige Arbeiter werden unweigerlich daran teilnehmen. Ohne deren Teilnahme ist ein Massenkampf nicht möglich, eine Revolution nicht möglich. Und ebenso unvermeidlich werden sie ihre Vorurteile, ihre reaktionären Fantasien, ihre Schwächen und Fehler in die Bewegung einbringen. Aber objektiv werden sie das Kapital angreifen, und die bewusste Avantgarde der Revolution, das fortgeschrittene Proletariat, das diese objektive Wahrheit einer disparaten, disharmonischen, bunten und auf den ersten Blick eines Massenkampfs ohne Einheit zum Ausdruck bringen wird, wird in der Lage sein, es zu vereinen und zu leiten, die Macht erobern, die Banken erobern, Trusts enteignen, die von allen gehasst werden, wenn auch aus verschiedenen Gründen, und andere diktatorische Maßnahmen durchführen, die alle zum Sturz der Bourgeoisie und zum Sieg des Sozialismus führen werden….“.

«Richtlinien des Volkes»

Wie weit wird diese Bewegung gehen? Niemand weiß es im Moment.

Das Jahr 1788 war das Jahr der Cahiers de Doléances, einer Bewegung eines Volkes, das von einer wirtschaftlichen und sozialen Krise niedergedrückt wurde, die zur Verfassungsgebenden Versammlung führte, einer Bewegung, durch die das souveräne Volk den Rahmen des Sozialpakts selbst neu definierte. Es wird die Arbeiter von 1848 geben, die Commune, die Volksfront, die Befreiung, dann 1968. Die sozialen Bestrebungen der Großen Revolution, die aufgrund des Sieges der Besitzenden noch nicht eingelöst sind, leben in unserem kollektiven Bewusstsein fort. Sind wir nun in diesem Moment des Bruchs?

Am Donnerstag, den 29. November 2018, schickte die Bewegung eine Pressemitteilung an die Medien und Abgeordneten mit rund 40 Forderungen. Die Behauptungen der Gelben Westen gehen nun offiziell über die alleinige Frage der Treibstoffpreise hinaus. In einer langen Erklärung listet die Delegation der Bewegung eine Reihe von Forderungen auf, die sie gerne umgesetzt hätte.

«Abgeordnete Frankreichs, wir teilen Ihnen die Richtlinien des Volkes mit, damit Sie sie in nationales Recht umsetzen können. Gehorcht dem Willen des Volkes. Erzwingen Sie die Umsetzung dieser Richtlinien», schreiben Sie Gelben Westen.

Die Sprecher der Delegation sollen am Freitag, den 30. November 2018 um 14.00 Uhr bei Premierminister Edouard Philippe und dem Minister für den ökologischen Umbau François de Rugy empfangen werden. Zwei Vertreter der «Gelben Westen» trafen sich mit Regierungsvertretern. Einer, Jason Hebert, sagte: «Ich habe wiederholt darum gebeten, dieses Interview zu filmen und live im Fernsehen zu übertragen, es wurde abgelehnt.» Er verliess deshalb nach einigen Minuten den «Dialog der Gehörlosen». Weder Herr Herbert noch das Matignon gaben die Identität der «Gelben Weste» bekannt, die mehr als eine Stunde bei Edouard Philippe und dem Minister für ökologischen Wandel François de Rugy blieb.

Die Forderungsliste…

Nachfolgend eine nicht abschließende Liste von Forderungen, wie sie von Robert Duguet am 30. November zusammenstellte:

– Keine Obdachlosen.

– Mehr Progressivität bei der Einkommensteuer, d.h. mehr Abstufungen.

– SMIC bei eintausend dreihundert Euro netto pro Monat.

– Förderung von Kleinunternehmen in Dörfern und Stadtzentren. Stopp der Errichtung großer Gewerbegebiete in der Nähe von Großstädten, die kleine Unternehmen töten und mehr kostenlose Parkplätze in den Innenstädten.

– Umfassender Plan zur Wohnungsisolierung, in einer Kombination von ökologischen Zielsetzungen und Sparmöglichkeiten für die Haushalte.

– Dass die Großen, Mac Donald’s, Google, Amazon und Carrefour viel Steuern zahlen und kleine Handwerker wenig.

– Gleiches Sozialversicherungssystem für alle, einschließlich Handwerker und Kleinunternehmer. Ende des Sozialversicherungssystems für Selbständige (RSI).

– Das Rentensystem muss solidarisch und damit sozialisiert bleiben. Kein Punktesystem.

– Keine Erhöhung der Treibstoffsteuer.

– Keine Rente unter eintausendzweihundert Euro.

– Jeder gewählte Vertreter hat Anspruch auf das Mediangehalt. Seine Transportkosten werden kontrolliert und bei entsprechender Begründung erstattet. Anspruch auf ein Essensticket und einen Urlaubsgutschein.

– Die Gehälter aller Franzosen sowie die Renten und Zulagen müssen an die Inflation angepasst werden.

– Schutz der französischen Industrie. Verlagerungen verbieten. Der Schutz unserer Industrie bedeutet den Schutz unseres Know-hows und unserer Arbeitsplätze.

– Ende der entsandten Arbeit. Es ist anormal, dass eine in Frankreich arbeitende Person nicht das gleiche Gehalt und die gleichen Rechte erhält. Jeder, der auf französischem Gebiet arbeiten darf, muss einem französischen Staatsbürger gleichgestellt sein, und sein Unternehmer muss auf dem gleichen Niveau wie ein französischer Unternehmer in unser Sozialsystem einzahlen.

– Zur Sicherung der Arbeitsplätze sollte die Anzahl der befristeten Arbeitsverträge für Großunternehmen weiter begrenzt werden. Wir wollen mehr unbefristete Arbeitsverträge.

– Ende der Steuergutschrift für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung (CICE). Verwendung dieses Geldes zur Gründung einer französischen Wasserstoff-Autoindustrie, die im Gegensatz zum Elektroauto wirklich ökologisch ist.

– Ende der Sparpolitik. Wir hören auf, Zinsen für die Schulden zu zahlen, die als illegitim erklärt werden, und wir beginnen, die Schulden zu tilgen, ohne das Geld der Armen und weniger Armen zu nehmen, sondern indem wir die 80 Milliarden Euro an Steuerhinterziehung einziehen.

– Dass die Ursachen der erzwungenen Migration angegangen werden.

– Dass Asylbewerber gut behandelt werden. Wir schulden ihnen Unterkunft, Sicherheit, Nahrung und Bildung für Minderjährige. Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen (UN), um sicherzustellen, dass in vielen Ländern der Welt Auffanglager eröffnet werden, bis der Asylantrag abgeschlossen ist.

– Die abgelehnten Asylbewerber werden in ihr Herkunftsland zurückgeschickt.

– Dass eine echte Integrationspolitik umgesetzt wird. In Frankreich zu leben bedeutet, Franzose zu werden, Französisch-Sprachkurse, Französisch-Geschichtskurse und Staatsbürgerkundekurse mit einer Zertifizierung am Ende des Kurses.

– Das maximale Gehalt beträgt fünfzehntausend Euro pro Monat.

– Schaffung von Arbeitsplätzen für Arbeitslose.

– Erhöhung der Zulagen für Behinderte.

– Begrenzung der Mieten. Erschwinglichere Wohnungen, insbesondere für Studenten und prekäre Lohnabhängige.

– Verbot des Verkaufs von Immobilien, Dämmen und Flughäfen in französischem Staatsbesitz.

– Erhebliche Mittel für Justiz, Polizei, Gendarmerie und Armee. Die Überstunden der Ordnungskräfte soll bezahlt oder kompensiert werden.

– Alle Einnahmen aus der Autobahnmaut werden für den Unterhalt der französischen Autobahnen und Straßen sowie für die Verkehrssicherheit verwendet.

– Da die Preise für Gas und Strom seit der Privatisierung gestiegen sind, wollen wir, dass sie wieder öffentlich werden und die Preise deutlich sinken.

– Sofortiges Ende der Schließung kleiner Eisenbahnlinien, Postämter, Schulen und Geburtskliniken.

– Lasst uns das Wohlbefinden unserer älteren Menschen fördern. Verbot, mit älteren Menschen Geld zu verdienen. Das weiße Gold ist vorbei. Die Ära des grauen Wohlbefindens beginnt.

– Maximal fünfundzwanzig Schüler pro Klasse vom Kindergarten bis zur Oberstufe.

– Erhebliche Ressourcen für die Psychiatrie aufwenden.

– Das Volksreferendum muss in die Verfassung aufgenommen werden. Schaffung einer lesbaren und effektiven Website, die von einem unabhängigen Kontrollorgan überwacht wird, bei dem die Bürger Legislativvorschläge unterbreiten können. Wenn ein Gesetz siebenhunderttausend Unterschriften erhält, muss dieser Gesetzesentwurf von der Nationalversammlung diskutiert, ergänzt und verbessert werden; diese ist verpflichtet, ihn ein Jahr nach Eingang der siebenhunderttausend Unterschriften dem französischen Volk zur Abstimmung vorzulegen.

– Rückkehr zu einer siebenjährigen Amtszeit des Präsidenten der Republik. Die Wahl der Abgeordneten zwei Jahre nach der Wahl des Präsidenten der Republik ermöglicht es, dem Präsidenten der Republik ein positives oder negatives Signal für seine Politik zu geben. Dies würde also dazu beitragen, der Stimme der Menschen Gehör zu verschaffen.

– Pensionierung im Alter von 60 Jahren und für alle Personen, die in einem körperabnutzenden Beruf gearbeitet haben, wie Maurer oder Ausbeiner, Anspruch auf Pensionierung im Alter von 55 Jahren.

– Für sechsjährige Kinder, die nicht zur Schule gehen können, Fortsetzung des PAJEMPLOI-Assistenzsystems, bis zur Vollendung des zehnten Altersjahres.

– Förderung des Güterverkehrs auf der Schiene.

– Keine Quellensteuer.

– Ende der Zulagen für die Präsidenten bis an ihr Lebensende.

– Verbot, Händler dazu zu bringen, eine Steuer zu zahlen, wenn ihre Kunden die Kreditkarte verwenden. Steuer auf Schiffsheizöl und Kerosin.

Quelle: alencontre.org… vom 2. Dezember 2018; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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