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Paris, ein Wintermärchen

Eingereicht on 8. Januar 2019 – 9:21

Sebastian Lotzer. Ein Samstagabend in Paris. Es ist kalt, nicht eiseskalt, aber kalt. Passanten tätigen ihre letzten Einkäufe, Freunde treffen sich im Bistro, essen eine Kleinigkeit, danach werden sie ins Kino gehen, oder in die Bar. Das übliche Leben im Viertel. Aus einer kleinen Seitenstraße ergießt sich ein Strom, nein eher ein Rinnsal von Menschen. Manche von ihnen haben sich gelbe Westen übergestreift. Die Art von Westen, die unter anderen Umständen jahrelang unbenutzt und scheinbar sinnlos in irgendeiner Ecke des Kofferraums des Autos herum liegen. Hier und heute hat ihre scheinbare Nutzlosigkeit ein Ende. Hier und heute verleihen sie Identität, und, was noch wichtiger erscheint, Zugehörigkeit. Für Jene, deren Ekel über die allgegenwärtige Beliebigkeit und Trostlosigkeit sich nicht in der bourgeoisen Süffisanz eines Houellebecq erschöpft. Aus einem Transistor oder ist es ein Megaphon, wer weiß das schon und was spielt das auch für eine Rolle, plärrt verzerrt Joe Dassin: Aux Champs-Élysées. Einige der Demonstranten, denn um solche handelt es sich bei jenen Menschen, die sich diese gelben Westen über gestreift haben, wippen mit dem Kopf im Takt der Musik. Dieses Chanson der Sehnsucht, des Versprechens auf heitere Tage markiert zugleich ihr grundsätzliche Begehren auf ein leichteres Leben als auch den konkreten Fluchtpunkt ihres heutigen Marsches, der in den frühen Stunden des Tages begann und der sie quer durch die Stadt geführt hat. Trotz des langen Marsches und den Strapazen des Tages liegt auf ihren Gesichtern keine Ermattung, kein Schatten. Nein, es scheint eher Zuversicht und Vertrauen in sich und ihre Sache zu sein, die sich in ihren Zügen widerspiegelt. Einige von ihnen werden heute noch die Champs-Élysées erreichen, andere werden, von den Bullen gejagt und mit Tränengas und Gummigeschossen attackiert, ihr Vorhaben aufgeben. Aber nur für heute und deshalb wird es keine Rolle spielen. Sie werden am nächsten Wochenende wieder auf den Straßen unterwegs sein. All die Mühen und Strapazen, all die Gefahren wieder auf sich nehmen. Weil ihr Leben, ihr alltägliches Leben eben genauso ist, Tag für Tag. Und weil sich das ändern soll, muss.

Wenn die französische Regierung die Hoffnung gehegt hatte, die Feiertage und der Winter werden ihr diese lästige Bewegung der Gilets Jaunes irgendwie vom Halse schaffen, so hielt der gestrige Samstag für sie eine Enttäuschung bereit. Landesweit waren es über einhunderttausend Demonstranten, die an den verschiedenen Protesten, Demonstrationen und Aktionen teilnahmen. Und damit mehr, als an dem letzten Aktionswochenende vor Weihnachten. Pariser Genossen hatten im Vorfeld geschrieben, dass dieser Tag von entscheidender Bedeutung sei. Wenn es nicht gelinge, eine massive Mobilisierung auf die Beine zu bringen, drohe die ganze Angelegenheit zu versanden. Auch sei es notwendig, auch in Paris selber wieder stärker präsent zu sein, an dem letzten Aktionstag hatten in Paris nur noch um die 3000 Leute teilgenommen. Ebenso sei es notwendig, wieder im Zentrum der Hauptstadt zu demonstrieren, sich nicht in die Außenbezirke verdrängen zu lassen. Um diese Ziele zu erreichen, sei es notwendig in den Tagen vor dem 5. Januar mit den Nachbarn, den Freunden, den Arbeitskollegen, den Genossen zu diskutieren. Ihre Vorbehalte und Bedenken anzuhören, ernst zu nehmen, sie unter allen Umstände dazu gewinnen, sich den Aktionen anzuschließen. Und auch wenn Paris eben nicht der Nabel der Welt sei, auch wenn viele Pariser dies vielleicht insgeheim dächten, so sei doch hier die mediale Aufmerksamkeit wesentlich höher als bei Aktionen in anderen Städten.

Wer die gestrigen Berichterstattung über den Acte VIII verfolgt hat, weiß, dass dieses Vorhaben der Genossen als gelungen bezeichnet werden darf. Von Al Jazeera bis zur Tagesschau waren die Meldungen über die Proteste und Krawalle prominent platziert, in den französischen Medien bot sich ein ähnliches Bild. Aber fangen wir von vorne an. Am Vormittag versammelten auf den Champs-Élysées 2000 – 3000 Leute, misstrauisch beäugt von Gendarmerie und CRS. Nach einiger Zeit setzte man sich gemächlich in Bewegung, unaufhörlich stießen weitere Demonstranten hinzu, viele von auswärts angereist. Auf dem Platz vor dem Pariser Rathaus dürften dann so um die 10.000 Menschen versammelt gewesen sein, ebenso überflüssige wie eloquente Reden wurden geschwungen. Irgendwann setzte sich die Menge in Bewegung, ein kurzer Zusammenstoß mit einer Bulleneinheit, dann ging es weiter in Richtung Regierungsviertel. Die Bullen hatten erstmals ein zurückhaltendes Konzept, beschränkten sich weitgehend auf Absperrmaßnahmen in Richtung Nationalversammlung. Mehrmals stieß die Demo auf solche Absperrungen, änderte die Richtung und gelangte schließlich an das Ufer der Seine. Die Nationalversammlung fast in Sichtweite ergab sich aber das Problem, dass sämtliche Brücken über die Seine von den Bullen besetzt waren. Einige Durchbruchsversuche waren eher halbherziger Natur, wohl auch weil eigentlich allen klar war, dass es nicht möglich sein würde, heute zur Nationalversammlung zu gelangen. Während also ein Teil der Demonstranten sich noch Scharmützel mit den Bullen an einer der Brücke über die Seine lieferte, war ein anderer Teil schon weiter gezogen und marschierte über den Boulevard Saint-Germain. Hier gingen einige Scheiben zu Bruch, Motorroller und Autos von carsharing Unternehmen gingen in Flammen auf, aus Bauabsperrungen und Stadtmobiliar wurden Barrikaden errichtet. Das besondere Highlight des Tages war aber ohne Zweifel das Eindringen in das Ministerium, in dem sich zu diesem Zeitpunkt der Regierungssprecher von Macron aufhielt. Sichtlich erschüttert, berichtete er später gegenüber Medien davon, das „eine Gruppe von 15 Vermummten, scheinbar wild entschlossen, teilweise ganz in schwarz gekleidet, teilweise eine gelbe Weste tragend, das massive Tor mithilfe einer Baumaschine aufgebrochen und so in den Hof gelangt sei. Dort habe die Gruppe einige Fahrzeuge beschädigt, er sei mit seinem Stab fluchtartig evakuiert worden“. Wie auch immer, am Ende des Tages schloss sich der Kreis und trotz massiver Bullenpräsenz und dem Einsatz von enormen Mengen von Tränengas gelangte eine nicht unerhebliche Anzahl von Demonstranten erneut auf die Champs-Élysées und lieferte sich Scharmützel mit den Bullen, die nicht immer zu deren Vorteil ausgingen.

Kommen wir zum Rest von Frankreich, der für viele Pariser in der Wahrnehmung keine wirkliche Rolle spielt, aber hier entstand die Bewegung der Gilets Jaunes und hier wird sich auch ihr Schicksal entscheiden. Es ist nahezu unmöglich, all die Orte und Städte aufzuzählen, an und in denen es gestern zu Aktionen kam. Eine willkürliche Auswahl. In Rennes brechen Demonstranten die Tür zum Rathaus auf und dringen in das Gebäude eine. In Dijon ziehen die Gilets Jaunes zur Kaserne der Gendarmerie, woraufhin die darin verbliebenen „Stallwachen“ hektisch mit Tränengas und Gummigeschossen um sich ballern. In Nantes kommt es vor der Präfektur zu Zusammenstößen, über Stunden liegt die Innenstadt im Tränengasnebel. In Toulouse und Bordeaux brennen Barrikaden, Zusammenstöße mit den Bullen. In Caen, einer Kleinstadt mit 100.000 Einwohnern, dauern die Kämpfe von den Vormittagsstunden bis in den späten Abend an, überall brennt es, die Bullen haben die Kontrolle verloren.[1] In Saint-Nazaire Verwüstungen an der Präfektur, Angriffe auf ein Bullenrevier. In Troyes wird der Bahnhof besetzt und der Bahnverkehr lahmgelegt, mehrere Autobahnen und wichtige Nationalstraßen werden in ganz Frankreich teilweise über Stunden blockiert. Zusammenstöße auch in Rouen, Lille, Beauvais, Montpellier,…

Wie wird es weiter gehen? Wer weiß? Bewegungen haben ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Vielleicht gelingt Macron mit weiteren Zugeständnissen und Partizipationsangeboten eine Spaltung der Bewegung. Die Forderung nach einem „référendum d’initiative citoyenne“ (RIC), die in den letzten Wochen verstärkt auf den Demonstrationen und in den sozialen Medien erhoben wird, könnte ein Ansatzpunkt für eine Spaltung sein. Die Bewegung ist sehr heterogen und auch wenn es gelungen ist, eine Einflussnahme der radikalen Rechten weitgehend zu verhindern bzw. ihre offensichtliche Präsenz auf den Aktionen teilweise auch handfest unterbunden wurde, ist sie dennoch keine Bewegung ohne Forderungen. Die klugen Leute von Commercy[2] haben deshalb eine Initiative lanciert, um zu verhindern, dass sich nicht legitimierte Wortführer etablieren können oder die Bewegung sich an inhaltlichen Fragen auseinanderdividiert. Ob das gelingen wird, muss bei allem Wohlwollen bezweifelt werden. Auf jeden Fall wird sich die Bewegung erst einmal in den nächsten Wochen auf dem Niveau, dass sie an diesem Wochenende etabliert hat, halten können. Vielleicht wird es auch emotionalisierende Ereignisse geben, es gab ja bisher schon einige Tote, die meisten bei Verkehrsunfällen, aber in Marseille ist eine 80jährige Frau von einer Tränengaskartusche am Kopf tödlich verletzt worden, als sie das Fenster ihrer Wohnung im vierten Stock ihres Hauses schließen wollte. Und bei der Brutalität, für die die französischen Bullen bekannt sind, kann es jederzeit nicht nur zu weiteren Schwerverletzten, sondern auch zu Toten kommen. Diese Option ist ja sogar vom französischen Innenminister als Drohkulissse öffentlich aufgebaut worden. Bald geht die Schule wieder los und die Uni fängt wieder an, dann werden auch wieder Aktionen der Schüler und Studenten in die gesellschaftliche Konfliktualität intervenieren. Das Wintermärchen ist noch nicht zu Ende.

Quelle : non.copyriot.com… vom 8. Januar 2018

 

[1] https://www.youtube.com/watch?v=oLbJbqH0h4A

[2] Der zweite Aufruf von Commercy: Den Aufbau der Versammlungen generalisieren: https://non.copyriot.com/der-zweite-aufruf-von-commercy-den-aufbau-der-versammlungen-zu-generalisieren/

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