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Gelbe Westen: Protestfortsetzung und Wandel der Protestformen

Eingereicht on 21. Januar 2019 – 17:10

Bernard Schmid. Die französische Protestbewegung der „Gelben Westen“ ist nicht tot zu bekommen: Am vergangenen Samstag, den 19. Januar demonstrierte erneut eine beeindruckende Zahl von Menschen in einer Reihe von französischen Städten.

In Toulouse (Südwestfrankreich), wo die Bewegung im Vergleich zu anderen, v.a. ostfranzösischen Regionen relativ links und gewerkschaftsaffin ist, wurde in diesem Zusammenhang von einer „Rekord“mobilisierung am 19.01.19 gesprochen (vgl. lci.fr… und france3-regions.francetvinfo.fr…); die Präfektur, also juristische Vertretung des Zentralstaats, sprach selbst von 10.000 Teilnehmer/inne/n. Im Anschluss kam es zu einigen Reibereien mit den Sicherheitskräften.

Auch in einer mittelgroßen Stadt wie Béziers (Süd- respektive Südwestfrankreich) mit gut 70.000 Einwohner/inne/n war am vorigen Samstag ebenfalls von einem „Rekord“ die Rede, mit in diesem Falle rund 3.000 Teilnehmenden. (Vgl. francebleu.fr…) Nun ist die Sache in diesem konkreten Falle sicherlich stärker ambivalent, oder war es jedenfalls in den Anfängen der „Gelbe Westen“-Proteste, die ja frankreichweit am 17. November 18 einsetzten. Das örtliche Rathaus wird rechtsextrem regiert, unter dem Bürgermeister Robert Ménard (selbst parteilos, doch 2014 auf einer Liste des Front National – mittlerweile Rassemblement National, „Nationale Sammlung“ – gewählt). Vor allem in den Anfangstagen oder -wochen der Mobilisierung tat die örtliche Rathausmannschaft alles, um sich zum vermeintlich gewichtigen Unterstützer der örtlichen Proteste aufzuschwingen. Tatsächlich weist die heterogen zusammengesetzte Protestbewegung auch eine rechte Komponente auf, die konkrete Zusammensetzung variiert je nach Städten und Regionen. Jedoch weisen die vom vergangenen Samstag veröffentlichten Photos (vgl. oben eingestellten Link) dieses Mal auf eine progressive Prägung hin. So blockierten die Protestierenden eine halbe Stunden lang den Zug(fern)verkehr im örtlichen Bahnhof, indem sie sich mit erhobenen Händen über dem Kopf auf die Geleise setzten. Dies beinhaltet eine Anspielung auf die Massenfestnahme von 159 Oberschüler/inne/n (vgl. leparisien.fr… sowie lemonde.fr…) am 06. Dezember 18 in Mantes-la-Jolie, einer Pariser Trabantenstadt mit überdurchschnittlich hohem Migrationsanteil an der Wohnbevölkerung. Die Angelegenheit hatte landesweite Empörung ausgelöst, und an zahlreichen Stellen ahmten Proteste die Szene mit den Händen auf dem Kopf nach. Doch just für Rechte und Rechtsextreme dürfte die Identifikation den mit den Betroffenen im konkreten Falle schwer fallen; eine rechtsintellektuelle Publikation sprach mit Bezug auf die betreffende Schüler/innen/schaft gar von „barbarischen Horden“ (vgl. causeur.fr…). Demnach trägt auch die konkrete Aktion in Béziers keine „rechte Handschrift“.

In der Hauptstadt Paris demonstierten am vorigen Samstag laut französischer Nachrichtenagentur AFP 5.000, laut britischer Agentur Reuters hingegen 10.000 Menschen am Nachmittag (vgl. zu den Agenturzahlen: lefigaro.fr…; und zu dieses Mal ziemlich gut ausgewählten Agenturbildern: lefigaro.fr…) Die Demonstration führte vom zentral gelegenen Pariser Invalidenplatz zur, im Süden der Hauptstadt gelegenen Place d’Italie (im 13. Arrondissement).

Zu Zwischenfällen wie etwa Glasbruch oder auch Auseinandersetzungen mit der Polizei kam es, wie auch am Samstag zuvor (12. Januar), nur in vergleichsweise geringem Ausmaß, gemessen an den Vorgängen am 24. November, 01. und 08. Dezember in der Hauptstadt. Dennoch wurden auch dieses Mal erneut Personen mit Hartgummigeschossen vom Typ flash-ball aus polizeilichen Distanzwaffen verletzt (vgl. lefigaro.fr… (Einzelnachweis: Meldung um 17.31 Uhr).

Vor allem in den vergangenen acht Tagen wurde deren Einsatz zum innenpolitischen Topthema und zur Zielscheibe von zunehmend massiv vorgetragener, öffentlich laut werdenden Kritik. Ein Protestteilnehmer, ein 47jähriger Feuerwehrmann in Bordeaux, liegt aufgrund einer mit solcher Munition erlittenen Kopfverletzung im Koma (vgl. lefigaro.fr…). Auch Gewerkschaften, insbesondere die CGT und die Bildungsgewerkschaft FSU, äußerten sich zum Thema (vgl. in der bürgerlichen Presse dazu: lefigaro.fr…).

Frankreichweit demonstrierten laut Angaben des französischen Innenministeriums erneut 84.000 Menschen, wie bereits am Samstag zuvor (12. Januar 19) laut derselben Quelle. Dies bedeutet einen erheblichen Anstieg gegenüber den Protesttagen am 22. und 29. Dezember 18 – damals sah es zeitweilig so aus, als befinde sich die Protestbewegung im Auslaufen -, aber auch gegenüber dem ersten Termin in diesem Jahr am 05. Januar (damals demonstrierten laut innenministeriellen Zahlen frankreichweit 84.000 Menschen, unter ihnen lt. Beobachtungen des Verf. dieser Zeilen circa 5.000 in Paris). Dieses Mal setzt ein aus den Reihen der Protestbewegung gebildetes Kollektiv, das jeweils vor Ort quantitative Erhebungen vornahm, den Angaben des Innenministeriums eigene Zahlen entgegen. Es spricht für den vorigen Samstag, den 19. Januar 19 von frankreichweit 147.365 Demonstrierenden. (Vgl. lefigaro.fr…) Die Zahl soll offensichtlich möglichst präzise klingen, was natürlich auf die Schwierigkeit stößt, dass es immer eine gewisse mathematische Unschärfe beim Teilnehmer/innen/zählen gibt (bspw. Menschen auf dem Trottoir oder solche, die erst im Laufe einer Demo verspätet hinzukommen…).

Die Erscheinungsformen der Protestbewegung auf den Straßen und Plätzen haben offensichtlich ihren Charakter gewandelt. Und dies aus mindestens drei Gründen.

Zum Ersten war in der Anfangsphase ein Gutteil der Protestbewegung darauf konzentriert, bestimmte Verkehrskreisel oder -knotenpunkte, Kreuzungen, Autobahnauffahrten oder Zubringer über Tage und Wochen hinaus zu besetzen. (Insofern war es auch schwierig, die Teilnehmer/innen/zahl rechnerisch mit denen an klassischen, gewerkschaftlich initiierten Sozialprotestbewegung zu vergleichen, die oft reine Laufdemonstrationen beinhalten, mit denen ein geringerer Zeitaufwand verbunden sind. Hinzu kommen bei gewerkschaftlich initiierten oder begleiteten Sozialprotesten jedoch auch Arbeitsniederlegungen oder Arbeitskämpfe in Unternehmen, die bei diesem Male – im Zusammenhang mit den „Gelbwesten“ – so gut wie keinerlei Rolle spielen.)

Diese Phase ist jedoch weitgehend vorüber. Seit der vorletzten Woche im Dezember 18 wurden zahlreiche besetzte Verkehrspunkte polizeilich geräumt, oder unter der Drohung einer solchen Räumung aufgegeben. Sicherlich spielte auch die damalige Feiertagsperiode eine Rolle bei der Ausdünnung der Präsenz in solchen Örtlichkeiten… und nunmehr die schärfer gewordenen Kältetemperaturen. Selbstverständlich geht auch ein „normales“ Phänomen der Kräfteauszehrung bei manchen Beteiligten, oder der notwendigen Konzentration auf ihr Erwerbsleben (nach einer bestimmten Zeitspanne mit anderem Schwerpunkt), ebenfalls damit einher. An einzelnen Stellen nahmen auch personenbezogene Konflikte an den besetzten Örtlichen zu, zusammenhängend mit einer allgemeinen Anspannung, aber auch etwa mit dem Profilierungsbemühen von Einzelnen.

Zum Zweiten ist die Protestbewegung seit Anfang Januar 19 von einer stärkeren Präsenz (in Form von gut, zum Teil besser als zuvor besuchten samstäglichen Demonstrationen) in urbanen Zentren wie Paris, Toulouse, Bordeaux, aber auch Städten wie Lille und Besançon geprägt. Zwar ist nach wie vor die Bevölkerung kleiner und mittlerer Kommunen oder Städte – gemessen an der jeweiligen Einwohner/innen/zahl – stärker als die urbaner Ballungsräume in dieser Protestbewegung präsent. Dies war von Anfang an ein Kennzeichen just dieser Protestbewegung. Doch nunmehr kommen die Einwohner/innen kleinerer Kommunen in wachsendem Ausmaß in mittlere und größere Städte, um dort zu demonstrierende, wie bspw. aus den Dörfern und Kleinstädten der Normanie nach Evreux usw.

Insofern ähneln die samstäglichen Demonstrationen nunmehr verstärkt denen etwa gewerkschaftlich beeinflusster Sozialprotestbewegungen, die sich auch meist in mittleren und größeren städtischen Zentren wie den Bezirkshauptstädten (chefs-lieux oder sièges de préfecture) sowie den urbanen Zentren konzentrieren.

Zum Dritten geht damit aber auch ein Formwandel einher. An den letzten beiden Samstagen (12. und 19. Januar) waren etwa in Paris Ordnerdienste – services d’ordre – zu beobachten, die für einen mehr oder minder reibungslosen Ablauf der Demonstrationen sorgen sollen. Es ist nicht ganz klar, wer diese beauftragt hat, da es keine zentrale Koordinierungsstruktur der aktuellen Protestbewegung gibt, im Unterschied etwa zu einer Gewerkschaftsvereinigung, die – sei es im Guten oder im Schlechten – eine identifizierbare Leitungsstruktur mit mehr oder minder klaren Verantwortlichkeiten aufweist, und in der Regel eben auch einen identifizierbaren Ordnerdienst. (Notwendige Anmerkung dazu: Es existierte seit dem 26. November 18 ein achtköpfiges Sprecher/innen/gremium, das, in der östlichen Pariser Vorortzone – wo die „Gelbwesten“-Bewegung, im angrenzenden kleinstädtischen Raum, relativ stark verankert ist – entstand und sich durch die Facebook-Konsultation wohl einiger Tausend Sympathisant/inn/en legitimierte. Dieses fiel jedoch mittlerweile auseinander. Die Therapeutin und Karibikfranzösin Priscillia Ludosky einerseits, der eher rechtslastige und ziemlich draufgängerische Fernfahrer Eric Drouet – eine der prominentesten Figuren der Bewegung, in den letzten Wochen mehrfach festgenommen – auf der anderen Seite gingen offenkundig im Streit auseinander (vgl. dazu in bürgerlichen Medien etwa: bfmtv.com… und huffingtonpost.fr… oder 20minutes.fr… sowie nouvelobs.com…)

Es ist prinzipiell nicht verkehrt, wenn es eine Art Sicherungsabteilung in Demonstrationen gibt, welche bei Übergriffen auf eine Demo aktiv werden kann, aber i.d.R. auch (meist präventiv) kontraproduktive Vorgehensweise wie Plünderungen mindestens eindämmt.

Das Problem ist in diesem Falle, dass an den letzten beiden Samstagen – besonders jedoch am 12. Januar 19 – eine Reihe von Visagen, die ziemlich unzweideutig entweder zu Militärs oder zu Faschisten oder einer Schnittmenge aus beidem (die es unschwer geben kann) gehören, ausgemacht wurden. Eine kleine Fotosammlung vom 12.01.19 von antifaschistischer Seite steht i.Ü. neben diesem Artikel. Wahrscheinlich wurden diese Leute aus eigenem Antrieb aktiv, es genügte ja, sich freiwillig zu melden. Doch in diesem Falle dürfte das vermeintliche Heilmittel (gegen kontraproduktive Aktionen) unzweifelhaft schlimmer sein als das Übel, das es etwa bekämpfen könnte.

Generell bemühen sich bestimmte rechte (rechtsextreme) Strömungen, besonders auch aus dem verschwörungstheorieaffinen und antisemitischen Spektrum, in jüngster Zeit verstärkt um Sympathiewerbung in den Reihen der Protestbewegung oder an ihren Rändern. Am späten Abend des Samstag, 22. Dezember 18 wurden in der Linie 4 der Pariser Métro drei Gelbwesten-Träger beobachtet, die in der Station Réaumur-Sébastopol zustiegen, in Richtung Stadtzentrum fuhren und antisemitische Lieder sangen. Nachdem sie eine ältere, sich als Jüdin zu erkennen gebende Dame verbal belästigt hatten und dies durch eine Twitter-Nachricht eines Journalisten – der nach 23 Uhr im selben Métro-Waggon gesessen hatte – publik wurde, löste dies am folgenden Tag einen öffentlichen Skandal aus. Am Vormittag desselben Samstags hatten einige Träger gelber Westen am Montmartre-Hügel den, seit 2009 durch den prominenten antisemitischen Agitator Dieudonné M’bala M’bala popularisierten, „Quenelle-Gruß“ entboten. (Vgl. huffingtonpost.fr… und lci.fr…)

Am 12. Januar 19 kam es erneut zu Sprüchen mit antisemitischer Tendenz seitens von einzelnen Gelbwesten-Trägern, denen dieses Mal jedoch andere Träger/innen gelber Westen unter den Umstehenden explizit ins Wort fielen und widersprachen (vgl. lefigaro.fr…). Und am 19. Januar fand, allerdings in räumlicher Entfernung zum Geschehen in Zusammenhang mit der Demonstration, im südlichen Pariser Vorort Rungis – wo sich die Großmarkthallen befinden – ein Meeting des hauptberuflichen Antisemiten Alain Soral statt, an seiner Seite agitierten u.a. der notorische Auschwitzleugner Hervé Ryssen und Jérôme Bourbon, Chef der alt- und neofaschistischen Wochenzeitung < Rivarol >. An der Veranstaltung, die unter das Motto „Gelbe Westen – die kommende Revolution“ gestellt worden war, nahmen rund 500 Personen teil. (Vgl. actu.orange.fr…)

Wohlgemerkt: Dafür können die übrigen Träger/innen von gelben Warnwesten nichts, es handelt sich vielmehr um einen bewussten Andockversuch. Doch die Protestbewegung wird sich darüber bewusst sein müssen, dass sie über diverse Gegner und Feinde verfügt, und dies keineswegs nur in Gestalt von Regierung und Polizei.

A propos Polizei, hier noch einige jüngere Zahlen zur Proteststatistik seit dem 17. November 18:

  • 475 (vorübergehend) Festgenommene,
  • 339 Fälle polizeilicher Ingewahrsamnahme,
  • 153 Fälle von Inhaftierung zur Untersuchungs- oder bereits (infolge von Eilverfahren) verhängter Strafhaft,
  • 82 Schwerverletzte,
  • 14 Personen, die ein Auge verloren (wg. Hartgummigeschossen),
  • Ein Todesfall im zweiten Geschoss eines Wohnhauses in Marseille wegen Hineinfallens einer Tränengasgranate – dies betraf eine 80jährige Dame aus Algerien; ANMERKUNG: es gab noch zehn oder elf weitere Todesfälle, die allerdings mit Auffahrunfällen im Verkehrsgeschehen zusammenhängen und nicht etwa auf Repression zurückzuführen sind;
  • 200 Strafanzeigen wegen Polizeigewalt, wobei die IGPN (= Dienstaufsicht) in 78 Fällen wegen eventueller Verfehlungen ermittelt.

Auch und besonders in dieser Hinsicht ist das Protestgeschehen in diesem Winter „rekordverdächtig“…

Quelle: labournet.de… vom 21. Januar 2018

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