Notre Dame brennt – ein Grund zum Feiern?
Oscar Fernandez. Eine bekannte antiklerikale Phrase des russischen Anarchisten Pyotr Kropotkin, die aufgrund des Brandes in der historischen Kathedrale Notre Dame in Paris durch die sozialen Netzwerke fegte, lautet: „Die einzige Kirche, die erleuchtet, ist eine brennende.“ Wir wollen über diesen Gedanken diskutieren, denn wenn wir nicht der Meinung sind, dass es einen großen Verlust an Kultur und historischem Erbe gegeben hat, laufen wir Gefahr, Schlüsselelemente der Geschichte der Völker zu vergessen.
Wir wollen über diesen Gedanken diskutieren, denn wenn wir nicht der Meinung sind, dass es einen großen Verlust an Kultur und historischem Erbe gegeben hat, laufen wir Gefahr, Schlüsselelemente der Geschichte der Völker zu vergessen.
Die Welt war berührt, als sie von dem Brand der Kathedrale Notre Dame in Paris erfuhr. Mehrere Stunden lang verzehrten die Flammen das Dach, das zum Totalschaden erklärt wurde, sowie das Westliche Rosenfenster (1225 gebaut) und das Nördliche und das Südliche Rosenfenster (beide ab 1250). Ein Team von 400 Feuerwehrleuten – praktisch das gesamte Pariser Feuerwehrkorps – wurde beauftragt, den Brand zu bekämpfen, bis bekannt wurde, dass er nachgelassen hatte.
Mehrere Kunstwerke innerhalb von Notre Dame wurden schnell herausgenommen, um ihren Verlust zu verhindern. Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass das Gebäude Schäden erleidet und saniert werden muss. Ursprünglich im gotischen Baustil erbaut, wurde der erste Stein 1163 unter König Ludwig VII. (1137-1180) vom Haus Capet gesetzt und endete fast zwei Jahrhunderte später im Jahr 1345.
Notre Dame steht seit fast 800 Jahren, die nicht unbemerkt geblieben sind. Obwohl das Gebäude, wie bereits erwähnt, im gotischen Stil erbaut wurde, erfuhres mehrere Umgestaltungen, unter anderem im Barockstil, die aus der Restaurierung unter König Ludwig XIV. (1643-1715) stammen. Zwischen 1630 und 1707 beauftragte die Goldschmiedezunft jedes Jahr Künstler wie La Hyre oder Sébastien Bourdon mit einem Bild. Insgesamt wurden 77 große Gemälde in Auftrag gegeben, um das Innere des Doms zu schmücken.
Während der Französischen Revolution (1789) erlitt das Gebäude jedoch Schäden und wurde von den Massen zerstört – etwa als sie die Statuen der Könige von Juda enthaupteten, weil sie dachten, sie seien französische Könige -, später wurde dort Napoleon selbst zum Kaiser gekrönt. Im 19. Jahrhundert befand sich die Kathedrale in einem verfallenen Zustand und Victor Hugo versuchte mit seinem Buch „Der Glöckner von Notre-Dame“, das Bewusstsein für ihre Einzigartigkeit zu schärfen. So wurde 1844 unter der Leitung von Eugène Viollet-le-Duc und Jean-Baptiste-Antoine Lassus der zentrale Turm (den das Feuer zerstört hatte) gebaut, der 1860 fertiggestellt wurde.
Die historische Bedeutung von Notre Dame liegt darin, dass sie die Zerstörung der wichtigsten mittelalterlichen Gebäude überlebt hat, die von Napoleon abgerissen wurden, um dem Projekt der „Modernisierung“ unter Leitung Georges-Eugène Haussmanns Platz zu machen, dass das „Neue Paris“ beleben sollte: ein urbanes Zentrum mit vielen Verkehrsmitteln und Kreuzungen. Ein Projekt, das auf der Zerstörung der gotischen mittelalterlichen Architektur basierte und das Bild des historischen Paris begrub: das von Elend und Überbevölkerung.
Napoleon III. setzte das Werk seines Onkels fort und befahl 1852, nach der Revolution von 1848, den allgemeinen Wiederaufbau von Paris. Auf seinen Befehl hin wurden majestätische und grandiose Alleen gebaut. Hinter der scheinbar ästhetischen Erweiterung der Straßen verbirgt sich jedoch ein strategisches Ziel: das Proletariat daran zu hindern, so leicht wie vier Jahre zuvor Barrikaden zu bilden, da dadurch die Straßen und Gassen verengt wurden. Notre Dame überlebte die Versuche der beiden französischen Kaiser, der Hauptstadt ein zeitgemäßeres Bild zu verschaffen.
Im 20. Jahrhundert überlebte Notre Dame zwei Weltkriege, eine nationalsozialistische Besetzung, bei der General Dietrich von Choltitz dem Befehl Hitlers, die Stadt in Brand zu setzen, direkt widersprach, um ihre Schönheit zu erhalten. 1965 war die Stadt wieder einmal auf dem Titelblatt aller Zeitungen, als die römischen Katakomben entdeckt wurden. Mit den Worten des britischen Marxisten Alex Callinicos:
„Man kann zu Recht sagen, dass die mittelalterlichen Kathedralen ein wesentlicher Bestandteil der ideologischen Apparate des europäischen Feudalismus waren. Aber es waren auch die Werke der kollektiven Kunst, das Ergebnis der anonymen Arbeit vieler begabter Handwerker, die sich stark vom romantischen Ideal der Kunst als Ausdruck der individuellen Subjektivität eines einzelnen Genies unterschieden. Ich habe lange gedacht, dass sie in dieser Hinsicht vorwegnehmen, wie Kunst in einer kommunistischen Gesellschaft aussehen würde. Aber, weniger überheblich, sagt man einfach, dass Notre Dame alt und schön ist und Teil dessen, was Paris zu Paris macht. Es ist eines der Dinge, die Paris so sehr von London unterscheiden: das Überleben eines mittelalterlichen Zentrums“.
Das Gebäude brannte ab, nicht die Institution.
Ist alles verloren? Glücklicherweise können wir dies verneinen. Nicht nur, weil der Rest der Kunstwerke innerhalb der Kirche an einem anderen Ort in Sicherheit gebracht wurden, sondern weil es unzählige Bilder, Repliken und Nachbildungen unterschiedlicher Art gibt. Es gibt mindestens zwei Repliken in Nordamerika und eine weitere in Belgien, die von der Pariser Kirche inspiriert wurden, sowie eine digitale Nachbildung von Caroline Miousse für das Videospiel „Assassin’s Creed Unity“, sodass man mit Sicherheit sagen kann, dass der Wiederaufbau doch nicht so grosse Schwierigkeiten bereiten wird.
Trotz all dem dürfen wir jedoch nicht ausser Acht lassen, dass die Menschheit ein wertvolles Erbe der Weltgeschichte verloren hat. Nachdem sie dies erfuhren, feierten einige in sozialen Netzwerken das Feuer mit dem Satz „Die einzige Kirche, die erleuchtet, ist eine brennende“.
Es ist nicht schwer zu erraten, was diese Leute gedacht haben. Es ist wahr, dass die Kirche eine dunkle und repressive Institution ist, die Fälle von sexuellem Missbrauch von Minderjährigen durch Priester vertuscht und mit den schrecklichsten Diktaturen der Geschichte kollaborierte. Sie sah beispielsweise kein Problem darin, Babies in Südamerika zur Zwangsadoption zu geben, bevor die Diktaturen ihre Mütter hinrichteten, sowie unzählige andere Verbrechen gegen die unterdrückten Segmente der Gesellschaft.
Aber eine Kirche ist nicht dasselbe wie die Kirche; obwohl diese Institution seit über einem Jahrtausend besteht und ein getreuer Verbündeter herrschender Klassen ist, mindert ein Feuer in einer Kirche, so majestätisch sie auch sein mag, nicht die Macht und den Einfluss der Institution auf die Bevölkerung, sowie das Werfen eines Steins und das Zerschlagen eines Fensters eines Starbucks-Cafés die millionenschweren Gewinne, die das multinationale Unternehmen aus dem Schweiß seiner Arbeiter*innen macht, nicht verändert. In diesem Sinne hat der Marxismus seit seiner Entstehung über das Problem der Religion diskutiert.
Einer der bekanntesten Sätze von Marx ist „Religion ist das Opium des Volkes“, aber das vollständige Zitat ist weniger bekannt und noch weniger der Kontext, in dem er dies sagte. Zu Marx‘ Lebenszeiten war Opium die Ursache von Konflikten, wie der Opiumkrieg in China, und wurde als starkes Schmerzmittel eingesetzt und besonders von Müttern verwendet, um ihre Kinder ruhig zu halten, und war auch die Quelle von Halluzinationen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Marx die Metapher in all diesen Aspekten gemeint hat.
„Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“
Aber obwohl Marx sah, dass die Rolle der Religion darin bestand, die Arbeiter*innenklasse und die Gesellschaft insgesamt in einem passiven Zustand zu halten, um Aufstände gegen die Oberschicht zu verhindern, unterstützte Marx nie die Idee, Religion zu verbieten und Kirchen und Altare niederzureißen. Jahrzehnte später teilte Lenin selbst diese Position und erklärte sie in seinem Artikel “Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion“ (1909):
“Wir müssen die Religion bekämpfen. Das ist das Abc des gesamten Materialismus und folglich auch des Marxismus. Aber der Marxismus ist kein Materialismus, der beim Abc stehengeblieben ist. Der Marxismus geht weiter. Er sagt: Man muss verstehen, die Religion zu bekämpfen, dazu aber ist es notwendig, den Ursprung, den Glauben und Religion unter den Massen haben, materialistisch zu erklären. Den Kampf gegen die Religion darf man nicht auf abstrakt-ideologische Propaganda beschränken, darf ihn nicht auf eine solche Propaganda reduzieren, sondern er muss in Zusammenhang gebracht werden mit der konkreten Praxis der Klassenbewegung, die auf die Beseitigung der sozialen Wurzeln der Religion abzielt.“
Sowohl Marx als auch Lenin waren der Meinung, dass der Schlüssel zur Bekämpfung von Religion, Aberglauben und Unwissenheit eine geduldige Erklärung sei, ohne auf die Verfolgung der Überzeugungen der Massen zurückzugreifen. Andernfalls würden wir uns der Rhetorik derer anschließen, die unter einer „republikanischen“ und anti-theistischen Fassade Charlie Hebdos islamfeindliche Karikaturen feierten, oder schlimmer noch, wir wären so nicht anders als die Barbarei des islamischen Staates, der unzählige Gebäude des babylonischen Erbes in der Stadt Palmyra zerstörte.
Der Brand in der Kathedrale von Notre Dame muss uns zum Nachdenken anregen, welche Auswirkungen er auf die heutigen Generationen haben wird. Leon Trotzkis Worte weisen in eine entgegengesetzte Richtung zu denen, die den Glauben haben, dass „die einzige Kirche, die erleuchtet, eine brennende ist“. In einem Artikel mit dem Titel „Kultur und Sozialismus“ sagt Trotzki 1926:
„Die Kunst ist eine der Formen, durch welche der Mensch sich in der Welt orientiert; in dieser Hinsicht unterscheidet sich die Erbschaft der Kunst von der Erbschaft der Wissenschaft und der Technik nicht und ist nicht weniger widerspruchsvoll. […] Die Kunst früherer Jahrhunderte machte den Menschen komplizierter und biegsamer; sie erhob seine Psyche auf eine höhere Stufe und bereicherte sie allseitig. Diese Bereicherung ist eine unschätzbare Eroberung der Kultur. Die Erfassung der alten Kunst erscheint darum nicht nur als eine unbedingte Voraussetzung für die Schaffung einer neuen Kunst, sondern auch für den Aufbau einer neuen Gesellschaft; denn für den Kommunismus braucht man Menschen mit hoher Psyche. Ist indessen die alte Kunst fähig, uns mit künstlerischem Erkennen die Welt zu bereichern? Sie ist es. Eben darum ist sie in der Lage, unseren Gefühlen Nahrung zuzuführen und sie zu erziehen. Verwerfen wir die alte Kunst in Bausch und Bogen, sind wir sofort geistig ärmer.“
Letztendlich repräsentiert die Kathedrale Notre Dame, wie viele andere großartige Bauwerke der Vergangenheit in der Welt, und trotz derer, die behaupten, Eigentümer der Geschichte zu sein, auch diese Vergangenheit, die majestätisch durch die Hände Tausender „unsichtbarer“ und versklavter Arbeiter*innen gebaut wurde – die wahren Schmiede der Geschichte der Völker.
Quelle: klassegegenklasse.org… vom 19. April 2019 mit einigen sprachlichen Aenderungen durch Redaktion maulwuerfe.ch
Tags: Frankreich, Lenin, Marx, Strategie, Trotzki
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