ArbeiterInnenkämpfe im Iran
In Anbetracht der Entwicklung der Protestbewegung im Iran veröffentlichen wir hier einige Übersetzungen der jüngsten Erklärungen des „Rates für die Organisation der Proteste der ÖlvertragsarbeiterInnen“ und des „Syndikats der ZuckerrohrarbeiterInnen von Haft Tappeh“. Ihre Entscheidung, in den Streik zu treten, wurde vom Regime zwangsläufig mit Repression beantwortet. Trotzdem bleiben sie, wie sie selbst sagen, hoffnungsvoll, dass die ArbeiterInnen „ihre historische Rolle bei der Führung und Vereinigung der Straßenproteste spielen können, um die Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung einzuläuten„.
Wir stellen ein Ultimatum
Ihr wisst alle, dass während unseres Protestes in Solidarität mit dem Aufstand der Bevölkerung einige unserer KollegInnen in Asaluyeh festgenommen wurden. Wir haben erklärt, dass wir nicht aufgeben und unseren Protest fortsetzen werden. Deshalb versammelten sich unsere Kolleginnen und Kollegen am Mittwoch, dem 12. Oktober, vormittags an mehreren Orten, aber nicht nur sie wurden festgenommen und nicht wieder freigelassen, sondern auch eine Reihe anderer, so dass mittlerweile mehr als 30 unserer Kolleginnen und Kollegen festgenommen sind (leider dauert die sofortige Erstellung der vollständigen Liste der Verhafteten aufgrund der zahlreichen Subunternehmen und verstreuten Arbeitsstätten einige Zeit). In der Zwischenzeit wird die Atmosphäre in unserem Arbeitsumfeld stark von der Polizei beherrscht. Wir erklären, dass die Verhaftungen und Drohungen nicht nur keinen Einfluss auf unsere Entschlossenheit haben, unseren Protest fortzusetzen, sondern dass diese Repressionen unsere Wut noch um ein Hundertfaches steigern. In unserem ersten Ultimatum vom 26. September kündigten wir an, dass wir streiken würden, wenn die Repressionen nicht aufhören. Als wir keine Antwort erhielten, legten wir die Arbeit nieder und versammelten uns in Solidarität mit den Protesten der Bevölkerung. Jetzt stellen wir ein Ultimatum: Wenn unsere Kolleginnen und Kollegen nicht sofort freigelassen werden und die Repressionen in unseren Arbeitsstätten weitergeht, werden wir unsere Proteste in weiteren Formen fortsetzen und nicht schweigen. Wir bitten unsere Kolleginnen und Kollegen in der gesamten Ölindustrie, sich zu vereinen und nicht zuzulassen, dass diese Unterdrückung und Sklaverei weitergeht. Ebenso lautet unsere Botschaft an die Bevölkerung und alle Arbeiterinnen und Arbeiter im Iran: Lasst uns in diesem höllischen Arbeitslager nicht allein, sondern unterstützt uns. Setzt euch für die sofortige Freilassung unserer Kolleginnen und Kollegen ein. Alle kürzlich Inhaftierten müssen freigelassen werden! Diese Repressionen müssen ein Ende haben! ArbeiterInnen vereinigt euch! (Rat für die Organisierung der Proteste der VertragsarbeiterInnen im Erdölsektor, 13. Oktober 2022)
Über die Festnahmen und die Repressionen
Nach den bisher vorliegenden Informationen wurden während der Proteste unserer Kolleginnen und Kollegen am 10., 11. und 12. Oktober mehr als 250 Personen verhaftet. Unter dem Druck unserer Proteste und unseres Ultimatums, die Proteste in einer breiteren Form fortzusetzen, wurden einige von ihnen inzwischen freigelassen, doch viele befinden sich noch in Haft. Ein wichtiger Bestandteil unseres Kampfes als ÖlarbeiterInnen ist die sofortige Freilassung aller inhaftierten Kolleginnen und Kollegen, die Unterstützung der Familien der inhaftierten Angehörigen und das Eintreten für den Rückzug der Repressionskräfte vom Arbeitsplatz, um die strenge polizeiliche Überwachung zu durchbrechen, die unsere Arbeit beherrscht. Leider haben wir, wie wir bereits angekündigt haben, aufgrund der starken polizeilichen Klimas am Arbeitsplatz und der Existenz vieler Unternehmen in Asaluyeh keine vollständige Liste mit den Namen der KollegInnen, die derzeit festgenommen sind. Der Organisationsrat bittet alle Kolleginnen und Kollegen, die Namen der verhafteten Arbeiterinnen und Arbeiter in ihrem Unternehmen zusammen mit Informationen über den Tag der Verhaftung und den Ort der Inhaftierung sowie deren Fotos an den Telegram-Kanal des Organisationsrats zu schicken. Die Kampagne für die Freilassung der verhafteten Kollegen, das Durchbrechen des vorherrschenden Überwachungsklimas in den Unternehmen ist ein wichtiger Schritt für uns ÖlarbeiterInnen, um unsere Proteste und die Solidarität mit den Kämpfen der Bevölkerung fortzusetzen. Wir bitten alle ArbeiterInnen und Menschen, uns auf jede erdenkliche Weise dabei zu helfen, diese Kampagne voranzutreiben und zu unterstützen, um die Einheit und des Kampfes im Ölsektor und auf nationaler Ebene zu stärken. (Rat für die Organisierung der Proteste der VertragsarbeiterInnen im Erdölsektor, 17. Oktober 2022)
Ein Kapitel aus der Geschichte der iranischen ArbeiterInnenbewegung
In den Jahren 2004 und 2005 begannen die ZuckerrohrarbeiterInnen von Haft Tappeh angesichts ihrer niedrigen Löhne und der verspäteten Lohnauszahlungen ihre Proteste unter der Losung „Wir sind Arbeiter von Haft Tappeh, wir sind hungrig, wir sind hungrig“. Inmitten des Aufruhrs und der Proteste kamen die ArbeiterInnen von Haft Tappeh zu dem Schluss, eine unabhängige ArbeiterInnenorganisation zu gründen. Die ArbeiterInnen von Haft Tappeh waren mit dem Organisieren vertraut, denn 1974 hatten sie eine kollektive Organisation, die jedoch während des Aufstands von 1979 inaktiv geworden war. Während der Kämpfe in den Jahren 2004 und 2005 fasste ein großer Teil der ArbeiterInnen den Plan, sich zu organisieren, und kam in zahlreichen Versammlungen zu dem Schluss, ihre eigene unabhängige ArbeiterInnenorganisation aufzubauen. So gründeten die ArbeiterInnen im November 2007 ohne die Erlaubnis der Regierung, der Bosse und des Arbeitsministeriums gemeinsam ihre eigene ArbeiterInnenorganisation. Durch die Aufstellung von Delegierten und von Wahlurnen in verschiedenen Bereichen der Fabrik, darunter auch den Feldern der ZuckerrohrarbeiterInnen und in den Unterkünften, wählten die ArbeiterInnen ihre eigenen VertreterInnen. Die Wahlen fanden in einer Situation statt, in der die ArbeiterInnen und ihre VertreterInnen schwersten Bedrohungen ausgesetzt waren. Drohungen seitens der Bosse, der Sicherheitsorgane, das Risiko von Entlassungen und andere Sorgen. Doch trotz ihrer Ängste und des von der Polizei beherrschten Klimas gelang es den ArbeiterInnen, im November 2008 eine unabhängige Organisation der ZuckerrohrarbeiterInnen von Haft Tappeh ins Leben zu rufen. Aber innerhalb kürzester Zeit haben die Feinde der ArbeiterInnenklasse die gewählten Vertreter verhaftet, eingesperrt und vertrieben und so das Wachstum und die Ausweitung der Aktivitäten der Betriebsversammlung und die Abhaltung von Vollversammlungen für Wahlen (durch die Schaffung eines Klimas umfassender Unterdrückung) verhindert. Der polizeiliche Druck hat uns seit 2007 daran gehindert, eine Vollversammlung abzuhalten, doch trotzdem war das Syndikat der Zuckerrohrarbeiter von Haft Tappeh immer an der Seite der ArbeiterInnen und konnte der Stimme der ArbeiterInnen von Haft Tappeh so weit wie möglich Gehör verschaffen. Von November 2008 bis November 2022 haben sich grundlegende Veränderungen im Kampf der ArbeiterInnen vollzogen. Die Ausbreitung der Proteste und das Niveau der täglichen Kämpfe der ArbeiterInnen steigerten sich von Tag zu Tag. Der Forderungskatalog der ArbeiterInnen hat sich aufgrund der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bedingungen grundlegend geändert, und das Selbstbewusstsein der ArbeiterInnen ist viel stärker als in der Vergangenheit spürbar geworden. Dennoch ist das Fehlen, bzw. die organisatorische Schwäche unabhängiger ArbeiterInnenorganisationen nach wie vor eine der grundlegenden Schwächen der ArbeiterInnenbewegung im Iran. In einer solchen Situation, in der unsere Kinder und die Unterdrückten auf der Straße sind, in einer Situation, in der die Schulen, die Universitäten und die Straße zu Bastionen des Kampfes geworden sind, in der wir Streiks von LehrerInnen und verschiedenen anderen Teilen der ArbeiterInnenschaft erleben, gibt es wieder Hoffnungen, dass die ArbeiterInnen ihre eigenen unabhängigen Organisationen schaffen können, denn ohne ihre eigene Organisation können die ArbeiterInnen den Intrigen und Plänen der Klassenfeinde nicht standhalten. Wir wollen nicht ständig wiederholen, dass es notwendig ist, sich zu organisieren, denn die ArbeiterInnen sind sich dessen bewusst. Der entscheidende Punkt ist, dass wir in der Lage sein sollten, aus der aktuellen Situation zu lernen und die entstandenen Möglichkeiten zu nutzen und Schritte auf dem Weg der Organisierung zu unternehmen. Anlässlich des Jahrestages der Gründung als unabhängige Organisation hat das Syndikat der ZuckerroharbeiterInnen von Haft Tappeh folgende Botschaft: Aus eigener Kraft können wir uns gegen alle Unterdrücker und Ausbeuter stellen und ArbeiterInnenorganisationen schaffen, die von der Regierung, den Bossen und den Parteien unabhängig sind. Es ist angebracht, den Mut der unterdrückte Frauen und Männer zu erwähnen, die nie aufgehört haben, für ihre Wünsche und Forderungen, für ihre Rechte zu kämpfen, und die trotz des Klimas der Unterdrückung, der Morde und der Inhaftierungen immer noch mitten im Kampf stehen. Heute sind die Straße, die Schule und die Universität miteinander verbunden. Über die bisher sporadischen Streiks und die Unterstützung der ArbeiterInnen hinaus besteht die Hoffnung, dass die ArbeiterInnen als Klasse durch umfassende und landesweite Streiks ihre historische Rolle bei der Führung und Vereinigung der Straßenproteste spielen können, um die Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung einzuläuten. Grüße an die bewussten und kämpferischen Mädchen und Jungen, die die Welt mit der Losung „Frau, Leben, Freiheit“ erschütterten. Grüße an die Arbeiter und Werktätigen, Frauen und Männer, die unter der Losung „Brot, Arbeit, Freiheit – Rätemacht!“ für die Befreiung kämpfen. Auf dass sie für ihre Sache weitergehen und nicht mehr zulassen, dass Opportunisten und Ausbeuter über ihr Schicksal bestimmen.“(Syndikat der ZuckerrohrarbeiterInnen von Haft Tappeh)
Zum Weiterlesen:
- Iran: Über den Hijab als Arbeitsdisziplin und die Parole „Frau, Leben, Freiheit“: leftcom.org
- No War but the Class War: Erklärung der ArbeiterInnen von Haft Tappeh: leftcom.org
- Brief eines streikenden Ölarbeiters aus dem Iran: leftcom.org
- 30 Jahre nach der „Islamischen Revolution“ im Iran – Bittere Lehren der Geschichte: leftcom.org
Quelle: leftcom.org… vom 5. November 2022
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitskämpfe, Arbeitswelt, Imperialismus, Iran, Politische Ökonomie, Repression, Widerstand
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