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Eine neue Arabellion? – Nordafrika als Labor kontinentübergreifender Konflikte

Eingereicht on 8. Mai 2019 – 16:40

Leo Reiser. „Fast zehn Jahre nach den arabischen Aufständen ist die Wut in den Randgebieten des Maghreb am Kochen. Diese von Unmut geprägten Randzonen, die durch eine lange Geschichte staatlicher Vernachlässigung von vernarbten Wunden gezeichnet und oft mehr als dreimal so arm sind wie die städtischen Gebiete, werden gerade in Brutstätten der Instabilität transformiert. Verbitterung, Zorn und Frustration gegen die Regierungen, die wahrgenommen werden als zerfressen von Missbrauch und Korruption, stellen eine feuergefährliche Mischung dar, die wohl vor Jahrzehnten gebraut wurde, aber jetzt zum gegenwärtigen Treibhaus der Feindschaft und des Tumults geführt hat.“

Das hört sich an wie aus einem Pamphlet des Widerstands oder eines kritischen Intellektuellen. Es ist das genaue Gegenteil. Es ist der besorgte Kommentar eines kapitalistischen Dienstleisters vom Frühjahr 2018. Er bildet die Einleitung zu einem ebenso nüchternen wie sorgenvollen Resümee aus einem der ältesten kapitaltragenden amerikanischen Think-Tanks, des „Carnegie Endowment for International Peace“. Der Think-Tank – einer der ersten dieser Gattung überhaupt – wurde vor dem ersten Weltkrieg vom Stahlmagnaten Andrew Carnegie gegründet. Er hat danach für die wohl genaueste Berichterstattung der politisch-ökonomischen Entwicklungen und Strategien des ersten Weltkriegs gesorgt und diese Linie bis heute konsequent verfolgt.[1] Auf die Einzelheiten dieses Resümees[2] kommen wir unten zurück. Die Äußerungen reflektieren ein permanentes Aufruhrgeschehen mit Höhepunkten im Jahr 2016 und Anfang 2018. Sie zeichnen es als Ausdruck eines Widerstandsgeschehens, das eine Großregion seit langem im Griff hielt. Dies trägt von Seiten eines aufgeklärten kapitalistischen Think-Tanks zwei wichtigen Verkürzungen Rechnung, die den Wert und die Brauchbarkeit der Berichterstattung und der Analyse häufig beeinträchtigen. Das ist einmal die Verkürzung der Darstellung auf „Länder.“ Das ist zum anderen die Reduzierung einer komplexen Konfrontation auf simple Erzählungen bestimmter Ereignisstränge, etwa auf die Geschichte der Arbeitskämpfe, auf reine Sozialgeschichte, auf Entwicklung von Zivilgesellschaft, Demokratie, Genderfragen und dergleichen mehr. Einschränkung auf „Länder“ stellt noch immer einen entscheidenden Mangel dar. Selbst Darstellungen von „linker“ Seite zeichnen Länder als einen adäquaten Rahmen für die Berichterstattung. Dies verfehlt die Wirklichkeit unter einer ganzen Reihe von Gesichtspunkten, vor allem der geschichtlichen Genealogie und des übergreifenden Wirkungsraums.

Vorgeschichte der Kämpfe

Die arabischen „Länder“ (im Folgenden die Anführungszeichen bitte mitdenken) Nordafrikas, d.h. Ägypten und der Maghreb von Libyen bis Marokko einschließlich Mauretaniens im Süden, sind jungen Entstehungsdatums. Sie sind dies in unterschiedlicher Weise, etwas weniger als die Länder im Osten des „Nahen Ostens“ wie Irak, Syrien und der Libanon. Hier eine historische Skizze in groben Linien. Die unbezweifelbaren Unterschiede, die sich im Lauf der Geschichte in den Ländern herausgebildet haben, mindern nicht die Bedeutung der im Folgenden kurz skizzierten gemeinsamen Genealogie.

In der Ursprungsphase nach der Verwaltung im Herrschaftsraum des schwächer werdenden osmanischen Reichs sind sie zunächst Produkt des Kolonialismus: unter den aggressiven Zugriffen der Kolonialmächte Frankreich, England und dann der deutschen (vorübergehend) und schließlich italienischen Nachzügler: In dieser Zeit und sogar bis heute spürbar prägten moslemische, jüdische, christliche und berberisch/byzantinische Communities die Häfen, während die ländlichen Teile von bäuerlichen Strukturen und ihren Traditionen von Subsistenz und moralischer Ökonomie[3] bestimmt waren. Marokkos als ehemaliges Sultanat, Algeriens als direkt vom französischen Staat usurpierte Region, Tunesiens als französisches Protektorat, Libyens als italienische Kolonie und Ägyptens als Teil des englischen Commonwealth. Die Grenzziehungen mit dem Ziel der Aufbereitung zu Nationen waren großenteils – wie im Nahen Osten und dem angrenzenden Afrika – willkürlich. Sie durchschnitten gewachsene Regionen und ihre Großfamilien und Klanstrukturen. Spürbar noch heute in den unten behandelten Konflikten mit dem Grenzverkehr nach Libyen und Marokko. Den nächsten Schub der Profilierung zu „Ländern“ bildete die Unterwerfung unter die nationalistische Herrschaft je neuer, nationaler und nationalistischer Eliten, genannt „nationale Befreiung“: Die Traditionen eines nunmehr von Grenzziehungen durchschnittenen historischen Kontinuums sind noch heute in den Formen des Grenzverkehrs mehr oder weniger erkennbar. Aus diesem Prozess zunehmend prononcierter Profilierung letztlich unter kapitalistischem Kommando entwickelter und kontrollierter Herrschaftsformen können Einzelstücke trotz aller im Lauf der Zeit beschrittener Sonderpfade nicht als „Länder“ für die Analyse völlig isoliert werden, ohne die Sicht zu verfälschen.

Darum kann die Geschichte der Revolten auch nicht zu Länderstudien aufgelöst werden, wenn man sie nicht auch als Transformation des zugrundeliegenden Spannungsverhältnisses zwischen kapitalistischen Zentren und Peripherie wahrnimmt. Durch die koloniale (hier verdanken wir Rosa Luxemburg eine noch immer exemplarische Schilderung[4]), die entkolonialisierte „nationalistische“ Phase hindurch und über die Etappe abgezwungener Deregulierung (Infitah, „Öffnung“) bis heute. Die verschiedenen Phasen können wir hier nicht ausmalen. Die nationalistische Phase brachte eine Reihe von unterschiedlich harten bzw. milden Autokraten hervor wie Nasser, Gaddhafi, Bourguiba, eine Abfolge von algerischen Autokraten bis zum heutigen Bouteflika, und den aus der Sultansfamilie stammenden König Hassan II. Sie alle führten ein hartes Regime, das mildeste in Tunesien unter Bourguiba, das härteste in Marokko unter Hassan II. Es war derart blutig und terroristisch bis hin zu systematischer Folter, dass sein Sohn Mohammed VI. sogar eine Wahrheitskommission zur Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen einrichten musste, um den Kopf oben zu behalten.

Diese Autokraten waren, um nur den thematischen Kern zu nennen, darauf angewiesen, die sogenannte „Landflucht“ aufzufangen, mit der die Bevölkerung auf die Inwertsetzungs- und Unterwerfungsstrategien antwortete: dem Steuerdruck, der Repression und Demütigung aus den Zentren folgten beschwichtigend massive Bildungsprogramme mit einer Flut von Diplomen, die Entwicklung eines staatlichen Beschäftigungssektors und paternalistisch organisierte Sozialleistungen. Sicher wurde dies, wie auch anderswo, zugleich im Hinblick auf eine an die kapitalistischen Metropolen angebundene Politik nachholender kapitalistischer Entwicklung in die Wege geleitet. Beides gehört zusammen. Nur wenige konnten allerdings dadurch in die je nationale ökonomische Entwicklung und Reproduktion absorbiert werden. Das Ergebnis war die Produktion eines Länder übergreifenden akademischen Proletariats. Hier liegt der Grund für die Massenarmut hochschulgebildeter junger Menschen, der Grund für die Massen der „Gemüseverkäufer mit Hochschulbildung und ohne Verkaufslizenz“.[5] Diese Figur prägt in unterschiedlichem Ausmaß das soziale Profil sämtlicher „Länder“.

Die Autokraten versahen sich in jeweils ähnlicher Weise mit einem Apparat von Polizei-, Geheimdienst- und Spitzelstrukturen. Sie bilden den Kern dessen, was man heute mit dem Modebegriff „tiefer Staat“ bezeichnet: die Einbeziehung informeller Machtapparate in den Komplex der „formellen“ verfassungsmäßigen Strukturen. Die Gewerkschaften waren, soweit geduldet, in diesen Staatskomplex „inkorporiert“, korporatistische Gewerkschaften. In den Baathistischen Ländern (Irak, Syrien) orientierte sich der Korporatismus an den sozialistischen und nationalsozialistischen Vorbildern.[6] Die Betriebe waren in der Regel klein und operierten auf handwerklicher Basis, größtenteils integriert in kleine ökonomische Kreisläufe unter Einschluss der landwirtschaftlichen Produktion. Sie stellen das obere Segment des „informellen Sektors“ dar: keine Verträge, keine Gesundheits- und sozialen Sicherungssysteme. Diese erbringen, wie etwa in Ägypten auch, geschätzt etwa 50 % der Arbeitsleistungen in Tunesien. Später kamen unter dem Regime des IWF aufgrund der Strukturanpassungsdiktate Produktionsstätten als verlängerte Werkbänke der kapitalistischen Metropolen hinzu. Darüber hinaus bildeten eine wesentliche Basis dessen, was man „Rentiersystem“ nennt, die Bodenschätze, vor allem Öl, aber auch Phosphate, Erze etc. Die Eliten unterhielten aus den daraus gewonnenen Einkünften nicht nur Repressionsapparate, sondern den überall sehr großen Komplex der Staatsangestellten als sichere soziale Basis der Autokratien. Sie versorgten daraus auch die Bevölkerung mit sozialen Zuwendungen, vor allem in Form von Subventionen zur Verbilligung von Nahrungsmitteln und Transportkosten. Eine zunehmende Rolle spielten daneben der Tourismus und vor allem die Überweisungen von Emigrant*innen an ihre Familien, die etwa im Fall Marokkos mehr als 7 % des Bruttosozialproduktes ausmachen.

Die Antagonisten des übergreifenden Konflikts: Kapitalismus und soziale Revolution

In Anbetracht dieser Geschichte wäre es absurd, die Ereignisse von der „Klassenfrage“ her aufschlüsseln zu wollen, wenn man den marxistischen oder meinetwegen marxistisch-leninistischen Klassenbegriff zugrunde legt. Zu klein ist der Sektor des durch den Austausch von Kapital und Arbeit bestimmten Bereichs, um von Bedeutung zu sein. Je mehr man den Begriff der Klasse erweitert, wie es die italienische Linke in ihrer Berichterstattung oft tut, umso inhaltsleerer wird er. Ehe man dann von „Unterklassen“ spricht, sollte man den Grundsachverhalt eines Spannungsverhältnisses zwischen kapitalistischen Strategien der Inwertsetzung und der Herstellung des entsprechenden sozialen Kommandos im Verhältnis zu seinem sozialen Gegenüber zugrunde legen: Einer weder subsumierten, noch unterworfenen, sondern ihm im sozialen Widerspruch, im Kampf; d.h. antagonistisch begegnenden Subjektivität. Wenn man eine bequeme Formel suchen wollte, könnte man – nicht weit von Marx entfernt – sagen: Der Kapitalismus war auch hier eine Strategie, die Wert daraus schöpft, dass sie danach trachtet, Subjektivität zur toten Armut von Maschinen und Waren zu verdinglichen, immer in Auseinandersetzung mit dem unermesslichen Meer der Subjektivität, das sich dagegen in den Kämpfen zu einem lebendigen Reichtum immer neuer sozialer Formen entfaltet. Es ist ein sozialrevolutionärer Ansatz, den wir verfolgen, wenn wir von diesem Widerspruch ausgehen.

Die hierdurch bestimmte soziale Kluft war schon unter den Bedingungen der im Rahmen der „nationalen Befreiung“ verfolgten Inwertsetzungs- und Herrschaftsstrategien enorm. Diese wurde verschärft im Wege der Strukturanpassungsdiktate, die in den 80er und 90er Jahren die „Öffnung“ (Infitâh) erzwangen – und zwar in ganzer Breite vom Maghreb bis in den Nahen Osten[7] –, und wurden mit einer Vielzahl gleichgerichteter Revolten beantwortet. Diese werden vielfach fälschlich und etwas rassistisch „Hungerrevolten“ oder „Brotrevolten“ genannt. Die Vereinseitigung auf den Hunger verdeckt die Tatsache, dass ihr sozialer Grund die enorme Fähigkeit der Akteur*innen zur Selbstorganisation darstellte. Das, was wir „Subjektivität“ nennen, sind die Formen, in denen sich die „von unten“ entfaltenden Bewegungen mit den Sozialstrategien der kapitalistischen Agenturen konfrontieren. Sie reichen von Alltagsaktivitäten bis zu manifesten Bewegungen. Es sind die sozialen Gestalten, in denen sie dem global operierenden Kapitalismus am jeweiligen Ort entgegentreten. Sie entfalten sich im übergreifenden Gefälle aus dem globalen Süden gegen die Gewalt aus dem Herzen der Bestie. Jede an ihrem spezifischen Ort und mit ihrem spezifischen sozialen Ausdruck. Ihr Reichtum äußert sich auch in den spezifischen Formen der Selbstorganisation, den Werten (wie z. B. die „moralische Ökonomie“), den alltäglichen Formen des kommunikativen Miteinanders, der freundschaftlichen Verbindungen, der informellen Netze.[8] Wir können das an dieser Stelle nicht „theoretisch“ ausformulieren, sondern nur auf die Genealogie einer sehr komplexen Theorieentwicklung hinweisen. Im Kern war diese Vorstellung in der langen Geschichte der nichtdogmatischen Linken ein Unterfangen, das gegen die marxorthodoxe Formulierung dinglicher Mechanik von Akkumulationsprozess und Wertgesetz die entscheidende historische Bewegkraft setzte: Das, was im Sinne des Kapitals „Nichtwert“ ist und dennoch, oder besser: gerade darum das Objekt seiner Begierde bildet: Das was die menschlichen Verhältnisse, die in die Auseinandersetzung mit dem Kapital hinein gezwungen sind, und das der Kapitalismus zu Quellen seiner wertschöpfenden Strategien herabwürdigt und dehumanisiert. In seiner dialektischen, besser noch antagonistischen Auseinandersetzung mit der Gewalt der kapitalistischen Inwertsetzungsstrategien entwickelt es sozialrevolutionär die immer neuen Gestalten nichtkapitalistischer Gesellschaftlichkeit. In dem globalen mittleren Segment des Maghreb tritt ihnen das in all den Formen der Selbstorganisation, des Miteinander, der Werte von Freundschaft und Beziehungen im Widerstand entgegen, wie sie sich in der Arabellion manifestiert haben. Diese Formen lassen sich nicht aus sich selbst erklären und werden durch eine simple Erzählung des Kampfprozesses nur verfälscht. Sie sind Produkt des antikapitalistischen Antagonismus und können auch nur aus ihm verstanden werden.

Mit ihrer den Regierungen jeweils aufgezwungenen, aber auch von ihnen geteilten Deregulierungspolitik spitzte sich die Grundauseinandersetzung zu. Die Kluft zwischen den Polen der Auseinandersetzung, zwischen der Autokratie und den Kräften der Revolution, erweiterte und vertiefte sich erheblich. Die einzelnen Bestandteile variierten in den einzelnen Ländern. Ihr Kern bestand im rigiden Schuldenregime, der Einschränkung bzw. Rücknahme der sozialen Subventionen, Privatisierung der Unternehmen und damit verbunden: das Abschmelzen des gewaltigen Sockels von Staatsangestellten, Öffnung für Direktinvestitionen zur Produktion für den Weltmarkt, Stabilisierung der Währungen. Die Kette der „Öffnungen“ reichte von Marokko (1983), Tunesien (1986), Ägypten (1991) bis zum Irak (…). Es ist eine regional ausgerichtete Strategie, die Entsprechung in den anderen Kontinenten hat und die das auf „Länder“ fokussierte Narrativ, eine länderorientierte Erzählweise absurd erscheinen lässt. Schon jetzt war diese Strategie als Ausdruck der Krise erkennbar, wie wir sie in dem Krisenbeitrag skizziert haben.[9] Auch die Strategie des offenen Kriegs hatte zum Ziel, alte Strukturen zu zerstören, um die Bevölkerung zu Inwertsetzung in einer globalen kapitalistischen Offensive aufzubereiten.[10] Zu erwähnen ist, dass trotz weiterer hineinspielender Momente die aktuelle Zerstörung des Nahen Ostens eine Spätphase der mit dem Irakkrieg eingeleiteten Zerstörungspolitik ist. Die Konfrontation der Arabellion war in seinen wesentlichen Momenten Ausdruck dieser Zuspitzung, die gleichfalls nur länderübergreifend und für kein Land aus sich heraus begreiflich ist. Die Autokratie war in diesem Prozess zu Formen der Kleptokratie verkommen und hatte ihren sozialen Ausdruck in extremer Dehumanisierung, Gewalt, Korruption gezeigt. Sie korrespondierte mit dem Ausdruck der Dehumanisierung, zu dem die Strategien aus den Metropolen ihre Gewalt gegenüber dem globalen Süden in der „Flüchtlingspolitik“ steigerten. In der Arabellion überwanden die Subjekte Grenzen, die sie vorher getrennt hatten: Student*innen, Arbeiter*innen, Muslime, Christ*innen fanden in einer ungeheuren Dynamik des Aufruhrs zueinander. Exemplarisch und beispielgebend hat Helmut Dietrich die Prozesse der Selbstorganisation von ihrem Kern im Süden und Westen aus bis in die nördlichen Städte nachgezeichnet.[11]

Dass dieser sozialrevolutionäre Prozess „unvollkommen“ war und die anderen gesellschaftlichen Bereiche nicht durchdringen konnte, lag nicht nur für Tunesien, sondern auch Ägypten auf der Hand. Er beseitigte die autokratischen Köpfe, aber vermochte in der kurzen Zeit nicht, in die Tiefe der parastaatlichen Machtstrukturen („Stichwort tiefer Staat“) zu dringen. Er kratzte die produktiven Strukturen und den gewerkschaftlichen Bereich ihrer korporatistischen Absicherung nur an der Oberfläche. Da, wo das Militär eine Rolle gespielt hatte, wie in Ägypten, konnte er es nicht in Frage stellen. Auch stellte er den gewaltigen Rückraum der muslimischen Traditionsbestände nicht in Frage; Ausgangspunkt für einen großen Teil des späteren „Roll-back“. Ihm dies, wie es oft in den Metropolen geschieht, als „Scheitern“ anzulasten, ist zynisch. Denn er litt an einem Mangel, der außerhalb seiner selbst lag: die sozialrevolutionär orientierten Kräfte in den Metropolen, unfähig, diesem sozialrevolutionären Aufstand etwas unterstützend an die Seite zu stellen. Wir erinnern uns heute noch mit Wut im Bauch, dass wir eigentlich auf das Getrappel der jeweiligen Linken in unseren Wohnvierteln auf dem Weg zu einer zentralen machtvollen Versammlung horchten. Nix Getrappel. Wir waren in Köln 20 Teilnehmer*innen an einer erbärmlichen Demonstration, die uns mit einem Ägypter, ein paar Autonomen etc. vereinte. Wir standen buchstäblich und im übertragenen Sinn im Regen. Dieses Versagen sollte sich später noch einmal im Verhältnis zu den Sozialprozessen in Griechenland wiederholen. Es stellt ein fundamentales Versagen vor dem Appell der sozialen Revolution dar, das für die Zukunft noch immer sehr zu denken gibt. Wie im Verhältnis zu den griechischen Prozessen schonte sich die Linke mit ihrem „Länderansatz“, auch mit ihrer wohlfeilen Konzentration auf die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt. Und guckte zu.

Die Stränge der Konterrevolution

Sie guckte weiter zu, als die soziale Revolution in Tunesien sich zurückziehen musste und ihre Kräfte in einer „zweiten Welle“ durch „Sit-ins“ etc. zum Ausdruck brachte und zugleich sicherte.[12] In dieser Phase wurde eine konterrevolutionäre Strategie eingeleitet, die so komplex ist, dass sie nur im Zusammenwirken übergreifender, bis in die Metropole reichender Strukturen erklärt werden kann, die uns bis heute unbekannt sind. Da die Quelle der sozialen Revolution in Tunesien lag, beginnen wir in ihrer Darstellung auch mit Tunesien, beschränkt auf ihre wesentlichen Bestandteile, die von einer „Demokratisierung“ über sozialpolitische Abfederungen und die Zentralisierung des Staatsapparates bis hin zur Modernisierung der Knäste reichen.

Da das Elend der Armen und die niedrigen Einkommen der im informellen und formellen Sektor arbeitenden Bevölkerung und der Studenten*innen ein Hauptgrund für den Aufstand gewesen sind, lagen hier auch die ersten Maßnahmen mit hohem Demonstrationseffekt: die Erhöhung der Löhne in den Fabriken lag bei 25 – 30 %, weniger waren es im Staatssektor. Die Armutsregionen im Süden und Nordwesten, in denen das Einkommen bei rund einem Drittel der städtischen Regionen lag, wurden wie zuvor vernachlässigt. Sie und die städtischen Armen am Rande des informellen Sektors hatten keine gewerkschaftliche Repräsentation. Ihr Druckmittel war traditionell und ist noch immer der „Bargain by Riot“: die Aufstandsdrohung und der immer klug kalkulierte Aufruhr.

Die unter Ali unterdrückte und gleichwohl genutzte Gewerkschaft UGTT war traditionell der Repräsentant weitgehend der mittleren Jahrgänge der „Mittelklassen“-Staats- oder besser Regierungsangestellten und hat immer zum informellen Sektor Distanz gehalten, deren untere Schichten Ali wegfegen geholfen haben. Wenngleich UGTT zu Militanzgebärden wie der Androhung eines Generalstreiks am 8.12.2018 greifen konnte, hatte es eher als sozialpolitisches Vermittlungsorgan der staatlichen Lohnpolitik gedient, wie z.B. der Politik der Begrenzung von Löhnen und Lohnzuwächsen, das bei der Lenkung der Lohnquote des Bruttosozialprodukts von 13,5 % (2015) auf 11% (2018) mitgeholfen hat, bei gleichzeitiger einvernehmlicher Steigerung der Steuern auf bestimmte Gesellschaften und Berufe. Das alles schon unter dem Druck der vom IWF auferlegten Austerity.

Zugleich versuchte die Regierung unter Mithilfe der Gewerkschaft UGTT, organisatorisch in den großen Bereich der „informellen Ökonomie“ einzusteigen. Auch das war eine länderübergreifende Strategie. Denn mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung Nordafrikas arbeitet im „informellen Sektor“ der Ökonomie: keine Verträge, keine Gewerkschaften, kein Zugang zur Sozialversicherung, abgewertet in jeder Hinsicht der Wortbedeutung. Er war eine wesentliche Quelle der sozialen Revolution. Über das TILI TAMSS -Projekt wurden einzelne Pilotprojekte zum Aufbau von „informell“ arbeitenden Schustern in Sfax und „informellen“ Händlern in Ben Guerdane aufgebaut, ohne dass dies zu wesentlichen Erfolgen oder zur erfolgreichen Übertragung der Pilotstrategien in andere Gebiete geführt hätte. Die Auseinandersetzungen in diesem Kontext sind von großer Bedeutung für die Zukunft der sozialen Revolution auch in anderen Ländern Nordafrikas.

Da die enorme Kluft zwischen den Lebens-, besser Überlebensbedingungen der tunesischen inneren Peripherie und den städtischen Regionen die große Spannung generiert hat, die zum Aufstand führte, sind Bestrebungen im Gange, die Staatsmacht zu dezentralisieren und teilweise auf die lokale Ebene zu verlagern. Dies soll Teilhabe und Integration fördern und die dramatischen regionalen Unterschiede auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung und der Schulen, aber auch der Infrastruktur abmildern. Die Initiative ist im Anfangsstadium, die positiven Reaktionen der Bevölkerung auf die Propaganda sind gering.

In diesen Rahmen gehört auch die Initiative, die Entscheidungsgewalt an den Universitäten zu dezentralisieren und, nach der rigiden Kontrolle des Ali-Regimes über Jahre hinweg, zu demokratisieren. Die Auseinandersetzungen sind erheblich. Die Kritik richtet sich gegen die fortbestehende enorme Machtfülle des Ministeriums für Hochschulangelegenheiten. Das Zeitziel des Jahres 2025 für erste Erfolge ist ehrgeizig, offenbar zu ehrgeizig. Beabsichtigt ist vor allem eine bessere Ausrichtung der Bildung auf den Arbeitsmarkt. Denn sein Mangel bildete den wesentlichen Grund für die massive und wieder steigende Wut der „Straßenhändler mit Universitätsausbildung“. Kurzfristige Erfolge sind nicht erreicht worden und waren auch nicht zu erwarten.

Ebenso wie in Ägypten und Marokko hat der Repressionsapparat, die unter den alten Köpfen angesiedelten Segmente von Polizei und Geheimdiensten, wenig gelitten. Der Kern der Aktivitäten verlagert sich jetzt auf das Gebiet des „Antiterror“, nachdem zugleich mit der Zulassung der islamistischen „Ennahda“-Partei auch salafistische Gruppierungen mit zugelassen worden waren, wie die „Reformfront“ (JI), die „Authentizitäts-Partei“ (HA) die „Barmherzigkeitspartei“ (HR). Sie wurden im Windschatten der Instauration der Ennahda sogar formell als Parteien registriert. Darüber hinaus operieren auch die anderen jihadistischen Gruppen wie die mit al Kaida affiliierte KUIN und die an den IS angebundene JAK-T. Ihre Auseinandersetzung mit dem Antiterrorapparat haben vor allem die nordwestlichen Regierungsbezirke Kasserine und Kef, aber auch Jendouba an der Grenze nach Algerien als Ort der Aktivitäten. Dort ist die Bitterkeit über die sozialen Bedingungen und Demütigungen besonders groß. Die genannten salafistischen Gruppierungen gewinnen zwar im Verhältnis zum Repressionsapparat nicht, sie verlieren aber auch nicht. Im Gegenteil, sie haben sich auf das Vierfache vergrößert.

Die Grenze, vor allem die nach Libyen, ist auch Ort zunehmender Militarisierung des Konflikts, der zugleich sehr zu Lasten des grenzüberschreitenden Verkehrs geht. Sie zerschneidet als Produkt französischer Staatsbildungs- und Grenzziehungspolitik Stammes-, Klan- und Familienzusammenhänge, die immer einen wesentlichen Teil ihres Einkommens aus regionalem Handel etc. gewonnen haben, der durch Grenzziehungen zum sogenannten „Schmuggel“ mutierte. Noch unter Ali unter Bedingungen geduldet, ist er nach 2011 durch die Antiterrorpolitik und seine Militarisierung erheblich unter Druck geraten und äußert sich in einer weiteren Dimension und Quelle von Widerstand und Aufruhr.[13]

In diesem Zusammenhang spielt auch die Knastreform eine Rolle. Die Knastbelegung liegt seit Mitte der 90er Jahre etwa konstant bei 25 000 (bei einer offiziellen Kapazität von 18 000) mit unerträglichen Bedingungen. Im Jahre 2016 wurde sie auf 23 500 geschätzt. Gewalt bis zur Folter waren endemisch. Schwerpunkt der Verurteilungen sind Drogendelikte. Hier zielt die Politik auf vorsichtige Entkriminalisierung.

Hintergrund und Basis all dieser Prozesse ist eine Demokratisierung, durch die die islamistische Partei Ennahda nach teils blutiger Repression unter Ali in die Rolle des zentralen politischen Akteurs gerückt wurde. Sie ist weit von den Protestbewegungen und den Armen entfernt und hat ihre hauptsächliche Basis in dem Segment der Staatsbediensteten. Sie stellt abgesehen von ihrer Bereitschaft, im Mittelschichtsbereich angesiedelten Strömungen Stimme und Repräsentation zu geben, die Partei nicht etwa eines radikalen Salafismus dar, sondern der an den muslimischen Traditionen orientierten mittleren Segmente. Wahlanalysen haben ergeben, dass es hauptsächlich ihre Werte sind (patriarchale, gegen Öffnungen in Gender und Sexualität etc.), die für ihre Wahleinstellungen entscheidend sind.

Im Zentrum stehen nicht einmal die typischerweise und im gesamten Orient über islamische Parteien und Institutionen vermittelten sozialen Zuwendungen und Dienste.

Autoritärer Lernprozess“, das ist die Überschrift, unter der einzelne Autoren wie Reinoud Leenders und die beiden Think-Tanks Giga und Pomeps auf einem Kongress in Hamburg die „horizontal“ ausgerichteten Strategien ausgeben, mit denen die jeweiligen Führungsebenen ihre Lernprozesse im Kampf gegen die soziale Revolution organisieren.[14] Sie gehen aufgrund bestimmter Indizien davon aus, dass die jeweiligen autoritären Spitzen ihre konterrevolutionären Strategien weiterentwickeln, unter Berücksichtigung der Erfolge und Schwierigkeiten auf dem Gebiet des Wissens, der Erkenntnisse, Modelle und Techniken, wie wir einige von ihnen schon thematisiert haben. Vorrangig natürlich auf dem Gebiet der Repression und Sicherheitsdienste. Die dahingehenden Bemühungen liegen naturgemäß im Dunkeln und sind oft vieldeutig. Erörtert wurde auf dem Kongress etwa die Frage, ob Ennadha’s Entscheidung der Machtbeteiligung anderer Akteure eine Reaktion auf den ägyptischen Coup gegen die Moslembrüder war. Von einer „Verschwörung“ von oben kann allerdings keinesfalls die Rede sein.

Der Komplex der konterrevolutionären „Kooperation“ mit den staatlichen und parastaatlichen (NGOs) Agenturen in den Metropolen kann ebenfalls nur gestreift werden. Agenturen zivilgesellschaftlicher Formierung – und das heißt des mittleren Bereichs zwischen metropolitaner Machtstruktur und der sozialen Revolution, arbeiten permanent an der Konsolidierung von Netzwerken, und zwar auf allen relevanten Gebieten wie Investition, Bildung, sozialer Sicherung. Daneben oder besser darüber operiert die europäische Union mit dem Konzept ihrer „Nachbarschaftspolitik“, wegen machtarroganter Unfähigkeit allerdings weitgehend erfolglos. Das nicht zuletzt auch wegen Bedingungen, die an Hilfe geknüpft werden, mit ihren grotesken Ausformungen auf dem Gebiet der „Flüchtlingspolitik“. Hier sind die Aufforderung zur Bildung von Abschiebelagern gegen Entwicklungshilfe, groteskerweise mit Schwerpunkt auf dem Sicherheitsbereich, bisher – nach außen jedenfalls – weitgehend abgelehnt worden. Ähnlich ist auch die Ausrichtung des Projekts eines vertieften EU-Handelsabkommens mit Tunesien, das seit 2016 verhandelt wird, derart offen an den Handelsinteressen der EU und ihrer Mitglieder orientiert, dass die – vorsichtig ausgedrückt – Zurückhaltung von tunesischer Seite nachvollziehbar erscheint.[15]

Gibt es eine konterrevolutionäre Mobilisierung des Hasses auf die Flüchtenden? Konnte der populistische Hass gegen die Geflüchteten aus Europa nach Nordafrika übertragen werden? Ganz sicher arbeiten die Regierungen daran, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. Mit großer Gewaltsamkeit tut dies der marokkanische König. Er geht so weit, auf Boat-People auf hoher See schießen zu lassen. Darüber hinaus zielt die Abschottungspolitik Marokkos und Tunesiens an den Südgrenzen zu Tunesien und Mauretanien nicht nur auf die „Terroristen“, sondern auf die Flüchtenden, die zunehmend Eingang in das antiterroristische Sprachspiel finden. In abgeschwächtem Maß gilt dies auch für Tunesien. Der Erfolg ist begrenzt. Obwohl es in der muslimischen Kultur reichlich Traditionsbestände der Abwertung der Schwarzen Afrikas gibt, genährt von der Geschichte des Sklavenhandels, steht dem die soziale Offenheit des volksreligiösen Islam gegenüber den Armen und Leidenden entgegen. Ihre Herkunft aus der „moralischen Ökonomie“ der arabisch-berberischen Gesellschaften und der sozialrevolutionär orientierten „urchristlich“ genannten „judenchristlichen“ Frühphase ist ein spannendes Thema, kann hier aber nicht weiterverfolgt werden. Jedenfalls wirken die Gebote des tätigen Mitgefühls hier noch weit stärker als im insoweit völlig verkommenen metropolitanen Christentum.

Steht eine neue Welle der sozialen Revolution bevor?

Ein Urteil ist in Anbetracht der oben skizzierten Ausgangslage, die nach den zwischenzeitlichen Veränderungen von derjenigen des Jahres 2010 abweichen, kaum möglich. Auf der anderen Seite besteht die Kluft, der tiefe Graben zwischen der transformierten Autokratie unter Einwirkung des globalen Kapitalismus nach wie vor und erscheint kaum gemildert, an einigen Punkten sogar verschärft. Allerdings hat die Autokratie nunmehr tragende Schichten und Strategien in ein flexibles Gewebe sozialpolitischer Vernetzung aufgenommen.

Ausgangspunkt ist, dass die Armen im informellen Sektor und den randständigen Regionen nach wie vor arm sind und die Situation der Student*innen und des akademischen Proletariats in Gestalt der „Gemüsehändler mit Hochschulausbildung“ nicht gebessert worden ist.

Vielmehr wurde sie verschärft. Die metropolitanen Agenturen des Kapitalismus haben vor Krieg und Bürgerkrieg keine Angst. Sie glauben an ihre Waffen. Dies verstärkt den Eindruck, dass Demokratie und ihre Propagandisten in den westlichen Institutionen nicht aus dem Elend helfen und nur die Demütigungen, das Elend und den Hunger verschärfen. Und dass das Nobelpreiskomitee ausgerechnet einem Elitequartett der sogenannten „Zivilgesellschaft“ den Nobelpreis verliehen hat und nicht dem tunesischen Volk, wie ursprünglich beabsichtigt, konnte nur als Hohn verstanden werden.

Wenn wir jetzt die Entwicklung der ökonomischen und sozialen Bedingungen an den Anfang stellen, dann nicht, weil wir die Wellen der Aktivitäten von Protest und Aufstand als Reaktion sehen, vor allem nicht auf den IWF. Das Gegeneinander von sozialer Revolution und Konterrevolution, der sozialrevolutionär/kapitalistische Antagonismus ist derart dicht verschränkt, dass man ihn nicht mehr nach dem Schema von Aktivität und Antwort auflösen kann.

Bis 2018 ging die Arbeitslosigkeit nicht nur nicht zurück, sie wuchs noch. Von 13 % im Jahre 2010 auf 15,5 % 2016. Das ist der Landesdurchschnitt, im Gefälle zu den westlichen und südlichen Armutsregionen liegen die Zahlen weit höher, im schwer aufzuschlüsselnden informellen Sektor ebenfalls weit höher, absorbiert als so etwas wie „verdeckte Arbeitslosigkeit“. Die netto direkten Investitionen, ausgedrückt als Prozent vom BSP, nahmen ab von 3 % auf 2,2 % in derselben Zeit. Zu gleicher Zeit stieg die öffentliche Verschuldung von 44,5 % des BSP im Jahre 2013 auf 54,6 % im Jahre 2016 und 71% im Jahre 1918, eine rasante Steigerung. Für 2018 wird die Steigerung der Zahlungen auf Schulden und Zinsen auf 22% des BSP erwartet. Gleichermaßen fallen die Währungsreserven stetig, von $ 9,8 Mrd. im Jahre 2010 bereits im Jahre 2014 auf $ 7,5 Mrd. bei typischerweise steigender Inflation. Das ist der Hintergrund für die Verschuldung beim IWF in Höhe von 2,8 Mrd. im April 2016, mit der ein typisches Austerity- und Zwangsanpassungsprogramm verbunden wurde: Stopp neuer Beschäftigungen im öffentlichen Sektor, Suspendierung der bereits mit der UGTT verabredeten Lohnsteigerungen, eine dramatische Reduzierung des Lohnniveaus auf dem öffentlichen Sektor von 13,5 % des BSP im Jahre 2015 auf 11 % im Jahre 2018, schließlich Steuererhöhungen auf Unternehmen und bestimmte Berufe. Die Drohung des Generalstreiks führte allerdings zu Zugeständnissen.

Die endemischen Protest- und Kampfaktivitäten über den ganzen Zeitraum 2010 bis 2018 hinweg verdichteten sich einmal im Januar 2016, als sich Ridha Yahyaoui als Ausdruck des Protestes umbrachte. Er kam aus Kasserine, der westtunesischen Grenzregion, die ohnehin schon durch einen hohen Stand der Widerstandsaktivität gekennzeichnet war. Dies löste Demonstrationen in seiner Heimatstadt aus, die sich schnell in andere Städte ausweiteten. Die nächste Zuspitzung, die sich aus dem Grundrauschen permanenter Widerstandsaktivitäten heraushob, waren von Protestcamps begleitete Besetzungen und Straßenkämpfe in Tataouine im Mai 2017 (s. abgedr. Zeitungsartikel). Gegen Arbeitslosigkeit (58% allein unter den Hochschulabsolventen) richteten sie sich im Kern dagegen, dass die Ölkonzerne Öl und Profite aus der Region schafften und diese verarmt zurückließen. Das Öl gehöre der Region als Entwicklungsressource. Ölförderanlagen wurden besetzt und die Zapfstellen zugemacht, unter heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei mit mehreren tödlich Verletzten. Die Wirtschaft der gesamten Region war zeitweise blockiert.[16] Der nächste Höhepunkt im Januar 2018 wurde eingeleitet von Protesten in Balta. Die Jugendlichen mussten ihr Protestvorhaben in die nächste größere Stadt verlagern, weil Balta „so klein ist, dass eine Straßenblockade einem Protest in deinem eigenen Wohnzimmer gleichkommt – niemand kriegt das mit“, sagte ein Student.[17] Dieser Protest war der Auftakt zu einer regelrechten Welle in größeren Städten über das ganze Land hinweg, örtlich durchaus militant: Eine Person wurde getötet, hunderte festgenommen. Auslöser war ein neues Gesetz, das (in Verlängerung der Vereinbarung mit dem IWF) die Preise für Grundnahrungsmittel und Benzin erhöhten sollte. Auch hier waren (wie später in Paris) die staatlichen Maßnahmen nur ein wutsteigernder Anlass, nicht der Grund, wie schon oben ausgeführt. Und darum konnte dieser Höhepunkt nicht der letzte sein. Parallel hierzu steigerten sich die Auseinandersetzungen in den westlichen Grenzgebieten mit Beteiligung derjenigen islamistischen Gruppierungen, deren meist klandestines Hauptoperationsgebiet in den Provinzen Kaf und Kasserine liegt. Hier wurde deutlich, dass die ursprünglich auf die Kinder geheimdienstnaher Sektoren der Staatsangestellten beschränkte Neigung zum Jihad sozial diffundiert und sich mit den Radikalen militanter, nicht ursprünglich jihadistischer Akteure trifft. Eine Sorge für die Sicherheitskräfte, die mit ihrer repressiven Tätigkeit den Konflikt noch anheizen.

Eine neue Arabellion?

Sehen wir hier den Übergang zu einer neuen Welle der Arabellion? Denn es liegt jenseits jeden Zweifels, dass der Grad der Radikalisierung in Tunesien denjenigen der anderen nordafrikanischen Länder übersteigt und von Akteuren in anderen Ländern genau beobachtet und unter Einsatz der neuen Kommunikationsmittel verfolgt wird. Also: eine Wiederaufnahme der Arabellion? Bestimmt nicht!!!!!!!! Jedenfalls wenn man der Friedrich-Ebert-Stiftung glauben will. In den Jahren 2016/2017 führte sie in acht Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas eine große repräsentative Umfrage unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch und veröffentlichte die Ergebnisse dann unter dem Titel „Zwischen Zuversicht und Ungewissheit: Jugend im Nahen Osten und Nordafrika“ Fazit: bei aller Arbeitslosigkeit und Armut familienbezogen, religiös und heimattreu. Für eine Wiedergabe im Einzelnen ist hier nicht der Raum. Vielleicht lohnt sie sich gar nicht. Denn: Passen die Ergebnisse zu den Widerstandsprozessen? Mitnichten: Werden die Befragten – wenn sie denn ehrliche Antworten gegeben haben sollten – im Falle eines neuen großen Aufruhrs beiseite stehen? Erst recht nicht.

Vielleicht sollten wir uns daran erinnern, dass dieselbe Friedrich-Ebert-Stiftung durch ihren lokalen Beauftragten im Oktober 2009 die Wahlen vom 25. Oktober und die Befindlichkeit des Landes mit einem Bericht kommentierte. Er trug die Überschrift „In Tunesien nichts Neues“. „Das tunesische Phänomen hat zwei Seiten: einerseits die unbestreitbaren Erfolge in der sozioökonomischen Entwicklung, bei gesellschaftlicher Modernisierung und in der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Andererseits der Fortbestand eines anpassungsfähigen autoritär-klientilistischen Systems, das Meinungsfreiheit und Bürgerrechte einschränkt, einen offenen gesellschaftlichen Diskurs kaum zulässt und die Zivilgesellschaft in ihrer Entfaltung behindert.“ Nichts Neues also und gottlob alles ruhig. Na dann…

Aber das ist nicht alles. Es kommen die Bedingungen der aktuellen Krisenentwicklung dazu. Mit ihrer steigenden Intensität wird sich der Entwertungsprozess dieser Halbperipherie noch einmal enorm verstärkten und beschleunigen, mit Auswirkungen auf alle hier dargestellten Parameter. Die ersten Vorläufer wären dann die Verschlechterung der Handelsbedingungen, die alle Länder treffen, die Folgen der Anhebung der amerikanischen Zinsen und damit des globalen Zinsniveaus. Die Rückzahlung an den IWF wird dementsprechend weit belastender mit der Folge zunehmender Prekarisierung der gesamten Lebensbedingungen.

Werden wir bei einer neuen Arabellion auch diesmal versagen?

Entwicklungen in anderen Ländern Nordafrikas seit der Arabellion

Wir können sie hier nur in aller Kürze skizzieren. In Marokko nahm nach den anfänglichen Protesten die „Bewegung 20. Februar“ die Impulse der Arabellion auf mit der Hauptforderung eines demokratischen Wandels der Monarchie. Der König reagierte zügig mit einer Verfassungsreform und vorgezogenen Parlamentswahlen. Als Staats- und religiöses Oberhaupt, Oberbefehlshaber der Armee und oberster Richter behielt er jedoch alle Macht in den Händen, geschützt von einem starken Sicherheitsapparat und gestützt von seit längerem systematisch einbezogenen lokalen ökonomischen und politischen Eliten. Zugleich begann er mit einer Politik der Dezentralisierung zur Erweiterung politischer Teilhabe. Dies hat den Unmut vor allem in der Jugend wegen Armut, Ungleichheit und fehlender beruflicher Perspektiven nicht gemindert. 2016 eskalierte er nach dem Tod eines Fischhändlers in den längsten, bis ins Jahr 2017 andauernden Protestbewegungen seit der Arabellion, eingedämmt durch hunderte von Festnahmen, harte Polizeieinsätze und begleitet von Foltervorwürfen.

Algerien blieb an der Oberfläche von der Arabellion unberührt. Allerdings war und ist der Unmut der Jungen über fehlende Lebensperspektiven sehr groß. Aus Angst vor einer Revolte hob das Regime Bouteflika 2011 den Ausnahmezustand auf und kündigte eine Verfassungsreform an. Es ist zudem aufgrund des Öl- und Gasreichtums in der Lage, ausreichend Subventionen zur Milderung der Spannungen einzusetzen. Vor allem im Süden drohen immer wieder Unruhen.

In Libyen hat die Beseitigung des Regimes Gaddhafi im Zuge der Arabellion die staatlichen Strukturen aufgelöst mit dem Resultat zunächst des Bürgerkriegs und dann einer chaotischen Gemengelage rivalisierender Stämme und Eliten. Die Frage einer erneuten Arabellion stellt sich darum gar nicht erst.

In Ägypten führte die Arabellion zunächst zur Wahl des Muslimbruders Mursi zum Präsidenten, der aber bald auf anwachsende Proteste aus liberalen und linken Kreisen stieß. Im Juli 2013 übernahm das Militär unter al-Sisi die Macht. Es kontrolliert die großen Unternehmen in allen Sektoren und verbindet militärische mit ökonomischer Macht. In weiten Bereichen der Gesellschaft herrscht inzwischen Grabesruhe, die wegen der enormen Armut durchaus trügerisch ist. Das gilt jedoch nicht für die Universitäten, wo sich die Student*innen zunehmend mit dem Regime konfrontieren (schon im ersten Semester 2013/14 gab es allein 1677 Proteste an staatlichen Universitäten.

Quelle: the-hydra.world… vom 8. Mai 2019

[1] Dazu D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Band II… (siehe Fußnote 1), Kap. 1. Rosa Luxemburg hat die matrilinear organisierten Formen der moralischen Ökonomie im arabisch-kabylischen Hinterland beschrieben und völlig korrekt mit der südslawischen Zadruga gleichgesetzt in: Die Akkumulation des Kapitals, in: dies., Gesammelte Werke Bd. 5, S. 37, hier S. 325. Die sozialen Verhältnisse z.B. in der Arganöl-Produktion haben sich bis in dieses Jahrhundert im Prinzip kaum verändert.

[2] A. Bouktars, The Maghreb’s Fragile Edges, https://carnegyendowment.org/2018/03/19maghreb-s-fragile-edges, S.1

[3] D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Band II. Innovative Barbarei gegen soziale Revolution. Kapitalismus und Massengewalt im 20. Jahrhundert, Berlin 2019, Kap. 2.1.2.2g

[4] Ebd.

[5] Für dieses Sprichwort siehe H. Dietrich, Das Jahr V. der arabischen Revolution – Beispiel Tunesien, Sozial.Geschichte Online 18 (2016) S. 99 – 117, hier: S. 104.

[6] Vgl. Dazu D. Hartmann, D. Vogelskamp, Irak. Schwelle zum sozialen Weltkrieg, Berlin 2003, Kap. 4, S 17 ff.

[7] Vgl. D. Hartmann, Dirk Vogelskamp, Irak…op cit., wie Fn 6; D. Hartmann, Welcher Krieg? in: J. Später (Hg.) …. Alles ändert sich die ganze Zeit. Soziale Bewegung (en) im «Nahen Osten », iz3w Freiburg 1994, S. 24 Auch: Autonomie, Imperialismusheft.

[8] Die Mitarbeiter*innen der Zeitschrift „Autonomie“ (jetzt auch online unter www.autonomie.org) und der „Materialien für einen neuen Antiimperialismus“ (www.materialien.org) haben dies in ihren Publikationen ausgiebig behandelt: an den sozialrevolutionären Prozessen im Rahmen der französischen Revolution, des Vormärz, der russischen Revolution, gegen den Nazismus bis in die Auseinandersetzung mit dem IWF, als Grund des Verfalls der Sowjetunion. Grundsätzlich theoretisch-methodische Verortung bei: DH Beyond und bei D.H., in Krisen…Bd. 2. ..

[9] Hartmann/Vogelskamp, Irak. Schwelle zum sozialen Weltkrieg, Berlin 2003, S. 13 ff.

[10] Ebd., S. 17. ff.

[11] H. Dietrich, Die tunesische Revolte als Fanal. Sozial.Geschichte Online 5 (2011).

[12] H. Dietrich, Das Jahr V der arabischen Revolution – Beispiel Tunesien, Sozial.Geschichte Online 18 (2016), S. 99, hier: S. 105.

[13] Zwei detaillierte Darstellungen von Hamza Meddeb sind zu empfehlen, beide exemplarisch für die Frage der Verschränkung mit den sozial/ökonomischen Quellen des Unmuts: Precarious Resilience: Tunisia’s Libyan Predicament, MENARA, Future Notes No. 5, April 2017, hier insbes. S. 6 unter der Überschrift „Economic Burden and Security Concerns; und, eher allgemein gehalten: Les ressorts socio-économiques de l’insécurité dans le sud tunesien. Vgl. auch, ebensio detailliert wie umfassend: A. Boukhars, The Potential Jihadi Windfall From the Militarization of Tunisia’s Border Region With Libya, https://carnegieendowment.org/2018/18/0126/potential-jihad-windfall-from-the-militarization-od-tunisia’s-border-region-with-libya-pub-75365 , insbes. S. 2 f.

[14] R. Leenders, Arab Regimes’ International Linkages and Authoritarian Learning: Toward an Ethnography of Counter – Revolutionary Briculage, in: Transnational Diffusion and Cooperation in the Middleeast, http://pomeps.org/2016/07/13transnational-diffusionand-cooperation-in-the-middle-east-and-north-africa/ S.16

[15] B. Rutloff, I. Werenfels, Vertieftes EU-Handelsabkommen mit Tunesien: gutgemeint ist nicht genug, SWP-Aktuell 2018/A62, November 2018.

Die Bemühungen orientieren sich bis weit in den „linken“ Bereich des Spektrums an den für sie erreichbaren Exponenten der mittleren Schichten, soweit sie einen organisatorischen Ausdruck gefunden haben, und erreichen nicht den großen Bereich der subjektiven Quellen der sozialen Revolution.

 

[16] Vgl. guten Bericht auch bei H. Meddeb, Precarious…, op. cit., S. 7

[17] E. Graham-Harrison, The guardian vom 21. Jan. 2018

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