Six mois déjà: Ein halbes Jahr “Gelbwesten”-Protest ist voll
Bernard Schmid. Ein paar Schlaglichter auf eine überaus „untypische” Protestbewegung. Und zu den unterschiedlichen Darstellungen aus der deutschsprachigen Linken und darüber hinaus.
Ein halbes Jahr ist es am heutigen Tag her, sechs Monate, dass dieses Phänomen begonnen hat, mit ersten Manifestationen am 17. November 2018.
Viel, ziemlich viel, sehr viel ist – überwiegend – in den ersten Wochen in deutscher Spache und aus linker Sicht zu diesem (in seiner Erscheinungsform und seiner Dynamik neuartigen) Phänomen geschrieben wurden. Es geht um die Protestbewegung der „gelben Westen“ in Frankreich, ihrem Ausgangsland, auch wenn das Symbol seitdem international vielfach Nachahmung gefunden hat.
Viel veröffentlicht wurde dazu im deutschsprachigen Raum im November und in der ersten Dezemberhälfte 2018; damals musste sich quasi Alles, was irgendwo links dazu war, sich in irgendeiner Weise dazu äußern (Vgl. u.a. die Vielzahl und Vielfalt von Stellungnahmen an dieser Stelle: infopartisan.net…)
Doch seitdem ist die Karawane anscheinend weitergezogen. Es gibt seit dem Jahreswechsel 2018/19 kaum noch linke deutschsprachige Stellungnahmen dazu einzuholen. Aber on the ground (oder sur le terrain, wie man auf Französisch formulieren würde) ging die Sache weitgehend ungebrochen weiter. Dies deutet im Übrigen bereits auf den „untypischen“, mit keinerlei bisherigen gesellschaftlichen Bewegungen der letzten Jahrzehnte – in Frankreich – zu vergleichenden Charakter dieses Phänomens hin. Ein Schlusspunkt, ein allgemein als solches wahrgenommenes Ende dieses Phänomens ist zu diesem Zeitpunkt nicht in Sicht.
Auch die innenpolitische Krise, die daraus erwachsende Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise für Emmanuel Macron und seine Regierung brechen nicht ab. Am 25. April 2019 verkündete Staatspräsident Macron, zum zweiten Mal (nach dem 10. Dezember 18), im französischen Fernsehen einige Maßnahmen, einige Zugeständnisse an die Protestierenden, und zum zweiten Male wurden diese als Antwort auf den Unmut der „Gelben Westen“ verkauft. Doch die Ankündigungen und ihre Wirkung sind in der öffentlichen Meinung weitgehend verpufft. Kaum jemand würde sich hinstellen und als „mit ihnen zufrieden“ bezeichnen.
Diese Protestbewegung weist weitere „untypische“, bislang in dieser Form nicht dagewesene Erscheinungsmerkmale auf. Da ist ihr heterogener, ihr ausgesprochen ausgeprägter Patchwork-Charakter auf politisch-ideologischem Gebiet; ihm entspricht auch eine uneinheitliche Klassenzusammensetzung. (Vergröbert und im Überblick könnte man sagen, man trifft auf eine Komponenten aus den am stärksten verarmten sozialen Unterklassen – die Verzweifelten -, auf eine Komponente aus bestimmten Lohnabhängigengruppen mit einem Schwerpunkt bei dem auch anderweitig mobilisierten Gesundheitspersonal: die kämpferischen Belegschaften oder Belegschaftsteile – allerdings nur in geringfügigem Ausmaß aus der Privatindustrie -, auf eine Komponente von Lohnabhängigen aus Klein- und Kleinstbetrieben ohne Aussicht auf gewerkschaftliche Organisierung innerhalb ihrer Arbeitsverhältnisse, sowie auf eine Komponenten von Kleinunternehmern, Selbständigen und abstiegsbedrohten oder sich vom Abstieg bedroht wähnenden Mittelklassenangehörigen: die rasenden Kleinbürger.)
Jedenfalls in der Vergangenheit konnte man bei sozialen Protestbewegungen in Frankreich aussagen, ob bzw. dass entweder eine linke und gewerkschaftliche Beteiligung an ihnen zu beobachten war, vom Mai 1968 über die Sozialprotestbewegungen in den öffentlichen Diensten 1995 und gegen den Angriff auf den Kündigungsschutz im Winter/Frühjahr 2006 bis zum Protest gegen die Arbeitsrechts-„Reform“ im Frühjahr und Frühsommer 2016, oder eine politisch rechte Komponente: vom Kampf zur Verteidigung der überwiegend katholischen Privatschulen im Frühjahr 1984 zur Massenbewegung gegen die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare 2012/13/14. Hingegen lässt sich bei der „Gelbwesten“-Protestbewegung eine solche Bestimmung nicht vornehmen, denn man findet tatsächlich beides in ihr, und noch andere, zusätzliche ideologische Komponenten: organisierte und unorganisierte Linke, organisierte und unorganisierte Rechte, daneben Totalverstrahlte und Verschwörungsgläubige, daneben sich für „bislang unpolitisch“ haltende Ehrlichempörte.
Dass sich diese unterschiedlichen Milieus zusammenfinden und zu einer heterogenen, doch objektiv und z.T. auch subjektiv gemeinsam wirkenden Protestbewegung zusammenballen konnten, hängt mit Bestimmtheit auch damit zusammen, dass vorausgegangene Kämpfe auf gewerkschaftlicher (plus linker) Grundlage – wie gegen die Arbeitsrechts-„Reform“ von März bis Juli 2016, gegen deren Verschärfung von September bis November 2017, bei der französischen Eisenbahn im Frühjahr 2018 – mit erkennbaren Niederlagen endeten.
Sicherlich hat zum Teil eine Entmischung stattgefunden; rechte Aktivbürger und Wutsubjekte, die in den Anfangswochen im Herbst 2018 etwa (im Namen von „wir, das Volk“) diese Protestbewegung als ihre Verbündete betrachteten, pöbeln nunmehr mitunter in der Nachbarschaft von Demonstrationen herum – wie etwa vom Verfasser am diesjährigen 1. Mai auf der Höhe der Nahverkehrsstation Port-Royal und in der Nähe einer Festnahmeszene beobachtet -, weil ihnen der Protest nunmehr zu lang andauernd und zu unübersichtlich ist.
Das rechte Wutbürger- und Wutmob-Spektrum hat sich insgesamt in Teilen eher von den „Gelbwesten“ entfernt. Umgekehrt verankert dies das Spektrum der aktiv Bleibenden eher klarer im linken oder jedenfalls demokratischen Bereich. Jüngst kamen etwa zu einer explizit antifaschistischen Diskussionsveranstaltung im westfranzösischen Tours (vgl. larotative.info…), an welcher rund 80 Personen teilnahmen, allein zwanzig „Gelbe Westen“, darunter auch zwei örtliche Begründerinnen des „Gelbwesten“-Protests. Und wer – wie der Verfasser – als Augenzeuge die Präsenz der höchst fitten, und herkunftsmäßig erkennbar gemischten, „Gelbwesten“-Frauengruppe Femmes Gilets jaunes Ile-de-France bei der jüngsten Großveranstaltung „Emmanuel Macrons Prozess“ (vgl. facebook.com… und la-bas.org…) im Pariser Gewerkschaftshaus mitbekommen hat, kann gar nicht umhin zu sagen: Es gibt aktive, progressive, optimistisch stimmende, sympathische Kräfte innerhalb dieser (heterogenen) Protestbewegung. Wahrscheinlich bestimmen sie dieselbe sogar mehr und mehr. Auch wenn es die anderen, die eben nicht aktiv, progressiv, optimistisch stimmend und sympathisch sind, durchaus auch gibt – vgl. unseren nebenstehenden heutigen Artikel über eine Präsenz von bestimmten „Gelbwesten“-Vertreter/inne/n auf rechtsextremen Listen in Frankreich. Nein, Letztere bestimmen nicht allein das Bild, nein, Letztere machen nicht die Substanz der „Gelbwesten“-Bewegung als solche aus, um es ein für allemal klarzustellen.
Untypisch für soziale Protestbewegungen mit breitem Rückhalt (denn einen solchen hat es in den Umfragen lange Monate hindurch gegeben, von eher 70 Prozent Zustimmung im November /Dezember 2018 zu eher 50 Prozent Zustimmung im Januar/Februar 2019, derzeit ist der Wert eher relativ unbekannt) ist auch der faktische Avantgarde-Charakter dieser Protestbewegung. Dies ist nicht im Sinne einer politisch-ideologisch klar bewussten, strukturierten, gar ideologisch vereinheitlichen Avantgarde(organisation) gemeint, was ganz gewiss nicht zutreffen würde. Aber es trifft in dem Sinne zu, dass ein stark gehärteter und entschlossener „harter Kern“ aus mehreren Zehntausenden Personen die Proteste trägt, was die aktive Beteiligung an ihnen betrifft; bestehend aus Menschen, die bereit sind, über Monate hinaus mehr oder minder viel von ihrer Zeit für eine ihnen auf den Nägeln brennende „Sache“ zu verwenden. Genau deswegen geht diesem Protest im Übrigen auch bislang nicht oder nicht vollständig die Puste aus, denn je breiter eine Bewegung von ihrer quantitativen Zusammensetzung her ist, desto schneller wirkt die „soziale Schwerkraft“ auf sie, also der Druck auf viele Beteiligten, sich vorrangig wieder um’s Geldverdienen, um die Familie oder die eigenen Arzttermine zu kümmern, weil diese Notwendigkeiten sich wieder ins Gedächtnis rufen.
Die Teilnehmer/innen/zahlen bei den „Gelbwesten“-Protesten betrugen an den ersten Samstagen der Protestbewegung im November/ Dezember 2018 kurzzeitig bis zu rund 300.000 wöchentlich (vielleicht auch punktuell eine halbe Million), im März und April 2019 dagegen lag sie in aller Regel bei 30.000 bis höchstens 50.000. (Allerdings lagen sie bei den letzten beiden Protest-Samstagen, am 04. Mai und am 11. Mai, dieses Jahres jeweils „nur“ bei rund 19.000 frankreichweit laut Regierungszahlen, die sicherlich in einem gewissen Ausmaß untertrieben sein dürften. Inhaltlich waren hingegen die Anliegen in beiden Fällen glasklar sozial & progressiv, denn am 04. Mai wurden die Zustände im Gesundheitswesen in den Mittelpunkt gerückt – wie wir berichteten (vgl. labournet.de…) – und am 11. Mai wurde die Solidarität mit den streikenden Teil des Lehrpersonals an öffentlichen Bildungsanstalten hervorgehoben. Nunmehr wird inhaltlich am 27. Mai die „Mobilisierung der Verletzten“, d.h. der Opfer der phasenweise absolut massiven Polizeigewalt in den letzten Wochen und Monaten, bemerkenswert ausfallen.)
Dieses Ausmaß ist für einen Marathonprotest, dem jedenfalls in Teilen „nicht die Puste ausgeht“ und der nach wie vor die öffentliche Meinung beschäftigt – zum Halb-Jahres-Tag am heutigen 17. Mai 19 nehmen die „Gelben Westen“ etwa die Titelseiten der an den Métro-Ausgängen verteilten Gratispresse ein -, ausgesprochen viel; doch in absoluten Zahlen gemessen ist es nicht dermaßen viel. Die quantitative Protestmobilisierung auf den Straßen war bei Sozialprotestbewegungen wie jener vom Februar/März/April 2006 gegen die Attacke auf den Kündigungsschutz in Gestalt des CPE oder „Ersteinstellungsvertrags“ (es handelt sich um die bisher letzte Bewegung in Frankreich, die einer Regierung eine Totalniederlage bei ihrem Thema, ihrem Protestgegenstand beibringen konnte) um einen Faktor Zehn bis Hundert so groß. Vom Mai 1968, mit zeitweilig bis zu acht Millionen Streikenden Lohnabhängigen, gar nicht erst zu reden…
Deswegen ist es i.Ü. auch absolut grotesker Unfug, wenn man beispielsweise in schriftlichen Quellen aus dem Tal der Ahnungslosen lesen kann, es handele sich beim „Gelbwesten“-Protest um, Zitat, „The largest uprising in France since 1968″. (Vgl. dazu: communemag.com…) – Sorry, aber nein: Setzen, Sechs, Thema verfehlt! Bitte erst um die Realität kümmern und erst danach dummes Zeug behaupten!)
Linke deutsche Projektionen
Viel ist auf diese Bewegung, deren Analyse betreffend Ursachen und (kurz-, v.a. jedoch mittel- und längerfristige) Auswirkungen noch aussteht, projiziert worden. Linke wollten in ihre eine linke Protestbewegung erkennen, weil sie „ihre“ oder ihnen liebe Symbole oder Personen in ihr wiederfanden, Rechten wollte eine rechte Bewegung in ihr erkennen und Totalverstrahlte eine verschwörungsideologische Protestbewegung. Doch sie war entweder nichts davon, oder Alles davon auf einmal. Der Verfasser behauptet damit nicht, dass dies die Analyse einfacher mache.
Einige der erwähnten Beiträge zur Protestbewegung, die von entsprechenden Projektionen geprägt waren, zeichneten sich durch ein ausgesprochenes Wunschdenken aus. Nehmen wir in pars pro toto (als Teil für das Ganze stellvertretend) nur folgenden Beitrag: infopartisan.net…; Auszug als Zitat: „All diese Behauptungen sind Lügen. Tatsächlich war es die Polizei, die von Anfang an auf ‘Krawall gebürstet’ war und die ‘Sprache der Gewalt’ benutzte. (…)„Das entspricht der Linie der französischen Gewerkschaften und Pseudolinken, die ebenfalls argumentieren, die Proteste würden die extreme Rechte stärken. In Wirklichkeit sind Figuren wie Sarkozy in der Bevölkerung verhasst, und die extreme Rechte denunziert die ‘Gelben Westen’…“ Sorry, aber Unfug: Die extremen Rechte ist in Teilen (in Teilen!) dieser derzeitigen Bewegung ziemlich massiv verankert, ob man es nun wahrhaben möchte oder nicht – man sollte zumindest das Problem erkennen, bevor man darüber diskutiert, welche Strategie man ihr vielleicht entgegensetzt -; und, doch, Gruppen aus dieser Protestbewegung gingen in sehr massiver Weise gewaltförmig vor, jedenfalls im Sinne von „Gewalt-gegen-Sachen“, wesentlich weniger im Sinne von Auseinandersetzung mit Personen (… abgesehen von Auseinandersetzungen mit der Polizei, doch mittlerweile ist tatsächlich hauptsächlich die Polizei gewalttätig). Auch hier lautet die eigentliche Frage, wie man dies nun bewertet.
Andere Stimmen zeichnen sich eher durch Skepsis aus, doch auch dort ist nicht alles richtig und zutreffend, was aufgeschrieben wird. Auch hier nehmen wir stellvertretend eine Stimme heraus (deren Äußerungen immerhin anerkennenswerter durch das Bemühen geprägt sind, die Realität mitsamt unschönen Aspekten als solche wahrzunehmen!) (vgl.: infopartisan.net…) – Hier liest man zu den Inhalten: „(FORDERUNG:) Keine Personen mehr ohne festen Wohnsitz. (ANTWORT / ANALYSE:) Der leider allgegenwärtige Rassismus gegen Sinti und Roma. Bettler, Obdachlose und ‘illegale’ Migranten sollen auch vertrieben werden, vermutlich interniert und als ‘Problem’ beseitigt werden.“ Sorry, aber auch dies ist grundfalsch. Wörtlich übersetzt bedeutet Sans domicile fixe (SDF) – als administrative Bezeichnung jener Personengruppe, um die es an dieser Stelle in einem Forderungskatalog im Namen der „Gelbwesten“ ging – so viel wie „Ohne festen Wohnsitz“. Inhaltlich bedeutet der Begriff nicht anderes als Obdachlose, Menschen ohne Wohnungen. Und intendiert, gemeint war mit der oben zitierten Forderung der „Gelbwesten“ nichts Anderes als dies: „Keine Obdachlosigkeit mehr, Wohnraum für Alle!“ – und nicht etwa „KZ für Roma“. Möglicherweise liegt die Fehlerquelle hier in der Übersetzung, doch es macht an dieser Stelle dann doch einen Unterschied ums Ganze…
Erwartungsgemäß sieht man auch auf sonstiger Seite gerne das, was man sehen würde; etwa spricht bei nach rechts (ja bis rechtsaußen) driftenden Gestalten aus der Ex-Linken der dringliche Wunsch, sich dergestalt bestätigt zu finden, dass man lobend erwähnen kann, hier sei sozialer Protest endlich nicht mehr links besetzt.
Beispielsweise bei den nach weit rechts abdriftenden Märchenonkeln von der Bahamas (nein, nicht der Inselgruppe mit Anziehungskraft für Steuerflüchtlinge; gemeint ist das Witzblättchen für „Antideutsche“, die nun nicht mehr so heißen mögen, sondern sich mittlerweile „Ideologiekritiker“ schimpfen (vgl. redaktion-bahamas.org…). Dort ist man im Kern hauptsächlich froh darüber, es mal mit einer sozialen Bewegung zu tun zu haben, die – so wird behauptet – nicht sträflich links sei, von ein paar bösen Eindringlingen abgesehen. Natürlich wird, sonst wäre die Bahamas nicht die Bahamas, mehrfach mit dem Antisemitismus-Begriff um sich geworfen (ansonsten würde es ja langweilig). Es folgt die nur noch lächerlich zu nennende Absurdität, es seien die Linken, die Antisemitismus in diese – wie oben erwähnt, heterogene – Bewegung hinein trügen: Demnach (Zitat im Originalton) „geriet in der Phase des antifaschistischen und antirassistischen Einmarsches progressiver Kräfte, die der zerfallenden Bewegung ihre linke Hegemonialpolitik aufdrückten, jedenfalls medial ins Zentrum des Gelbwestenprotests: skrupelloser, gewaltbereiter Antisemitismus.“(Seite 21 der aktuellen Ausgabe Nummer 81, linke und mittlere Spalte (vgl. redaktion-bahamas.org…)
Um dann doch noch Positives aus seiner Weltsicht zu entdecken, behauptet Sektenhäuptling Justus Wertmüller jedoch auch, der Linkssozialdemokrat Jean-Luc Mélenchon (natürlich auch er – wie soll es anders sein – ihm zufolge Antisemit oder jedenfalls in seinen Worten „selbstredend antizionistischer Marktschreier“, was in seinen Augen irgendwie ohnehin dasselbe bezeichnet; auch dies i.Ü. eine groteske Zuschreibung) sei zwar ein unguter Zeitgenosse, habe jedoch wenigstens Eines richtig erkannt. Wertmüller hebt unter Mélenchons Sätzen diesen einen positiv hervor: „Sie mahnen die Rückkehr zum Alltag an, die Rückkehr zur Normalität.“ (Seite 19 der oben zitierten Publikation, rechte Spalte) Wertmüller bekommt sich an diesem einen Punkt kaum mehr ein vor Begeisterung: „Mit einem Halbsatz … hat Mélenchon seine Rolle als gelittener Jammeronkel der Modernisierungsverlierer aufgegeben, als er gar nicht revolutionär, sondern scheinbar altbacken und retrospektiv… die Rückkehr zum Alltag und damit zur Normalität anmahnte. Diese Aufblitzen von Wahrheit ist nicht auf seinem Mistbeet gewachsen, sondern ihm von Leuten zugeflogen, an deren Spitze er stehen will (…).“ (Ebenda) Den Satz fand J.W. im Übrigen derart schön, dass er auch gleich noch eine Artikelüberschrift daraus bastelte: „Für die Rückkehr zur Normalität“ (vgl. Seite 17).
Unglücklicherweise (für ihn) hat Wertmüller jedoch an dieser Stelle Jean-Luc Mélenchon einen Satz in den Mund gelegt – und einen ganzen mehrseitigen Artikel um ihn herum konstruiert -, den er zu 100 % falsch interpretiert. Gemeint hatte der Linkssozialdemokrat und Linkspatriot Mélenchon nämlich just das Gegenteil. Sein Satz bedeutete genau so viel wie: Die Regierung und die Medien mahnen uns jetzt beständig dazu, „zur Normalität zurückzukehren“, also mit dem Protestieren aufzuhören. Dies werden wir jedoch nicht tun. Denn, so fährt er im nächsten Satz fort: „Aber es ist das Normale und das Alltägliche, das im Leben dieser Menschen unerträglich ist“, gemeint ist damit das bestehende soziale und ökonomische System. Was der „antideutsche“ deutsche Schnösel hingegen sucht, ist eine Bestätigung für das Bestreben seiner von Psychosen durchsetzten Selbsthilfegruppe für frühere Linke, die bitte, bitte keine Linke mehr sein möchten.
Als emanzipativ ausgerichteter Linker wird man nun nicht auf einen „starken Mann“ in Gestalt von Jean-Luc Mélenchon vertrauen, nein, nicht wirklich. Doch besser als solch ein Bahamas-Schreiberling versteht er die Welt, und auch die Protestbewegung, allemal.
Kurz und gut, bzw. schlecht: An Projektionen auf diese Bewegung mangelte und mangelt es nicht, doch beschreiben die Projizierenden weitestgehend nur sich selbst oder ihre Wünsche.
Was erst noch bevorsteht, ist die wirkliche, vorbehaltlose und keine wichtigen Aspekte vernachlässigende Auswertung dessen, was sechs Monate – und bald wohl noch mehr – an Protesten der „Gelbwesten“ bedeuteten, auslösten, bewirkten, darstellten.
Die Debatte darum ist eröffnet, und steht erst am Anfang – nicht an ihrem Ende.
Quelle: labournet.de… vom 17. Mai 2017
Tags: Arbeiterbewegung, Frankreich, Frauenbewegung, Service Public
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