Die Regierung Jair Bolsonaros – Eine Bilanz
Peter Muentzer. „Viele hatten ein regelrechtes Blutbad im Falle seines Wahlsieges bzw. nach seinem Amtsantritt erwartet. Dazu ist es glücklicherweise bisher nicht gekommen.“ erklärte die Solidaritätsinitiative der „Kooperation Brasilien“ kürzlich in einer Mail über den Amtsantritt von Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro. Ein auf Facebook zirkulierendes Meme beschreibt die Differenz zwischen der Erwartung und der Realität der Regierung Bolsonaro noch prägnanter „Wir dachten Bolsonaro sei Darth Vader, dabei ist er Jar Jar Binks“.
Diese Einschätzungen nach den ersten Monaten der Regierung Bolsonaro, die seit dem 1. Januar an der Macht ist, sind sowohl richtig als auch falsch: Zutreffend ist, dass Jair Bolsonaros markige Strongman-Rhetorik kaum verbergen kann, dass er sich bisher als schwacher Präsident erwiesen hat und keine besonderen politischen Erfolge vorweisen kann. Dies wäre angesichts der politischen Bilanz seiner Karriere als Kommunalpolitiker in Rio de Janeiro vorhersehbar gewesen. Von Beginn an war seine Präsidentschaft von Skandalen und politischen Fehlschlägen gekennzeichnet: Da ist die mutmaßliche Involvierung großer Teile seiner Familie in illegale Geschäfte, oder das außenpolitische Debakel bei der Eröffnung des Weltwirtschaftsforums von Davos. Oder seine Reaktion auf den Karneval in Rio, der von öffentlicher Kritik an der Regierung gekennzeichnet war. Bolsonaro postete auf Twitter ein Pornovideo, in dem angeblich der diesjährige Karneval zu sehen sei. Sein folgender Tweet „Was ist ein golden shower?“ demonstrierte wie sonst nichts die charakteristische Mischung aus Vulgarität und Unbedarftheit Bolsonaros. All dies wurde in den sozialen Medien, die ironischerweise zuvor Bolsonaros Aufstieg befördert hatten, mit Häme kommentiert und so entstand der Eindruck, seine Präsidentschaft wäre nicht ernst zu nehmen. Betrachtet man nur die Personalie Bolsonaro mag das der Fall sein, jedoch vergisst man dabei das Bündnis unterschiedlicher Kräfte, auf dem seine Regierung beruht.
Dieses Bündniss ist keineswegs ein Bund geheimer Verschwörer. Das politische System Brasiliens ist zwar durch die starke Verfassungsstellung des Präsidenten gekennzeichnet, doch um effektiv regieren zu können, muss er eine breite Koalition hinter sich bringen und somit diverse politische Tendenzen an der Macht beteiligen. Dies sind nicht nur parlamentarische Kräfte. Die im weitesten Sinne sozialdemokratische PT, die Brasilien von 2003 bis 2016 regierte, stützte sich etwa auf diverse soziale Bewegungen, die sie (mit fatalen Folgen) bürokratisierte und in den Staatsapparat integrierte. Wie zuvor Lula ist auch Bolsonaro letztendlich das Gesicht einer breiten Koalition gesellschaftlicher und politischer Kräfte. Sie repräsentiert die reaktionärsten Strömungen der brasilianischen Gesellschaft. Man kann diese grob in drei überlappende Gruppen einteilen: Die Kulturkämpfer, die Kapitalfraktion und die Repräsentanten des staatlichen Gewaltapparats, also von Polizei und Militär.
Die Kulturkämpfer
Die Gruppe der Kulturkämpfer umfasst u.a. Ideologen aus dem Dunstkreis des religiös reaktionären „Philosophen“ und vormaligen Astrologen Olavo de Carvalho, dessen Rhethorik von Verschwörungstheorie und Antikommunismus trieft. Sein Einfluss auf die Regierung Bolsonaro zeigt sich darin, dass zwei Minister auf seine Empfehlung hin ernannt wurden: Bildungsminister Ricardo Rodriguez und der Außenminister Ernesto Araújo. Das Steckenpferd des ersteren ist die „Schule ohne Partei“, ein Gesetzesprojekt das Themen wie Sexualerziehung, Menschenrechte und Evolution als ideologische Manipulationen linker Parteien brandmarken und mittels der Denunziation von Lehrkräften aus der Schule verbannen will. Doch mit wahnhafter Ideologie allein lässt sich offensichtlich keine Institution leiten. In seiner kurzen Amtszeit stolperte das Bildungsministerium von einer Krise in die nächste, bis Ricardo Rodriguez kürzlich abgesetzt und durch einen anderen Olavisten, den paranoiden Antikommunisten Abraham Weintraub, ersetzt wurde.
Zuvor fand sich die olavistischen Rhetorik insbesondere bei dem Außenminister Araújo, der mit rechtsradikalen Codes wie „Globalisten“ und „kulturellem Marxismus“ hantiert, den Klimawandel für eine kommunistische Verschwörung hält und den Linken unterstellt, sie wollten durch das Recht auf Abtreibung die Wiedergeburt des Heilands verhindern. Derartige Reden sind noch kohärent verglichen mit dem, was die evangelikale Pastorin Damares Alves, die das Ministerium für die Frau, Familie und Menschenrechte leitet, von sich gibt. Zu ihren Auslassungen gehört unter Anderem die Behauptung, Jesus sei ihr persönlich in einem Goiaba-Baum erschienen. Skeptischer als über derartige Wunder äußerte sie sich hingegen über die Gleichheit von Mann und Frau. Doch nicht nur in dieser Hinsicht wurde mit Damares der sprichwörtliche Bock zum Gärtner gemacht: Die Funai, die mit dem Schutz der indigenen Bevölkerung befassten Behörde, wurde von Jair „Messias“ Bolsonaro ihrem Ministerium zugeteilt. Damit steht diese Institution nun unter der Aufsicht einer Person, die in der Vergangenheit missionarische, anti-indigene Kampagnen führte und deren Adoptivtochter aus einer indigenen Siedlung „gerettet“ wurde, was wahrscheinlich bedeutet, dass man sie als Kind entführte.
Anders als die Anhänger*innen von Olavo de Carvalho repräsentiert Damares Alves mit den Evangelikalen eine mächtige und wachsende Wähler*innengruppe, die von ihren Pastoren strikt kontrolliert wird. Wie Sektengurus bereichern sich diese Pastor*innen oftmals an ihren Anhänger*innen und nutzen ihre Kirche als Wahlplattformen, was ihnen in vielen Regionen bedeutenden politischen Einfluss verschafft. Das Programm der „Kulturkämpfer“ ist eindeutig: Moralismus, Rückkehr zu traditionellen Rollenbildern, gegen reproduktive Rechte und sexuelle sowie religiöse Minderheiten, für eine Rekonfessionalisierung der Gesellschaft. Aus Damares Aufruf, dass die „Institutionen“ versagt haben, und die Rettung nun allein bei der Kirche läge, spricht darüber hinaus dafür, dass sie ihr Regierungsamt vor allem als Plattform zur Stärkung kirchlicher Organisation begreift, die sich vielerorts als Alternative zu staatlichen Strukturen etabliert hat. Damares steht daher für eine Tendenz zu einer Art theokratischen Parallelmacht, die sich insbesondere in ärmeren Regionen bereits konkret manifestiert.
Die Kapitalfraktion
Auch die Kapitalfraktion lässt sich in zwei größere Gruppen einteilen. Zunächst wären die Vertreter*innendes Agrarbusiness und der mit der Extraktion mineralischer Rohstoffen befassten Industrien zu nennen. Diese repräsentieren nicht nur die seit der Kolonisation dominanten Wirtschaftszweige, sondern auch die soziale Macht traditioneller Oligarchien von Großgrundbesitzer*innen, die insbesondere in ländlichen Bereichen weiterhin mit Einschüchterung und Patronage Macht über die Bevölkerung ausüben. Ihr Ziel besteht insbesondere in der Aufweichung von Umwelt- und Arbeitsschutzgesetzen, in der politischen Bekämpfung der Landlosenbewegung und der Aufhebung der Schutzgebiete der Indigenen, die dem unendlichen Landhunger der Agrarindustrie weichen sollen. Wie die Evangelikalen sind auch die sogenannten „Ruralisten“ sowohl im Parlament wie auch in der Regierung Bolsonaro vertreten. Dies etwa durch den Umweltminister Ricardo Salles, der unter anderem selbst wegen Umweltverbrechen verurteilt wurde.
Die Ablehnung von Regulationen und staatlichen Interventionen verbindet die agrarindustriellen Eliten mit den neoliberalen Technokraten. Diesen ist es insbesondere daran gelegen, die Bedingungen für die Kapitalakkumulation in Brasilien zu optimieren und den Staat durch Kürzungen und Privatisierungen zu verkleinern. Dies betrifft aktuell insbesondere die Rentenreform, die praktisch eine drastische Reduzierung der Rentenansprüche bedeutet und somit eine Steigerung künftiger Altersarmut verspricht. Repräsentant dieser Fraktion ist etwa der Finanzminister und Investmentbanker Paulo Guedes. Auch der prominente Richter Sérgio Moro kann zur Liste der neoliberalen Technokraten gezählt werden. Moro hatte den ehemaligen PT Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva auf der Basis von Indizienbeweisen wegen Korruption verurteilte und somit verhindert, dass er als Gegenkandidat zu Bolsonaro antreten konnte. Bolsonaro belohnte den „unbestechlichen“ Juristen mit dem Amt des Justizministers.
Doch der Neoliberalismus ist in Brasilien nicht nur in den Institutionen, sondern auch auf der Straße vertreten. Elementarer Bestandteil von diversen neoliberalen Organisationen ist dabei ein selektiver Anti-Korruptions-Diskurs, der die gesellschaftlichen Probleme auf Korruption reduziert und diese einseitig der PT beziehungsweise den von ihnen geschaffenen staatlichen Institutionen anlastet. Ergänzt wird dies durch eine Ideologie des freien Unternehmertums, nach dem nur die Last der Steuern und Regulationen den prekären Straßenverkäufer*innen daran hindere, sich in einen wohlhabenden Großunternehmer zu verwandeln. Der Neoliberalismus in Brasilien hat es so geschafft, eine klassenübergreifende Front gegen den sozialdemokratischen Staat der PT-Ära zu bilden.
Das Militär
Ausgenommen von den drastischen Plänen der Rentenreform sind die Angehörigen des Militärs, deren Repräsentanten 7 der 22 Ministerien sowie den Posten des Vizepräsidenten besetzen. Auch Bolsonaro selbst hat einen militärischen Hintergrund. Das Militär versteht sich in Brasilien traditionell als eigenständige nationale Institution, mit dem Recht zu intervenieren, um etwa „populistische Exzesse“, das heißt, linke Regierungen, zu verhindern. Während der blutigen Militärdiktatur von 1964-1985 herrschte die Generalität sogar höchstpersönlich, wobei es selbst in dieser Phase weniger Minister mit militärischem Rang gab als in der gegenwärtigen Regierung. Aktuell positioniert sich das Militär, allen voran der Vizepräsident Hamilton Mourão, gegenüber den naturgemäß polarisierenden Kulturkämpfern überwiegend als mäßigende Kraft. Zur Rolle des „vernünftigen Technokraten“ gehört jedoch auch die rückhaltlose Unterstützung von Privatisierung und „Reformen“.
Ebenfalls mit der Exekutive verbunden sind die Sicherheitskräfte und ihre Angehörigen, die nicht nur durch ein autoritäres, von Machismo und „Law and Order“ geprägtes Politikverständnis gekennzeichnet sind, sondern auch tief verstrickt sind in den nicht erklärten Krieg gegen die arme und schwarze Bevölkerung der Peripherie. Unter dem Banner des Krieges gegen Drogen und organisierte Kriminalität werden jährlich tausende, überwiegend schwarze Jugendliche von den Sicherheitskräften ermordet. Das Massaker kam nicht mit Bolsonaro. Es war schon vorher gesellschaftlich normalisiert. Legitimiert wird diese „Nekropolitik“, mit der diejenigen beherrscht werden, die die kapitalistische Gesellschaft als überflüssig ausstößt, durch eine manichäische Gegenüberstellung: Auf der einen Seite der „Bandit“, der des Lebens unwerte „Asoziale“, auf der anderen Seite der „gute Bürger“, der zu seiner Selbstverteidigung jeden richten darf, der ihm als Bedrohung erscheint.
Mit den Lockerungen der Bestimmungen zum Waffenbesitz wie auch seiner Null-Toleranz-Rhetorik spricht Bolsonaro insbesondere dieses Milieu an. Auch seine politische Karriere in Rio de Janeiro ist eng verbunden mit der Patronage dieses Klientels. Damit ist Bolsonaro auch in die Machenschaften der sogenannten „Milizen“ verstrickt. Hierbei handelt es sich um rechtsradikale Banden von ehemaligen und aktuellen Angehörigen der Sicherheitskräfte, die in jeder Hinsicht wie eine Mafia agieren und ganze Stadtviertel mit Erpressung und Gewalt beherrschen. Ermittlungserfolge im Fall der Ermordung der linken Stadträtin Marielle Franco, die gegen den faktischen Kriegszustand in den Favelas von Rio de Janeiro und die straflose Ermordung ihrer Einwohner*innen protestierte, verweisen auf eben jene Gruppen. Zugleich offenbaren sie eine besondere Nähe zum direkten Umfeld des Präsidenten: Marielles Mörder und ihre Verwandten waren, wie es scheint, Nachbar*innen, Geschäftspartner*innen und Angestellte der Familie Bolsonaro. Jair Bolsonaros Söhne haben sich in der Vergangenheit gegen die posthume Ehrung von Marielle Franco und für die Legalisierung der Milizen ausgesprochen. Angesichts dieser Umstände erübrigt es sich, auszusprechen, wer die Milizen in der aktuellen Regierung vertritt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Regierung Bolsonaro nicht erfolgreich sein muss, um wirksam zu sein. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist keine konstruktive Vision. Die Regierung Bolsonaro ist vielmehr das Vehikel der Entfesselung von gewaltsamen, gesellschaftlichen Kräften, die in Brasilien keineswegs neu sind und denen die PT-Regierung in der Vergangenheit teils versuchte, mittels der Institutionen zarte Ketten anzulegen. Entsprechend richtet sich die Reaktion auf die Zerschlagung dieser Institutionen. Bolsonaro beauftragte einen Pornodarsteller und Youtuber mit der Planung des brasilianischen Äquivalents zum Abitur, machte einen ehemaligen Astronauten, der davon lebt Autogramme zu geben, zum Technologieminister, überließ einem Vertreter des Agrarkapitals die Landreform, und strebt darüber hinaus die Austrocknung sozialer Systeme und des Bildungswesens an. An die Stelle der geplant scheiternden demokratischen Institutionen tritt die private Willkür der Großgrundbesitzer und Unternehmer*innen, der neuen Kirchenfürsten, der großen und kleinen Warlords. Auch das deutsche Kapital freut sich auf die bevorstehenden Plünderzüge und seine Sprecher empfehlen Investitionen. Angesichts des Scheiterns des Reformismus der PT stellt sich die Frage, ob gradueller sozialer Wandel in Brasilien überhaupt möglich ist. Doch es gibt auch positive Aussichten: Früher oder später wird das allgemeine Hauen und Stechen auch die Mächte erfassen, die sich im Augenblick noch in der Regierung die Hand geben. Und dann ergibt sich vielleicht die Gelegenheit für tiefgreifendere Veränderungen.
Quelle: lowerclassmag.com… vom 1. Mai 2019
Tags: Brasilien, Lateinamerika, Neoliberalismus, Neue Rechte, Politische Ökonomie
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