Revolutionäre Politik in heißen Zeiten
David Reisinger. Existenzielle Krisen wie Nahrungsmittelknappheit verstärken den Ruf nach radikalen politischen und ökonomischen Veränderungen. Wenn die Linke nicht das Ruder übernimmt, führt der Kurs in humanitäre Katastrophen.
Hungersnöte waren in der Geschichte immer wieder treibende Faktoren für Revolutionen, beispielweise in Frankreich 1789 oder in Russland 1917. Die russischen Revolutionäre um Lenin hatten verstanden, dass die Not der Massen so groß war, dass sie jeden Strohhalm zur Lösung ihrer Probleme ergreifen würden. Wenn es den Revolutionär_innen nicht gelingen würde, eine progressive Lösung aus der Hungersnot zu finden, dann würden die antisemitischen Pogrome der „Schwarzhundertschaften“ die Massen mit sich reißen.
Es passiert nichts
Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, einer der entscheidenden Texte von Lenin vom September 1917, erinnert an die Situation von heute: „Eine Katastrophe von beispiellosem Ausmaß und eine Hungersnot drohen uns. Davon war schon in allen Zeitungen unzählige Male die Rede. Eine Unmenge von Resolutionen in denen festgestellt wird, daß die Katastrophe unvermeidlich ist, daß sie ganz nahe bevorsteht […] Alle sagen das. Alle erkennen das an. Für alle steht das fest. Und nichts geschieht“.
Diese Sätze können eins zu eins auf die heutige Zeit umgelegt werden. Dank der gigantischen Klimaproteste der Fridays for Future-Bewegung sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum menschengemachten Klimawandel in aller Munde. Talkshows über Talkshows, Artikel über Artikel, Resolutionen über Resolutionen – dennoch bleiben bedeutende Veränderungen aus.
Was passieren müsste
Sven Teske, Wissenschafter an der Technischen Universität Sydney, zeigt in seinem Buch Achieving the Paris Climate Agreement Goals was notwendig wäre, um das 1,5 Grad-Ziel der Pariser Klimakonferenz einzuhalten. Die Produktion von Kohle müsste bis 2030 um drei Viertel gegenüber 2015 zurück gefahren werden und die Förderung von Erdöl müsste um 60 Prozent verringert werden.
Aktuell werden zwischen 80 und 85 Prozent des weltweiten Primärenergieverbrauchs durch fossile Brennstoffe gedeckt. Die staatlichen Förderungen genauso wie Bankkredite für fossile Konzerne wachsen, als würde das Pariser Abkommen nicht existieren.
Angesichts des totalen Versagens des ökonomischen Systems sah Lenin 1917 die einzige Möglichkeit im Aufstand der Massen. Die Versorgungslage der Bevölkerung musste verbessert werden, indem eine demokratisch geplante Wirtschaft, welche die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt stellt, aufgebaut werden sollte.
Nicht im selben Boot
Der Wissenschafter Douglas Rushkoff berichtet in seinem Text Survival of the Richest davon, wie ihn einige Top-Manager darüber ausfragten, in welchen Bunkern, auf welchen Kontinenten sie die Klimakatastrophe überleben würden. Wer in gekühlten Büros hinter meterhohen Mauern sitzt, verspürt nicht dieselbe drängende Angst vor der Erderwärmung. Sterben werden zuerst die Ärmsten, die älteren Menschen und die Werktätigen, die bei Hitze schuften müssen. Schon jetzt sterben in Österreich mehr Menschen an Hitze als im Straßenverkehr.
Wieso sollten die Konzernchefs von BP oder der OMV das Risiko von riesigen Investitionen in erneuerbare Energie auf sich nehmen, wenn sie bereits Milliarden in fossile Brennstoffe investiert haben? Da verwendet man seine Profite eher, um in geschützte Bunkeranlagen in Neuseeland zu investieren. Egal ob Hungersnöte, Hurrikans, Überschwemmungen oder sonstige Katastrophen – sie treffen die Arbeiter_innenklasse und die Armen im globalen Süden.
Nahrungsmittelknappheit
Eine Dürreperiode in Indien führte dazu, dass der Ertrag der Zwiebelernte im Vergleich zum Vorjahr um nahezu 50 Prozent abnahm. Die Folge waren Preissteigerungen um 500 Prozent und Massenproteste. Die revolutionäre Welle im arabischen Raum 2010/2011 wurde von Dürreperioden und Nahrungsmittelknappheiten mit ausgelöst. Während die Arbeiter_innen hungerten, schaufelten die Diktatoren Kaviar und Steaks in sich hinein. Gemischt mit der Brutalität des Staatsapparates unter Mubarak (Ägypten) oder Assad (Syrien) stachelte dies die Wut der Arbeiter_innen weiter an.
Klimawandel ist nicht wie manchmal behauptet ein Problem mit dem sich ausschließlich privilegierte weiße Europäer auseinandersetzen. In keinem Land ist die Furcht der Menschen vor dem Klimawandel so groß wie in Burkina Faso.
Global betrachtet könnten wir laut Berechnung von Jean Ziegler 12 Milliarden Menschen ernähren. Das bedeutet, die drohenden Hungerkatastrophen wären in einer Gesellschaft, in der Nahrung nach Bedürfnissen verteilt wird, leicht lösbar.
Konterrevolution
Genauso wie 1917 die Gefahr bestand, dass die Hungerkatastrophen von antisemitischen Zirkeln für ihre Zwecke missbraucht werden, besteht diese Gefahr auch heute. Vor dem Militärputsch gegen den gewählten Präsidenten Ägyptens, Mursi, organisierte der „tiefe Staat“ (Militär, Polizei, Geheimdienste) Engpässe von Nahrung und Öl. Dadurch sollte Zustimmung für den Putsch gewonnen werden.
Genauso versuchen reaktionäre Wissenschafter und Politiker, die Schuld des Kapitalismus am Klimawandel – 71 Prozent der CO2-Emissionen gehen laut dem Carbon Majors Report auf das Konto von gerade einmal 100 Konzernen – mit dem Märchen Überbevölkerung rassistisch zu relativieren.
Die Einwanderung von Muslim_innen in mit antimuslimischem Rassismus infizierte Staaten kann, gemischt mit der absurden These der Überbevölkerung, faschistische Lösungen eröffnen. Umso spürbarer die Auswirkungen des Klimawandels werden, umso lauter der Ruf nach dem Sturz des Kapitalismus, desto eher wird die herrschende Klasse auf solche Lösungen zurückgreifen.
Seit Jahrzehnten finanzieren Öl-Konzerne Klimawandelleugner mit hunderten Millionen von Dollars, wieso sollten sie nicht dazu bereit sein, Rassismus und Überbevölkerungsgeschwafel zu finanzieren?
Revolutionäre Lösung
Andreas Malm schlägt in seinem lesenswerten Text Revolutionary Strategy in a Warming World die Erweiterung des Kommunistischen Manifests um 10 Punkte vor. Einige zentrale Punkte wären: „100% der Elektrizität aus nicht-fossilen Quellen decken, das bedeutet primär aus Wind und Wasser. Verstärkte Aufforstung. Ausbau des öffentlichen Verkehrs, sowohl U-Bahnen als auch interkontinentale Hochgeschwindigkeitszüge, um den Individualverkehr genauso wie das Fliegen weitestgehend abzuschaffen.“
Diese Forderungen sind nicht als endgültige Lösungen zu verstehen, sondern als erste unabdingbare Schritte, um eine demokratische, klimagerechte Wirtschaft herbeizuführen. Um diese Ziele zu erreichen, werden Demonstrationen und Onlinepetitionen nicht reichen, auf der anderen Seite der Barrikaden stehen einige der mächtigsten Konzerne, die sich auf die internationale Staatenwelt verlassen können. Jüngst wurde bekannt: das deutsche Innenministerium bot dem Konzern RWE Zugriff auf die Überwachungsdaten der Polizei an, um die Aktivist_innen im Hambacher Forst zu räumen.
Internationalität essentiell
Die schwedische Regierung sieht sich gerne als Vorkämpfer für eine CO2-neutrale Wirtschaft. Um diese zu erreichen, verkaufte sie 2016 die Braunkohle-Sparte des Konzerns Vattenfall an den tschechischen Konzern EPH. Dem Klima ist es egal, ob es von schwedischen oder tschechischen Konzernen zerstört wird. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie nationale Lösungsansätze im Angesicht der Klimakrise kläglich versagen. Revolutionen finden immer gegen die nationale herrschende Klasse statt. Sozialist_innen kämpfen dafür, dass sie sich international ausweiten. Die Bosse von ExxonMobil, Shell und der OMV sitzen nicht in Chile, Burkina Faso oder Indien. Gerade darum ist es notwendig, dass die Bewegung für Klimagerechtigkeit um Dimensionen wächst, nicht nur was ihre Zahl auf Demonstrationen angeht, sondern vor allem, was die Beteiligung der industriell organisierten Arbeiter_innenklasse angeht. Gemeinsam können lokale Proteste gegen Preissteigerungen und globale Proteste der Arbeiter_innenklasse eine Dynamik entfalten, welche die Utopie einer anderen Gesellschaft greifbar macht.
Arbeiterinnenklasse
Marx beschreibt im Kapital wie der Kapitalismus, ähnlich wie der Vampir auf Blut, auf die Arbeitskraft der Arbeiter_innen angewiesen ist. Nur die Arbeiter_innenklasse hat die Macht, durch Streiks die kapitalistische Profitproduktion lahmzulegen. Genauso wie die industrielle Arbeiter_innenklasse in den Metall-, Streichholz- oder Kleidungsfabriken die Avantgarde der russischen Revolution war, müssen die Arbeiter_innen in den fossilen Konzernen den Umbau hin zu einer CO2-neutralen Wirtschaft anführen. Sie verfügen über das technische Knowhow, die fossile Brennstoffwirtschaft zu beenden und eine andere Energieproduktion aufzubauen. Der Kampf für Klimajobs muss also auch ein Kampf für bessere Arbeitsbedingungen, kürzere Arbeitszeiten usw. sein, wenn sich die in fossilen Unternehmen beschäftigten Arbeiter_innen ihm anschließen sollen. Wie das aussehen kann, demonstrierten die Arbeiter_innen der Belfaster Schiffswerft Harland and Wolff. Diese streikten gegen die Schließung der Werft und verlangten, die Produktion von Windrädern und Gezeitenkraftwerken auszudehnen.
Quelle: linkswende.org… vom 11. Dezember 2019
Tags: Arbeiterbewegung, Indien, Marx, Ökosozialismus, Strategie
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