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Die polnische Regierung im Kampf zur „Verteidigung der Familie“

Eingereicht on 9. März 2020 – 16:32

Verfolgt man bundesdeutsche Medien und ihre Beiträge über Polen, gibt es aktuell vor allem zwei Themen: Der Angriff der polnischen Regierung auf die „unabhängige Justiz“ und die Offensive aller Strömungen der gesamten polnischen Rechten gegen LGBT-Menschen und deren angeblich gefährliche „Ideologie“. Beide propagandistischen bürgerlichen Kampagnen gegen die polnische Rechtsregierung haben ihre Pferdefüße: Wenn ausgerechnet die EU als Verteidigerin der unabhängigen Justiz beschworen wird – so erinnern sich viele ziemlich schnell an Freibriefe, die „unabhängige Richter“ der deutschen Polizei jeden Tag und französischen Polizei mit ihrem Terror gegen Gelbwesten etwa ebenso ausstellen, wie sie es bei spanischen Faschisten tun und…Und bei der Berichterstattung über die Hasskampagne der Homophoben samt Gesinnungsgenossen auf alle, die „verschieden“ sind, wird – wenn überhaupt – eher am Rande erwähnt, dass dies eine „Verteidigung der Familie“ sein soll, wie es heute Rechtsradikale weltweit tun (im Sinne von Gewalt gegen Frauen und Kindesmissbrauch ist Familie sehr passend). Ausgeblendet bleibt auch, dass dabei nicht einzelne Geistliche, sondern die katholische Kirche als Institution eine zentrale Rolle spielt (wie etwa auch in Spanien – und wie es in anderen Ländern evangelikale Fundamentalisten tun). Zudem: Weitaus weniger wird darüber berichtet, wie die linke Opposition im Lande mal „nur“ behindert, oft aber auch systematisch mit Repression überzogen wird. Und, wie etwa auch in Ungarn, noch sehr viel weniger wird darüber berichtet, dass diese Angriffe der Rechtsregierung und ihrer Truppen auf der Basis eines „Wirtschaftswunders“ geschieht, von dem beileibe nicht alle profitieren – wohl aber deutsche Unternehmen. Zur Entwicklung in Polen unsere aktuelle und Hintergrund-Materialsammlung „Wie die Rechte in Polen mobilisiert – und ihre (ausländischen) Kritiker nicht“ vom 08. März 2020:

„Wie die Rechte in Polen mobilisiert – und ihre (ausländischen) Kritiker nicht“

(08. März 2020)

„Ein Zeichen gegen Homophobie“ von Modest Adam am 08. März 2020 in der taz online berichtet von der Solidaritätsdemonstration in Berlin – und lässt Erfahrungen mit „Familien“ zu Wort kommen: „… Es ist kalt am Samstagmittag. trotzdem stehen vor dem polnischen Institut in Mitte etwa 250 Berliner*innen, um Solidarität mit der polnischen queeren Community zu zeigen. Unterstützt wird der Protest unter anderem von Initiativen wie Queerdos, der Village Community und dem CSD Berlin. Trotz Kritik auf nationaler und internationaler Ebene machen LGBT-freie Zonen ein Drittel das Landes aus. Im Dezember 2019 verurteilte das EU-Parlament die Hetze gegen sexuelle Minderheiten in Polen.Um die Verstöße gegen Menschenrechte aufzuzeigen, erstellten polnische Aktivisten eine digitale Landkarte, auf dem die Zonen gekennzeichnet wurden, den „Atlas des Hasses“. Anfang März wurden sie dafür angeklagt. (…) „In Bialystok stand ich zum ersten Mal dem Tod gegenüber, als ein junger Mann mit einem Baseballschläger meinen Kopf einschlagen wollte. Ein junges Ehepaar brachte zum Pride eine selbstgebastelte Bombe mit. Diese ‚normale, heterosexuelle Familie‘, wie es in Polen von der Koalition, bestehend aus der katholischen Kirche und der PIS-Regierung, propagiert wird, hätte ein Blutbad anrichten können. Ich würde dann heute nicht vor euch stehen. Zum Glück wurden sie rechtzeitig von der Polizei festgenommen.“...“

„Polen: Massive Angriffe auf die LGBT*-Communities!“ von Sergen Canoglu am 27. Februar 2020 bei der Freiheitsliebe fasst zusammen: „…  Anfang 2019 hat der liberale Bürgermeister Warschaus Rafał Trzaskowski sich für eine Stärkung der Rechte sexueller Minderheiten ausgesprochen. Einige rechtskonservative Katholikinnen und Katholiken sahen darin einen Angriff auf die polnische Kultur und Zivilisation und begannen über die rechte Zeitschrift Gazeta Polska Stimmung mit den Aufklebern „LGBT-freie Zone“ zu machen. Zwar dürfen in Polen gleichgeschlechtliche Paare seit 2004 Ehen schließen, jedoch reiht sich der aktuelle Angriff von rechts in eine Reihe homofeindlicher Stimmungsmache ein. 2019 wurden in Białystok und Lublin die Pride-Paraden von rechtsradikalen Hooligans mit Flaschen, Böllern und Eiern beworfen, gestürmt und Demonstrierende attackiert. Danzigs ehemaliger Bürgermeister und Verfechter von LGBT-Rechten Paweł Adamowicz wurde – angestachelt von der rechten medialen Stimmungsmache – ermordet. Immer wieder fällt dabei die Regierungspartei PiS negativ auf: In den Medien und Parlamenten versuchen sie die rechtsextremen Ausschreitungen zu verharmlosen oder weisen jegliche Schuld der Mittäterschaft von sich. Sie sind sogar die Antriebsfedern queerfeindlicher und rechter Angriffe. Ihr Parteichef Jarosław Kaczyński schürt Ängste in der Bevölkerung, indem er Aufklärungskampagnen über unterschiedliche sexuelle Lebensrealitäten als „Demoralisierung der Kinder“ bezeichnete und entsprechende Gesetze gegen progressive Kampagnen erlassen möchte. Solche Kampagnen werden auch antikommunistisch als neue rote ideologische Gefahr verunglimpft...“

„Immer mehr »LGBT-freie Zonen« in Polen“ von Susanne Romanowski am 05. Mrz 2020 in neues deutschland online zur aktuellen Entwicklung der Hasskampagne: „… Ein Großteil der Regierungen nutzt für die Erklärung ein Dokument der ultrakatholischen Organisation »Ordo Iuris«. Die »Kommunale Charta der Familienrechte« beschwört die »LGBT-Ideologie«, die angebliche christliche Werte und die Integrität der polnischen Familie bedrohe. Im Fokus steht dabei das vermeintliche »Wohl der Kinder«. Sexualkunde, insbesondere solche, die LGBT-Themen einbezieht, sei zu verurteilen. Gefordert werden der Entzug jeglicher Unterstützung für LGBT-freundliche Organisationen und die Einrichtung eines Meldesystems, bei dem Fälle »der Verletzung von Familienrechten« denunziert werden können. Größere Bekanntheit erlangte »Ordo Iuris« 2016, als die Organisation eine – letztlich nach Massenprotesten abgelehnte – Gesetzesinitiative einbrachte, die ein komplettes Abtreibungsverbot in Polen bewirkt hätte. Der Einfluss der Fundamentalist*innen ist bemerkenswert: Der Mitgründer von »Ordo Iuris« und ein ehemaliger akademischer Beirat sind heute Richter am Obersten Gerichtshof…“

„Toleranzfreie Zonen“ von Stephan Fischer ebenfalls am 05. März 2020 in neues deutschland online kommentiert zur Rolle der katholischen Kirche in dieser Kampagne: „… Der Vorgang offenbart jedoch Schwächen: Rechtsaußen muss immer weiter Feindbilder befeuern und dabei immer radikaler agieren. Es zeigt auch die Spaltung des Landes: Die meisten Beschlüsse für »LGBT-freie Zonen« gibt es im Südosten, kaum welche dagegen in größeren Städten und im Westen des Landes. Und: Die katholische Kirche hat ihre Rolle als überparteiliche Institution längst verloren, gesellschaftliche Autorität und Deutungshoheit ebenfalls. Immer mehr Polen wenden sich von der Kirche ab. Und wenn diese sich so eindeutig auf eine Seite der politischen Sphäre stellt und dabei mit dem Verweis auf die Gefahren von Kindesmissbrauch von eigenen Missbrauchsskandalen ablenken will – dann ist das selbst für Wohlmeinende nur schwer zu tolerieren“.

Kundgebung gegen die “LGBT-Ideologie”-freien Zonen in Polen jetzt vor dem Sitz der rechtsextremen Fundi-Orga Ordo Iuris in Warschau“ am 03. März 2020 im Twitter-Kanal von Kapturak tweetet mit Fotos über diese Demonstration gegen die Mitautoren der Hasskampagne – die offensichtlich nicht eben klein war und bei der auch Buttons präsent waren, die eine „Ordo Iuris-freie Zone” forderten…

„Rechtsruck in Polen und linke Antworten“ von Alicja Flisak am 29. Dezember 2019 in der Freiheitsliebe zur rechten Familienkampagne insgesamt – und zur Bedeutung des erfolgreichen Kampfes gegen Abtreibungsverbot: „… Es stellt sich die Frage, warum es die Rechten schaffen von der Unzufriedenheit eines großen Teils der Beschäftigten zu profitieren und die Wut auf die Niedriglöhne und unsichere Arbeitsverhältnisse in Abneigung gegenüber der Migrantinnen, Migranten Feministinnen, Feministen, LGBTQI und der „Eliten“ umzuwandeln. Seit 2012 haben sich die katholische Kirche und die konservativen Gruppen in Polen gegen den Gebrauch des Begriffs „Gender“ in politischen Dokumenten und im öffentlichen Diskurs gewandt  und versucht, die sexuellen und reproduktiven Rechte einzuschränken. In diesem Anti-Gender-Diskurs wurde die damalige Regierungspartei, die konservativ-liberale Bürgerplattform, oft als Teil der extremen Linken dargestellt und beschuldigt, die „traditionelle Familie” und die “polnische Nation” zu zerstören. Auch im diesjährigen Wahlkampf waren die Rechte der LGBTQI ein polarisierendes Thema. Im April erklärte Kaczyński (Vorsitzender der PiS) die LGBTQI-Community zur Bedrohung für Polen und zum Ziel bei der Parlamentswahl. In Folge der Debatte haben sich ganze Regionen, in denen die PiS an der Regierung ist, symbolisch für eine LGBT-Freizone erklärt. In Folge dieser Stimmungsmache versuchten die rechten Demonstranten die Gay-Pride-Parade im Nordosten Polens zu stören und attackierten Teilnehmende. Der Versuch einer Aufwertung der “traditionellen Familie” und der damit verbundenen Reduzierung der Frau auf ihre Rolle als Hüterin von Kindern und Herd geht einher mit der Verteidigung des “natürlichen Unterschieds” zwischen den Geschlechtern und dem Kampf gegen den “Genderismus”. Im Einklang mit dem rechten Gedankengut steht die Stärkung der Familie ganz oben auf der politischen Agenda der PiS. Die sozialpolitische Entwicklung der letzten Jahre, sowie im Parteidiskus verankerte politische Ziele beweisen den zentralen Platz, welches das Thema für die Regierungspartei Polens einnimmt. Die Familien- und Frauenpolitik verbunden mit einer konservativen und traditionalistischen Vorstellung von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung spiegeln sich in dem Versuch wieder Abtreibungen gänzlich zu verbieten, wie auch in den eingeführten sozialpolitischen Maßnahmen. (…) Die landesweiten großen und wirksamen Proteste gegen Abtreibungsverbot in 2016 haben Menschen dauerhaft aktiviert und eine neue feministische Welle hervorgerufen. Es war auch der einzige Protest, der ein Vorhaben der Regierung effektiv gestoppt hat. Diesem Ereignis verdanken wir zum Teil die Tatsache, dass dieses Jahr die Gay-Pride-Parades in rund 30 Städten stattgefunden haben. Am 29. November gingen tausende Jugendliche auf die Straße und nahmen an dem weltweiten Klimastreik teil. Ihnen gingen die Proteste gegen die Abholzung des Białowieża Urwaldes voraus. Auch die Antifaschistische Bewegung gewinnt an Zuspruch: dieses Jahr nahmen tausende vor allem junge Menschen an den Gegenprotesten zum Unabhängigkeitsmarsch am 11.11...“

„Aktivistin: Polnische Politiker haben die Frauenrechte verkauft“ von Karolina Zbytniewska am 05. April 2018 bei Euroactiv zur familiären Wirklichkeit in Polen im Rahmen eines Gesprächs mit der polnischen Aktivistin Marta Lempart mit der Frage: „… Es gibt auch ein Problem mit häuslicher Gewalt. Laut Polizeistatistik waren im Jahr 2015 fast 70.000 Frauen Opfer häuslicher Gewalt, und 400-500 Frauen sterben jedes Jahr daran. Gleichzeitig erwägt die Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in regelmäßigen Abständen den Rückzug aus der Istanbulkonvention, da diese angeblich „vor allem darauf abzielt, eine linke Weltanschauung durchzusetzen“, wie die Europaabgeordnete Jadwiga Wiśniewska (PiS/EKR) kürzlich sagte..“

 „Sejm verabschiedet Gesetz“ vom 21. Dezember 2019 war eine dpa-Meldung (hier bei der taz) zur ersten parlamentarischen Entscheidung, die den Tenor der Medienlandschaft vorgibt: „… Trotz internationaler Proteste hat Polens Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Möglichkeiten zur Disziplinierung von Richtern erweitert. Bei der Abstimmung am Freitag konnte sich die nationalkonservative Regierungspartei PiS auf ihre absolute Mehrheit stützen. Abgeordnete der Opposition skandierten nach dem Votum „Schande“ und „Verfassung“. Die EU-Kommission hatte in einem Brief die Verantwortlichen in Warschau dazu aufgefordert, das Vorhaben nicht voranzutreiben. Auch das UN-Menschenrechtsbüro äußerte Bedenken. Das Gesetzesprojekt sieht vor, dass Richter künftig mit Geldstrafen, Herabstufung oder sogar Entlassung rechnen müssen, wenn sie die Legalität oder die Entscheidungskompetenz eines anderen Richters, eines Gerichts oder einer Kammer in Frage stellen. Auch dürfen sie sich nicht politisch betätigen und müssen angeben, in welchen Berufsorganisationen und Bürgerinitiativen sie aktiv sind…“

„Proteste in Polen gegen Richter-Gesetz“ am 18. Dezember 2019 bei tagesschau.de meldete dazu: „… In Polen haben mehrere Tausend Menschen gegen ein geplantes Richter-Gesetz demonstriert. Sie versammelten sich vor dem Gebäude des Parlaments in Warschau und riefen “Freie Gerichte” und “Wir werden siegen”. Auch in zahlreichen anderen polnischen Städten gab es Proteste. Dazu aufgerufen hatte das “Komitee zur Verteidigung der Demokratie” – ein Bündnis aus Bürgerinitiativen, Menschenrechtsaktivisten und Richterorganisationen. Die Proteste richteten sich gegen einen Gesetzentwurf der nationalkonservativen Regierungspartei PiS. Er sieht vor, dass Richter mit Geldstrafen, Herabstufung oder mit Entlassung rechnen müssen, wenn sie die Legalität oder die Entscheidungskompetenz eines anderen Richters, eines Gerichts oder einer Kammer infrage stellen. Auch sollen Richter sich nicht politisch betätigen dürfen. Kritiker sehen in den Plänen ein Ende der Gewaltenteilung...“

„Wegen Zivilcourage gefeuert“ von Gabriele Lesser am 26. Februar 2020 in der taz online macht deutlich, dass es sich bei der rechten Durchorganisation der Gesellschaft keineswegs nur um die Justiz handelt: „… Polens Juden sind schlecht zu sprechen auf den wortbrüchigen Kulturminister Piotr Gliński. Denn dieser wollte den Sieger eines offenen Wettbewerbs zum neuen Direktor des Museums der Geschichte der polnischen Juden, POLIN, ernennen. So war es vereinbart mit den beiden anderen Trägern des Museums, dem Verein des Jüdischen Historischen Instituts (ŻIH) und der Stadt Warschau. Doch als sich herausstellte, dass der bisherige Direktor Dariusz Stola den Wettbewerb gewann, weigerte sich Gliński, ihn zu ernennen. Der Professor für Zeitgeschichte war durch seine Kritik an der aktuellen Geschichtspolitik bei der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Ungnade gefallen. (…) Doch im Januar 2018 trat das sogenannte Holocaust-Gesetz in Kraft, mit dem angeblich – so hieß es offiziell – dem falschen Ausdruck „polnisches Konzentrationslager“ ein Riegel vorgeschoben werden sollte. Doch weder taucht dieser Terminus im Gesetz auf noch die ebenfalls falschen Begriffe „polnische Gaskammer“ oder „polnisches Vernichtungslager“. Stattdessen verbietet das Gesetz, über polnische Nazi-Kollaborateure zu sprechen und zu schreiben. Der damalige POLIN-Direktor Stola kritisierte das Gesetz scharf, da die angedrohte bis zu dreijährige Haftstrafe oder hohe Geldbuße in erster Linie Schoah-Überlebende und deren Angehörige treffen würde. Am Ende – nach massiven Protesten aus Israel und den USA – milderte die PiS das Gesetz ab. Doch Stola hatte sich bei den Parteifunktionären bereits unbeliebt gemacht…“

„Das “Intermarium” und die “Drei-Meere-Initiative” als Elemente des euroskeptischen Diskurses in Polen“ von Rafael Riedel am 21. Januar 2020 in den Polen-Analysen zu EU-Alternativen außenpolitischen Konzepten, die zunächst einmal vor allem deutlich machen, dass es sich um eine weitgehend vollständige, im Sinne von alle Bereiche betreffende Rechtsorientierung handelt: „… Welche Rolle spielt nun das Intermarium-Konzept in Polen im politischen, insbesondere im euroskeptischen, Diskurs? In einem sehr allgemeinen Verständnis bezieht sich Euroskeptizismus auf negative Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber dem europäischen Integrationsprozess als solchem, insbesondere in Gestalt der Europäischen Union. Den so verstandenen Euroskeptizismus gibt es mindestens so lange, wie es den europäischen Integrationsprozess gibt. Die wissenschaftlichen Definitionen und Typologien des Euroskeptizismus bieten indessen ein deutlich differenzierteres Bild. Paul Taggart und Aleks Szczerbiak, die Klassiker der Literatur zum Euroskeptizismus verfasst haben, bestimmen die negative Einstellung gegenüber der EU, der Idee der Integration als Ganzer und der EU-Mitgliedschaft als »harten« Euroskeptizismus, während die negative Haltung gegenüber einer der EU-Politiken (bei der Akzeptanz der EU als Ganzer) ein Kriterium des »weichen« Euroskeptizismus ist. Mit Blick auf diese Kategorien ist zunächst festzustellen, dass die gegenwärtige Debatte über das Intermarium-Konzept in Polen an vielen Stellen Merkmale eines euroskeptischen Diskurses aufweist. Wichtige Politiker des konservativen Regierungslagers benutzen die Formel Intermarium, um Inhalte zu kommunizieren, die als euroskeptisch klassifiziert werden können. Dies ist auch insofern interessant, als im Allgemeinen eine deutliche Unterstützung der polnischen Gesellschaft für die Mitgliedschaft des Landes in der EU zu beobachten ist. Im gesellschaftlich-politischen Bereich trat das Phänomen des Euroskeptizismus erst im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt Polens deutlich zutage, und im Grunde erst in der Phase vor dem Beitrittsreferendum im Jahr 2003. Die Einstellung ging mit dem Verhandlungsprozess über die Beitrittsbedingungen einher, als – wenn auch nur vorübergehend – offen euroskeptische Parteien auf der politischen Bühne auftraten, wie zum Beispiel die Liga der Polnischen Familien, sowie gemäßigt euroskeptische (die sich selbst als eurorealistische bezeichneten) wie beispielsweise Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS). Diese wiederum waren eine natürliche Folge der sinkenden Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft ab Mitte der 1990er Jahre bis zum Ende der Beitrittsverhandlungen im Dezember 2002..“

Warum die “liberale” Opposition im Grunde genauso Müll ist wie PiS. Die PO-Präsidentschaftskandidatin lastet der PiS-Regierung angesichts der türkisch-griechischen Vorgänge an, die Landesgrenzen nicht genug zu sichern und schürt Ängste vor Geflüchteten“ am 03. März 2020 im Twitter-Kanal von Kapturak fasst knapp und pointiert die Gemeinsamkeiten des polnischen Bürgertums zusammen, die auch einen Grund für die Stärke der Rechten im Land darstellen.

„Polnische Antifaschisten sind in Bewegung“ von Andy Zebrowski am 07. Jannuar 2020 in der Freiheitsliebe zur Gesamtkonstellation und dem Widerstand dagegen: „… Der aktive Widerstand gegen die extreme Rechte in Polen wächst. Der faschistisch geführte Marsch zum Unabhängigkeitstag am 11. November wurde auf den Straßen von einer Rekordzahl von Menschen bekämpft. Auf dem Höhepunkt des Marsches schlossen sich rund 12.000 Menschen, unter ihnen auch viele junge, an einem farbenfrohen und lebhaften Protest Teil, der das wachsende Vertrauen der Antifaschisten aus den vergangenen Jahren zum Ausdruck brachte..  Die Menschen glauben, dass wir eine viel größere Bewegung aufbauen können; etwas, das zu einer dringenden Notwendigkeit geworden ist. Im vorletztem Jahr, dem 100. Jahrestag der polnischen Unabhängigkeit, war der von den Faschisten organisierte Marsch zum Unabhängigkeitstag größer denn je, mit dem Präsidenten Polens und den Regierungsministern des Landes an der Spitze. Er wurde sogar von Militärfahrzeugen und Soldatenkolonnen begleitet! Aufgrund dieser offiziellen staatlichen Unterstützung nahmen rund 200.000 Menschen teil. In letzten Jahr war der Marsch deutlich kleiner, und die Regierung empfand es nicht mehr für notwendig, daran teilzunehmen. Nach Angaben der lokalen Behörden marschierten etwa 47.000 Menschen. Das ist aber immer noch eine große Zahl. Wie sind wir zu einer Situation gekommen, in der Faschisten Zehntausende von Menschen durch die Straßen führen können? Die Zunahme des Einflusses der extremen Rechten begann vor einem Jahrzehnt inmitten einer Welle der Frustration über die neoliberale Politik der Partei Bürgerplattform (PO) – der Partei des polnischen Großkapitals. Die Finanzkrise von 2008 führte zu einer Verschärfung dieser Politik bei gleichzeitiger deutlicher wirtschaftlicher Verlangsamung. Im Gegensatz zu den meisten anderen EU-Ländern ging Polen nicht in eine Rezession, sondern das Wachstum fiel von 7 Prozent im Jahr 2007 auf 2,8 Prozent im Jahr 2009 und fiel dann, nach einem leichten Anstieg, auf 1,4 Prozent im Jahr 2013. Aber die Frustration fand keinen Ausdruck in einer massenhaften Arbeiterrevolte, sondern gab dem rechten Flügel und den Faschisten eine Chance zu wachsen. Dies geschah jedoch nicht automatisch. Der Schlüssel war die Schwäche der Linken, was dazu führte, dass die Hauptgegner der neoliberalen Regierung von rechts kam, in Form der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS)…“

„Polen: Was steckt hinter dem Erfolg der PiS?“ von Paul Smith am 22. November 2019 im Sozialismus.info zu einigen sozialpolitischen Entwicklungen, die vielleicht nicht in jedes Weltbild passen: „… Abgesehen von den autoritären und reaktionären Maßnahmen hat die PiS viele ihrer Wahlversprechen eingehalten. Sie hat umgehend eine neue Sozialleistung für Kinder eingeführt, die die Lebensstandards vieler armer Familien verbessert hat. Und sie hat das Renteneintrittsalter wie zuvor zugesagt gesenkt. Auch wurden die Bestimmungen für Ladenöffnungszeiten an Sonntagen verschärft, was den Beschäftigten in den Geschäften zugutekam. Viele ärmere Menschen, die Arbeiterklasse und die gesellschaftlich Ausgeschlossenen haben das Gefühl, dass es endlich eine Partei gibt, die für ihre Interessen eintritt. Für die politische Linke ist dies eine schallende Ohrfeige und zeigt, wie dringend nötig es ist, eine Arbeiterpartei zu gründen. Und dennoch sind bereits einige Teile der Arbeiterklasse (z.B. die Lehrkräfte, Beschäftigte im Gesundheitsbereich und Mitarbeiter*innen der staatlichen Fluggesellschaft) in die Schusslinie der PiS geraten und haben die feindselige Seite dieser Regierung kennengelernt. Trotz gestiegener Sozialausgaben haben die am Markt orientierten Baufinanzierungshilfen der Regierung nicht dazu geführt, dass die Wohnungskrise beendet worden wäre. Das Gesundheitssystem des Landes befindet sich in einem miserablem Zustand…

Mehrere Tausend demonstrierten heute in Rzeszów in Solidarität mit zwei Krankenpflegerinnen, die für Gewerkschaftstätigkeit gefeuert worden waren. Neben der Wiedereinstellung forderten die Demonstrierenden generell bessere Arbeitsbedingungen für Pfleger*innen“ am 18. Januar 2020 im Twitter-Kanal von Kapturak macht deutlich, dass die oben angesprochene Entwicklung im Gesundheitswesen Widerstand erzeugt

„Polen: Jeder gegen jeden statt Wohlstand für alle“ von Ulrich Krökel am 31. Detember 2019 in der FR online zur bedeutenden wirtschaftlichen Entwicklung Polens – und ihren unterschiedlichen Auswirkungen: „… Und Erfolg hatten viele. Vor allem in den Städten entstand jene wohlhabende Mittelschicht, deren Autos heute die Parkplätze in Targówek füllen. Aber es gab auch viele Verlierer in dieser Welt des entfesselten Wettbewerbs. Als Polen 2004 der EU beitrat, wurde das Wort „Müllvertrag“ bald zum Synonym der neuen Zeit. Gemeint waren befristete Verträge für Berufseinsteiger, die das Papier nicht wert waren, auf dem sie standen. Wenig Geld, keine soziale Absicherung. Wer jung war, gut ausgebildet und sprachgewandt, der ging. Mehr als zwei Millionen Menschen suchten ihr Glück in anderen EU-Staaten. Zurück blieben die Erschöpften. Die Regierung heizte den Kampf trotzdem weiter an. Jeder gegen jeden statt Wohlstand für alle. Der rechtsliberale Premier Donald Tusk führte 2012 mit einem Federstrich die Rente mit 67 ein. Doch bald darauf lief das Fass über. 2015 siegte die PiS mit dem Versprechen, sich um die Verlierer zu kümmern. „Und zur Überraschung vieler hat die Partei Wort gehalten“, sagt Owczarek. Die PiS führte erstmals in Polen ein Kindergeld ein, nahm die Rente mit 67 zurück und erhöhte den Mindestlohn. Owczarek legt Wert auf die Feststellung, dass die Sozialpolitik der PiS nicht von den Angriffen auf die Gewaltenteilung zu trennen ist. Der junge Wissenschaftler prophezeit aber auch: „Ein Zurück ist nicht mehr möglich.“ Alle künftigen Regierungen müssten sich an dem „neuen, erfolgreichen sozialpolitischen Paradigma orientieren, oder sie werden bei Wahlen chancenlos sein“. Verwandelt sich Polen nun also doch noch in jenen Wohlfahrtsstaat, den die Menschen seit 30 Jahren herbeisehnen?...“

„Deutsch-polnische Beziehungen im Zeichen der Wirtschaftsbeziehungen“ von Luks Plewnia am 24. Februar 2020 bei Polen Heute (indirekt) zur BRD-Kritik an der polnischen Rechtsregierung in der Realität: „… Daher wird kaum jemanden überraschen, dass die Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern so stark wie nie sind. So gingen 2018 fast 30 Prozent der polnischen Exporte nach Deutschland. Für die Bundesrepublik hingegen ist Polen der sechstgrößte Außenhandelspartner. Es kann auch auf die europäische Verflechtung sowie die räumliche und infrastrukturelle Nähe zwischen Deutschland und Polen zurückgeführt werden, dass Exporte aus Deutschland nach Polen von eminenter Bedeutung für das wirtschaftliche Wachstum in Polen sind. Zur Folge hat, dass eine Stossrichtung: Industrie 4.0. In diesem Rahmen ist es notwendig, dass zum Beispiel Sensorik-Komponenten deutsche Standards erfüllen, denn sie sind der Ursprung und Grundstein von Daten im Bereich der Digitalisierung. Ein wichtiges Unternehmen für in diesem Industriesegment ist RS Components mit seiner Präsenz in Polen. Obgleich der beeindruckenden wirtschaftlichen Entwicklung und der Richtung Industrie 4.0, bleibt eine umfassende Digitalisierung in Polen noch ein Wunschtraum. So schreibt Germany Trade & Invest davon, dass Polen beim Index für digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI) aus dem Jahr 2018, der von der Europäischen Kommission erstellt wird, auf einem der letzten Plätze ist. In der Lebensrealität zwischen Deutschland und Polen fühlt sich das jedoch anders an. In Polen hat man noch im hintersten Dorf 4G und in grösseren Städten kann man flächendeckend schnelle über Mobilfunk surfen. Die Steuererklärung kann auch von Zuhause aus über das Internet erledigen und viele polnische Städte haben kostenlose Hotspots bereitgestellt. Gibt es einen Polexit und werden Deutschland und Polen auseinander driften? Das erscheint gleichwohl der negativen Presse zu den kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen unwahrscheinlich. Auch die rechtskonservative PiS möchte Polen weiter auf Wachstumskurs sehen und das geht nur mit der EU und mit Deutschland…“

Quelle: labournet.de… vom 9. März 2020

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