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Coronavirus und Klassenkonflikt

Eingereicht on 27. März 2020 – 11:24

José Luis Carretero. Die Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie, die in Spanien zur Ausrufung des Notstands geführt hat, dem stärksten Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte seit dem Sturz Francos, zeigt in ihrer eklatantesten Brutalität die wichtigsten sozialen Widersprüche des Kapitalismus in seinem Verfallsstadium. 

Mit der Covis-19 Epidemie treten die grossen sozialen Widersprüche des Kapitalismus deutlich zutage. Beispielsweise erweist sich nun die absolute Aktualität des Konzepts des Klassenkonfliktes. Ein Kampf, verstanden als Konflikt, Konfrontation und wiederkehrende Zwänge und Spannungen, der sich direkt und brutal in den Betrieben ausdrückt, wenn es darum geht, grundlegende Präventivmassnahmen für die prekärsten, am wenigsten organisierten oder sogar strategischsten Schichten der Lohnabhängigen angesichts der Epidemie durchzusetzen.

Über die vergangenen Wochen wurde deutlich, wie in unseren «demokratischen» und «verantwortungsbewussten Unternehmen», die sich rühmen, immer «um die Governance und die sozialen Kriterien der Agenda 2030 besorgt zu sein», die Bosse befehlen und sich vor dem Virus schützen, und die Lohnabhängigen sehen, dass ihre Gesundheit nur einfache makroökonomische Daten sind, die neben den monetären Kosten für Gele, Genehmigungen oder Stundenkürzungen zu bewerten sind. Es gibt mehrere Beispiele, die dies veranschaulichen.

In den großen Unternehmen des Telemarketingsektors wie Konecta, GSS Covisian und anderen, wo Hunderte von Menschen in riesigen überfüllten Lagerhäusern arbeiten, die je nach Schicht alle möglichen Materialien (Kopfhörer, Computertastaturen, Mikrofone…) gemeinsam nutzen, ist der Kampf darum, dass es Desinfektionsgele gibt, dass die Arbeitsmittel nur für den individuellen Gebrauch bestimmt sind oder dass die Toiletten der Lohnabhängigen einfach regelmäßig gereinigt werden. Dieser Konflikt findet andauernd statt und ist durch wiederholte Höhen und Tiefen gekennzeichnet, die sich aus den widersprüchlichen Signalen ableiten lassen. Solche Signale wurden durch die den öffentlichen Behörden an die Branchen gesandt, und dies erst angesichts wiederholter Fälle von positivem Coronavirus in den Betrieben, die von den Unternehmen mit der Isolierung der Lohnabhängigen und der Reinigung der an die Arbeitsplätze der Infizierten angrenzenden Stellen und erst sehr spät mit der Einführung von Telearbeit angegangen wurden.

Im öffentlichen Verkehrswesen war die Umsetzung von Maßnahmen zur Krankheitsprävention zum Schutz der Gesundheit von Arbeitenden und Nutzern durch den Druck der kämpferischsten Gewerkschaftskräfte gekennzeichnet. Die Madrider U-Bahn war erst nach der Drohung der Gewerkschaftssektion der Solidaridad Obrera  mit einem unbefristeten 24-Stunden-Streik gezwungen, die Gesundheitsempfehlungen der Gemeinde Madrid selbst. In der U-Bahn von Barcelona stimmte die Unternehmensleitung erst nach der Genehmigung eines Dekrets durch die entsprechende Abteilung der Regionalregierung zu, mit dem Betriebsrat über die Umsetzung der von den medizinischen Berufsverbänden geforderten Maßnahmen zu verhandeln.

Im Eisenbahnverkehr verkehren noch immer viele Züge ohne fließendes Wasser oder Desinfektionsgel, während die Gewerkschaftssektionen in den Betrieben die mangelnde Sauberkeit der Klimaanlagenfilter in den Waggons und die Umsetzung eines Präventionsprotokolls anprangern, das keine klaren Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Arbeitenden und Benutzer festschreibt; dieses befasst sich fast ausschließlich mit der Frage, was zu tun ist, wenn eine Person während ihres Aufenthaltes im Zug identifiziert wird, die an Covid-19 erkrankt ist.

In der öffentlichen Verwaltung herrscht weiterhin ein absolutes Chaos, das mittlerweile zur Schliessung der meisten Arbeitsplätze führt. Im Bildungsbereich übergibt die Gemeinde von Madrid durch eine widersprüchliche, von Unklarheiten geprägte Verordnung die «heiße Kartoffel» an die Bildungsinstitutionen und ordnet an, dass das Lehrpersonal, das Verwaltungspersonal und die Reinigungskräfte «in der gewohnten Weise» an ihre Arbeitsplätzen gehen sollen; währenddessen wird die «Telearbeit gefördert» und sie empfehlen Lohnabhängigen der Risikogruppen, «ihre Häuser nicht zu verlassen», ohne dies aber anzuordnen.

Ein unverständliches Amalgam, das erst dann explodiert, wenn die Erklärung des Notstandes deutlich macht, dass es absolut unnötig ist, sich in die Bildungseinrichtungen zu begeben. Ähnliche Situationen treten im Bereich der Hilfe für Menschen mit Behinderungen auf, in denen die Lohnabhängigen angewiesen werden, die Regeln der Prävention gegen das Coronavirus zu befolgen, aber es gibt keine Initiative in dem Sinne, dass diese Regeln von den Besuchern befolgt werden, die völlig ungeschützt in den Tagesstätten auftauchen.

Im Reinigungsgewerbe, im Handel, überall kommt es zu Entlassungen, zu Einschränkungen bei der Nutzung der verschiedenen bezahlten Urlaubstage, die gemäss Vereinbarungen zugesichert sind, und kaum Möglichkeiten, die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie im Rahmen der Aussetzung des Schulunterrichtes zu erreichen. Die Unternehmensführungen der großen Unternehmen und der Service public bewegen sich in einem Strudel aus kleinlichem Druck, verschleierten Drohungen und Verletzungen des bestehenden Arbeitsrechts geraten.

[…]

Gibt es einen Klassenkampf?

Diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten behauptet haben, dass der Begriff «Klassenkampf» «nicht mehr zeitgemäss» sei, dass er «die Realität nicht mehr erklärt» oder dass «er eine unwissenschaftliche Erfindung der marxistischen Theologie ist», sollten sich nach anderen Dingen umsehen, über die sie reden können; für sie gibt es weiterhin fette Sinekuren im akademischen und medialen Milieu.

Der Klassenkampf hat sich in dieser Gesundheitskrise in seiner ganzen und unmittelbaren Brutalität gezeigt, an den Arbeitsplätzen, wie oben ausgeführt, aber auch indirekt: in den brutalen Auswirkungen, die die neoliberale Plünderung der Grundpfeiler des Wohlfahrtsstaates (des indirekten Lohns der Arbeiterklasse) über die vergangenen Jahrzehnte hervorgebracht hat.

Ein heruntergekommenes Gesundheitssystem, mit einem Mangel an Mitteln, knappem Personal und unter dem permanenten Stress der Temporärarbeit, ständig unter Druck gesetzt durch offene oder versteckte Privatisierungsprozesse (durch «Public-Private-Partnership»-Systeme). Ein System von Sozialdiensten, die nicht in der Lage sind, zu reagieren und sich um die alten Menschen zu kümmern, die in dieser Krise im Stich gelassen werden, um Menschen in einer Situation der Marginalität und Verletzlichkeit (angefangen bei den so genannten Working Poor, die in vielen Fällen ihre Arbeit verloren haben, bis hin zu den Obdachlosen). Ein System der sozialen Sicherheit und der Arbeitslosigkeit, das nicht bereit zu sein scheint, seinen Schutzmantel auf alle Arbeiterinnen und Arbeiter auszudehnen, die nun ihr Entlassungsschreiben erhalten werden, durch ein solidarisches Grundeinkommen, das die gesamte Bevölkerung in dieser Notsituation ausreichend abdecken würde.

Klassenkampf? Juan Roig behauptet, dass Mercadona [Mercadona S.A. ist die größte Supermarktkette in Spanien, der Hauptsitz befindet sich in Valencia. Juan Roig ist deren Chef. Anm. d. Ü] in dieser ganzen Krise nicht geschlossen wird. Wir sind ihm dankbar, aber noch mehr sind wir den Tausenden von Kassierern, Händlern und Reinigungskräften dankbar, die dies ermöglichen werden. Mercadona, immer großmütig, bietet ihnen in diesen Tagen der sozialen Isolation eine Lohnerhöhung um 20% an. Nicht, dass dies schlecht wäre, aber wenn es keinen Klassenkampf gäbe, müssten diese Arbeiterinnen und Arbeiter als Bezahlung für ihre riskante Arbeit den gesamten Nutzen, den das Unternehmen in diesen Wochen erhält, erhalten.

Gibt es eine andere Erklärung für die Tatsache, dass alle politischen Führer sowohl aktiv als auch passiv wiederholt haben, dass all dies «für die schwächsten Menschen» getan wird, da junge Menschen, so scheint es, nicht dieser Gefahr ausgesetzt sind, und dennoch keine spezifische Arbeitserlaubnis für Diabetiker, Immunschwache, chronisch Kranke, Hypertoniker oder Krebspatienten eingeführt wurde? Sind sie zu zahlreich, als dass jemand dazu verpflichtet werden könnte, ihren Lohn während er Krise weiterzuzahlen? Können sie als Rechtfertigung für die Einschränkung der individuellen Rechte herangezogen werden? Wenn nicht, was genau ist dann der Klassenkonflikt?

Viel wird von der Fähigkeit der Chinesen geredet, mit der Krankheit umzugehen. Dabei wird vor allem die Zentralisierung und der Autoritarismus des chinesischen Modells betont, oft aus der unverhüllten Sympathie mit dem «echten» osteuropäischen Sozialismus. Über das wirklich differenzierende Element des «chinesischen Modells» gegen das Virus wird fleissig beschwiegen. Dies ist nicht der Autoritarismus oder die Zentralisierung, die von unseren geliebten Steuermännern des 78er Regimes leicht imitiert werden können, wie wir nun sehen, sondern die von den ideologischen Überbleibseln des Maoismus in der KPCh getragene effektive Möglichkeit, das Kapital zu disziplinieren, das Geld zu verpflichten, das Notwendige zu tun, damit die Unternehmen für das Gemeinwohl arbeiten. Die Spur des Kommunismus, die in China noch immer vorhanden ist, ist, wenn auch in begrenztem Maße, der völligen Abwesenheit des Kommunismus vorzuziehen. Es geht nicht um die Rückkehr des autoritären Väterchens, sondern darum, in gemeinsamer Disziplin dem Kapital den Todesstoss zu versetzen.

Es wird auch gesagt, dass dies in der ländlichen Utopie der Tiefenökologie nicht geschehen wäre. Tausende von Jahren wiederholter Plagen wie der Schwarze Tod oder die Spanische Grippe zeigen, dass all dies ein bukolischer Traum ist. Langsamer, aber tödlicher, weil es an Mitteln und Wissen fehlte, wäre alles gleichfalls geschehen. Die Natur, liebe reaktionäre Ökologen ist stärker, sie vermehrt sich, mutiert, tötet und überlebt, ohne uns zu berücksichtigen. Wir brauchen Vernunft und Technologie, um eine lebensfähige Gesellschaft aufzubauen, aber auch, um uns diesen Angriffen des Lebens zu stellen, die gerade aus den wiederkehrenden Angriffen einer natürlichen Welt bestehen, die nicht zirkulär, sondern wuchernd, sich entwickelnd und unvorhersehbar ist.

Die Technologie… Aber welche Technologie? In wessen Händen liegt die Technologie? Kontrolltechnologie in den Händen einiger weniger oder Gesundheitstechnologie in den Händen des Normalbürgers? Vielleicht hat die Sache mit dem Klassenkampf etwas mit all dem zu tun, oder? Denn das ist nach wie vor das Grundproblem: heruntergewirtschaftete öffentliche Gesundheitssysteme, Arbeiter und Arbeiterinnen ohne Schutzmassnahmen, gefährdete Bevölkerungsgruppen, die ihrem Schicksal überlassen werden. Und eine brutale, blutige, ständige Anspannung jedes Mal, wenn die Arbeiterklasse die Gesetze durchsetzen will, die uns alle schützen, aber das Kapital disziplinieren wollen.

Morgen wird alles wieder zu jener zunehmend entwürdigten, chaotischen und krisengeschüttelten «Normalität» zurückkehren, nach der wir uns jetzt sehnen, obwohl viele Menschen auf dem Weg dorthin leiden werden. Aber dann müssen wir uns an das erinnern, was jetzt geschieht, und nicht die Schmerzen und Kämpfe vergessen, die wir zur Verteidigung unserer Gesundheit auf uns nehmen mussten, und dann müssen wir entsprechend handeln.

Quelle: elsaltodiario.com… vom 26. März 2020; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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