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Irak und Libanon: Revolten in der Coronakrise

Eingereicht on 26. Mai 2020 – 9:00

David Reisinger. Vor der Coronakrise erschütterte eine Aufstandsbewegung einige Länder von Nordafrika bis in den Mittleren Osten. Im Irak, Libanon, Algerien und dem Sudan mussten die Machthaber zurücktreten. Die Proteste richteten sich gegen das politische System als Ganzes. Die Coronakrise radikalisierte den Ruf nach Veränderung. Im Libanon und dem Irak sind wieder Zehntausende auf den Straßen.

Als sich das Coronavirus im Libanon und dem Irak ausbreitete, standen die Aktivist_innen der Aufstandsbewegung vor einer schwierigen Frage: Sollten sie sich in die von den Regimes gewünschte soziale Isolation begeben, um eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern, oder sollten die Plätze weiter besetzt bleiben, um das Regime zu stürzen. Im Iran hatte sich der Virus schon einige Wochen früher ausgebreitet und kostete tausenden Menschen das Leben. In Ländern, in denen ein öffentliches Gesundheitssystem kaum existiert und zehntausende Menschen auf engsten Raum in Elendssiedlungen und Flüchtlingslagern leben, ist es unmöglich, die Ausbreitung der Epidemie zu ignorieren.

Am 10. Mai demonstrierten Hunderte auf dem Tahrir Platz in Baghdad gegen die neue Regierung des Irak.

Eine Aktivistin der Gruppe Arbeiter gegen Sektierertum, die sich gegen die Spaltung der irakischen Gesellschaft in unterschiedliche religiöse Konfessionen und Stammeszugehörigkeiten stellt, beschreibt, dass sich die Besetzer_innen des Tahrir-Platzes in Bagdad dazu entschieden, dass der Großteil von ihnen nach Haus geht, einige wenige sollten zurückbleiben und die Zelte bewachen. Gleichzeitig wurde versucht, Nachbarschaftshilfen, bspw. Großküchen, die Essen an Bedürftige verteilen, zu organisieren. Für die prekärsten Teile der Arbeiter_innenklasse war die Einhaltung der Ausgangssperren unmöglich. Sie erhalten keine Arbeitslosenunterstützungen, haben keine finanziellen Rücklagen, müssen also arbeiten, um zu überleben.

Die Sicherheitskräfte des Regimes verhafteten Hunderte, sperrten sie in Gefängnisse oder verteilten hohe Geldstrafen, die niemand zahlen konnte. Gleichzeitig wurden sowohl im Irak als auch im Libanon die Protestcamps attackiert und geräumt. Das Lügenmärchen, dies geschehe zum Schutze der Bevölkerung, glaubte niemand.

Alle müssen weg

Die neuen Machthaber (im Irak Mustafa al-Kadhimi und im Libanon Hassan B. Diab) gehören zur alten Herrscher-Clique. Diab war schon unter seinem Vorgänger Minister und Kadhimi war Chef des irakischen Geheimdienstes. Er trägt die Hauptverantwortung für mindestens 550 getötete Demonstrant_innen seit Beginn der Proteste. Beide machten Zugeständnisse an die Aufstandsbewegungen. Sie zahlten etwa Pensionen und Gehälter für Staatsbedienstete, oder Entschädigungen für Familien, deren Angehörige auf Demonstrationen getötet wurden und enthafteten politische Aktivist_innen.

Wirtschaftliches Chaos

90% der Gesamteinnahmen des Iraks stammen aus dem Verkauf von Erdöl. Zur Deckung seiner Ausgaben benötigt der Irak Erdölpreise von 85$ pro Barrel. Aktuell schwankt der Erdölpreis um 30$. Vor Ausbruch der Coronakrise lebte ein Drittel der Libanesen unterhalb der Armutsgrenze, mittlerweile die Hälfte. Die letzte Hoffnung der Regierung sind Finanzhilfen vom IWF, diese werden aber nur im Zuge massiver Kürzungen der öffentlichen Ausgaben gewährt.

Revolte

Am 26. April wurde der 26-jährige Libanese Fawaz Fouad al-Samman in Tripoli von Sicherheitskräften ermordet. Zehntausende versammelten sich im ganzen Land zum Gedenken an den „Märtyrer des Hungers“. In der Hauptstadt Beirut wurden mindestens 12 Bankgebäude angezündet. In den ländlichen Regionen kam es zu Stürmungen von Lebensmittelgeschäften, Soldaten weigerten sich einzugreifen. Im Irak wurde Anfang Mai ein Demonstrant erschossen. Wiederum wurde das Regierungsviertel belagert und die Hafenarbeiter_innen in Umm Qasr – sie waren durch ihre Blockade des Öltransportes entscheidend am Rücktritt des letzten Ministerpräsidenten beteiligt – traten erneut in den Streik. Im Irak und dem Libanon scheitert die Regierungsstrategie, im Schatten der Corona-Pandemie die eigene Herrschaft zu stabilisieren.

Die Protestbewegungen zeigen, wie es durch Solidarität von Unten möglich ist, die Pandemie zu bekämpfen und gleichzeitig die korrupten Eliten rücksichtslos zu attackieren. Wir können viel von ihnen lernen!

Quelle: linkswende.org… vom 26. Mai 2020

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