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Ein Brief aus Kiew an die russische Bevölkerung

Eingereicht on 3. März 2022 – 11:17

Es ist nicht leicht, damit umzugehen, dass nicht alle Russ:innen, den invasorischen Angriff des Regimes um Putin auf die Ukraine verurteilen. Insbesondere für Ukrainer:innen, denen so offenkundig wie niemand anderem ersichtlich ist, wie weit die offizielle russische Berichterstattung und Rechtfertigung von den tatsächlichen Realitäten abweicht. Taras Bilous ist ein ukrainischsprachiger Ostukrainer und versucht in einem offenen Brief auf die Gegenanschuldigungen einiger putintreuen Russin:innen einzugehen, die als Abwehrreflex entstehen, wenn man von ihnen eine Distanzierung vom Krieg in der Ukraine einfordert. Taras Bilous offener Brief ist ein wichtiger Beitrag zum Whataboutism, der so viele Diskurse im Konfliktfeld Russland-Ukraine prägt. (Redaktion sozialismus.ch)

Jetzt mit Russ:innen zu streiten, die das Vorgehen ihrer Armee in der Ukraine nicht verurteilen, ist die Aufgabe von Kriegsgegner:innen in Russland, nicht von Ukrainer:innen. Aber ich werde versuchen, ihnen ein wenig zu helfen, vielleicht macht das ja einen Unterschied.

Erstens, für diejenigen, die fragen: „Warum habt ihr acht Jahre lang geschwiegen, als der Donbass bombardiert wurde?“ – Ich war nicht still. Hier ist zum Beispiel mein Artikel über den ukrainischen Luftangriff auf den Bezirk Lugansk (dies ist für mich persönlich wichtig, da ich aus Lugansk komme). Ich habe auch über andere Fälle von zivilen Opfern in den Jahren 2014-2015 geschrieben (mehr dazu weiter unten). Ich habe mich auch gegen die Wirtschaftsblockade des Donbass ausgesprochen und an einer antifaschistischen Kundgebung im Zentrum von Kiew mit einem Transparent mit der Aufschrift „Auflösung des Asow-Regiments“ teilgenommen. Und ich habe mich generell für eine friedliche Beilegung des Konflikts im Donbass eingesetzt.

Aber die Dinge sind jetzt anders. Die derzeitige Invasion der russischen Armee ist eine imperialistische Aggression, die mit einer Niederlage enden muss, da uns sonst eine „neue Normalität“ bevorsteht, in der militärische Interventionen alltäglich werden. Als Russland begann, ukrainische Städte zu bombardieren, beschloss ich, mich für die Landesverteidigung zu melden. Leider hat es bei mir nicht geklappt, weil es in Kiew nicht genug Waffen für alle gibt, die welche wollen.

Wenn ihr immer noch glaubt, dass die russische Armee hier nur gegen „Nazis“ kämpft, so ist das nicht der Fall. Ältere Männer, Hipster und Jugendliche aus den Vorstädten standen in langen Schlangen nach Waffen an. Seht euch an, wie die Einwohner des russischsprachigen Berdjansk im Südosten der Ukraine den Russ:innen gegenübertreten. Für uns ist dies ein Volksbefreiungskrieg.

Ich kann nicht verstehen, wie Russ:innen immer noch die Propaganda glauben können, dass in der Ukraine „Nazis“ an der Macht seien –  nachdem ein russischsprachiger Jude aus Krivoi Rog mit einem Friedensprogramm für den Donbass Präsident wurde. Ja, eine friedliche Konfliktlösung kam nicht zustande, aber das lag auch an Putins mangelnder Bereitschaft, Zugeständnisse zu machen. Dennoch ist die Zahl der Waffenstillstandsverletzungen in einem beispiellosen Ausmass zurückgegangen, und die Zahl der zivilen Opfer hat sich deutlich verringert. Doch nun leben die Bewohner:innen des Donbass aufgrund der russischen Invasion wieder unter Beschuss, und die Stadt Schtschastje wurde von der russischen Armee dem Erdboden gleichgemacht.

Zu den Opfern unter der Zivilbevölkerung im Donbass

Diejenigen, die jetzt sagen: „Warum habt ihr acht Jahre lang geschwiegen?“, sollten auch verstehen, dass ein erheblicher Teil der zivilen Opfer im Donbass auf den Beschuss durch die „Volksrepubliken“ und die russische Armee zurückzuführen ist. Wenn ihr mir nicht glaubt, könnt ihr den Bericht der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ lesen. Ich empfehle euch insbesondere die Lektüre des Abschnitts „Zerstörung der Dörfer Nowoswetlowka und Chrjaschewatoje im Bezirk Lugansk“. Dort liegt die Verantwortung für die absolute Mehrheit der Zerstörungen und Todesopfer bei den Milizen und der russischen Armee, die versuchten, die Einheiten der ukrainischen Armee aus diesen Dörfern zu vertreiben. Eine ähnliche Situation gab es in Debalzewo, und auch in MariupolWolnowacha und anderen Orten starben Bewohner:innen des Donbass durch den Beschuss der Volksrepubliken.

Und natürlich wurden die meisten zivilen Todesopfer im Jahr 2014 von der russischen Armee verursacht, durch die Katastrophe des Abschusses der Boeing 777 im Bezirk Donezk. Wenn irgendjemand immer noch der russischen Propaganda glaubt, dass sie es nicht waren, die das Flugzeug abgeschossen haben, dann weiss ich nicht, wie man mit diesen Leuten überhaupt noch diskutieren soll. Aber was ich hier sagen will, ist etwas anderes. In Staniza Luganskaja, auf ukrainisch kontrolliertem Territorium, konnten die Menschen in all den Jahren ihren Dorfbewohner:innen, die durch einen Luftangriff ukrainischer Flugzeuge ums Leben gekommen waren, nach Belieben gedenken. Ohne das Militär und die Nationalhymne.

Gleichzeitig war dies in den Volksrepubliken an der Absturzstelle der Boeing, in Nowoswetlowka, Chrjaschewatoje und anderen Orten, an denen Zivilist:innen von der Miliz und der russischen Armee getötet wurden, nicht der Fall. All die Jahre hat die militaristische Führung der Volksrepubliken weiterhin gelogen, dass sie nicht diejenigen gewesen wären, die die Boeing abgeschossen haben. Sie haben die Menschen, die durch ihre eigenen Handlungen getötet wurden, benutzt, um den Hass gegen die Ukraine weiter zu schüren. Bei jeder Veranstaltung zum Gedenken an diese Opfer logen sie und sprachen von einem Völkermord, obwohl sie diese Menschen selbst getötet hatten.

Zu den zivilen Opfern nach dem Ende der heissen Phase des Krieges

Wie aus dem nachfolgenden Diagramm hervorgeht, wurde die überwiegende Mehrheit der zivilen Opfer im Donbass in den Jahren 2014-2015 getötet oder verletzt, und danach ging die Zahl der Opfer allmählich zurück. Es gibt jedoch eine wichtige Tatsache, über die in der Ukraine all die Jahre nicht gerne gesprochen wurde: Die meisten zivilen Opfer des Beschusses seit 2016 sind in den Volksrepubliken zu beklagen, das heisst, als eine Folge des Beschusses durch die ukrainische Armee.

Zahl der zivilen Todesopfer im Donbass nach Angaben des Büros des UN-Hochkommissars für Menschenrechte

Letzten Herbst habe ich an einem Artikel gearbeitet, in dem ich versucht habe, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum dies der Fall ist. Leider konnte ich die Arbeit aufgrund von Depressionen nicht beenden, aber hier seht ihr eine Tabelle, in der ich versucht habe, alle Informationen über zivile Opfer aus UN- und OSZE-Berichten zu systematisieren. Ich habe einiges zu diesem Thema zu sagen.

Es gibt eine offensichtliche Erklärung für diese Tendenz, die jedem einfällt, der sich die Karte der Demarkationslinie im Donbass ansieht. Diese hat sich seit Februar 2015 kaum geändert, aber es ist so, dass es auf der Seite der Volksrepubliken grosse Städte wie Gorlovka und Donezk in der Nähe der Frontlinie gibt, während es auf der ukrainischen Seite keine gibt. Mariupol ist deutlich weiter von der Frontlinie entfernt als Donezk. Und im Allgemeinen ist die Bevölkerungsdichte im Frontgebiet auf der Seite der Volksrepubliken höher, so dass die Wahrscheinlichkeit, dort Zivilist:innen zu treffen, grösser ist.

Dies ist jedoch keine erschöpfende Erklärung. Das Verhältnis der Opferzahlen auf beiden Seiten war unterschiedlich, was eine Erklärung erforderte. Und hier möchte ich aus einem Bericht des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte zitieren (OHCHR, Seite 7):

„Wie im vorangegangenen Berichtszeitraum verzeichnete das OHCHR Beispiele, in denen der Rückzug der ukrainischen Streitkräfte aus ihren Positionen in bestimmten Wohngebieten zu einem Rückgang der Intensität des Beschusses in diesem Gebiet führte, wie etwa in Wosroschdenija und Newelskoje. Das OHCHR begrüsst solche Schritte der ukrainischen Regierung, da sie beweisen, dass der Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten möglich ist. Sie tragen zu einer Annäherung an die Standards des humanitären Völkerrechts bei.“

Ich habe in den UN-Berichten keine derartigen „Komplimente“ an die Volksrepubliken gefunden. Ich bin mir nicht sicher, ob dies eine umfassende Erklärung für den Unterschied in der Zahl der Opfer auf beiden Seiten der Demarkationslinie ist. Aber sie erklären einen grossen Teil dieser Schieflage.

Als letzten Punkt möchte ich meinen Brief an die westliche Linke zitieren:

„Putin kann alles planen, aber selbst wenn Russland Kiew einnimmt und seine Besatzungsregierung einsetzt, werden wir Widerstand leisten. Der Kampf wird weitergehen, bis Russland sich aus der Ukraine zurückzieht und für alle Opfer und Zerstörungen aufkommt.

Meine letzten Worte richten sich daher an die russische Bevölkerung: Beeilt euch und stürzt das Putin-Regime. Es ist sowohl in eurem als auch in unserem Interesse.“

Quelle: sozialismus.ch… vom 3. März 2022

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