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Belarus: Schritte in eine ungewisse Zukunft

Eingereicht on 27. November 2020 – 11:06

Ara Holmes, Kim Garcia. Seit der offensichtlich gefälschten Wiederwahl des belarussischen Präsidenten Lukashenko im August kommt es in dem Land zu der größten Protestwelle seiner Geschichte. Wie bereits zuvor im Lower Class Magazine berichtet, beteiligen sich hunderttausende Menschen an den Demonstrationen und Nachbarschaftsversammlungen. Doch was fordern die Menschen auf der Straße? In welchem Zusammenhang stehen die Proteste zu der tiefen ökonomischen Krise, in der Belarus seit Jahren steckt? Und welche Rolle spielen die politischen Interessen Russlands und des europäischen Auslands?

Um diese Fragen zu beantworten, hilft ein Blick in die jüngere Geschichte des osteuropäischen Staates. Der Kollaps der Sowjetunion im Jahr 1991 bewirkte, dass ein Großteil der Ex-Sowjetstaaten in eine tiefe politische und ökonomische Krise rutschte. Infolgedessen wurde ein Großteil der ehemals staatlichen Unternehmen an mafiöse oligarchische Strukturen verscherbelt, was weite Teile der Proletarisierten ihrer Lebensgrundlagen beraubte und sie in bittere Armut stürzte.

Das Besondere am belarussischen Staat ist, dass er einen solchen tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Wandel verhindern konnte. Besonders im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten hat sich Belarus auf wirtschaftlicher und administrativer Ebene seit 1991 erstaunlich wenig verändert. Der seit 1994 amtierende Präsident des Landes Lukashenko regiert ohne nennenswerte Opposition, gestützt auf einen riesigen Bürokratieapparat und ein Netz der Privilegien. Dazu gehören die Polizeibehörden und der Geheimdienst (KGB), welche zahlreich, loyal und gut finanziert sind. Jeder Versuch einer organisierten Opposition – ob selbstorganisiert oder durch Wahlen – wird mit aller Härte unterdrückt.

Auch die belarussische Wirtschaft orientiert sich immer noch relativ stark am Muster der zentral geplanten sowjetischen Industrienationen. Anders als andere ehemalige Ostblockstaaten blieben im Laufe der 1990er Jahre weite Teile der Schlüsselindustrien von Privatisierungen verschont. So arbeiteten 2015 39,2% der Bevölkerung in staatlichen Betrieben, welche einen großen Teil der belarussischen Exportgüter erzeugen. Zwar entstand in den letzten Jahren besonders im Raum Minsk ein florierender IT-Sektor, dieser stellt aber noch einen relativ kleinen Teil des belarussischen BIP dar. Ein Großteil der belarussischen Arbeiter*innenklasse ist Mitglied eines staatlichen Gewerkschaftsbündnis, welches als Relikt der Sowjetzeit relativ loyal zum Regime ist. Dies beginnt sich allerdings in den letzten Jahren unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise zu ändern.

Ein weiteres Erbe der sowjetischen Verhältnisse sind die (zumindest bis vor kurzem) guten Lebensbedingungen der belarussischen Bevölkerung: annähernde Vollbeschäftigung, ein relativ gut ausgebautes Bildungs- und Gesundheitssystem, staatlich fixierte Lebensmittel- und Wohnpreise, eine relativ geringe Armutsquote. Es wäre jedoch falsch, den relativen Erfolg der belarussischen Nationalökonomie im Vergleich zu anderen Ex-Sowjetstaaten den besonderen Fähigkeiten des Lukashenko-Regimes zuzuschreiben. Einer der Hauptgründe, weshalb Belarus dieses Modell aufrechterhalten konnte, ist die direkte und indirekte Unterstützung durch den russischen Staat, in Form von Krediten und billigen Öl- und Erdgasexporten. Bis vor wenigen Jahren bezahlten belarussische Unternehmen nur 50% der Weltmarktpreise für Rohölexporte. Diese werden in zum großen Teil staatseigenen Raffinerien weiterverarbeitet und stellen einen Hauptteil der belarussischen Exportbilanz dar.

Dieser Grundpfeiler der belarussischen Wirtschaft gerät jedoch zunehmend ins Wanken: In den letzten Jahren wurden die preislichen Privilegien für den Energiesektor zunehmend revidiert, bereits jetzt verlangen russische Energieunternehmen 80% der Weltmarktpreise, bis 2025 sollen es 100% sein. Einerseits versucht der russische Staat dadurch, Druck auf Belarus aufzubauen um diesen näher an die eigene wirtschaftliche Einflusszone anzubinden. Andererseits spiegelt die Preiserhöhungen die Krise des russischen Energiesektors infolge des globalen Verfalls der Ölpreise wider.

Insgesamt lässt sich also sagen, dass das ökonomische Paradigma des belarussischen Staates – staatlich gelenkte, personalintensive Industrieproduktion einerseits, Verarbeitung und Export von Öl und Gas andererseits – an seine Grenzen stößt. Im Zuge der globalen Verwertungskrise des Kapitals ist also auch das Minsker Regime gezwungen, eine zunehmend marktliberale Politik zu führen. So verabschiedete die Regierung 2017 ein Gesetz, welches Arbeitslosigkeit als „sozialen Parasitismus“ unter Strafe stellt. In den folgenden Jahren kam es infolge von Verhandlungen mit internationalen Kreditinstituten zur Rücknahme der staatlich fixierten Wohnpreise, wodurch seitdem vor allem in den Großstädten die Mieten stark gestiegen sind.

In dieser Situation trifft die Corona-Krise den belarussischen Staat besonders hart, da er es sich schlicht nicht leisten kann, seine schwächelnde Wirtschaft nennenswert durch Schutzmaßnahmen einzuschränken. Dazu kommen mangelnde Gelder für genügend Schnelltests und Schutzausrüstung. In dieser Situation entschied sich das belarussische Regime, den Umfang der Pandemie herunterzuspielen. Lukashenko sprach öffentlich davon, dass das Virus sich durch genügend Saunagänge und Vodka von selbst erledige, während Corona-Tote in den Staatsmedien als einfache Lungenentzündungen registriert wurden. Diese gezielten Desinformationen werden von der breiten Bevölkerung zunehmend als solche erkannt: „In diesem Staat basiert alles auf Lügen. Sie lügen über COVID, sie lügen über die Wahlen, sie lügen in der Schule und sie lügen über die Wirtschaft.“ erzählt uns Wera, 67, bei einer Nachbarschaftsversammlung. Gleichzeitig entwickeln sich verstärkt Netzwerke der gegenseitigen Hilfe, welche versuchen, eine flächendeckende Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten. Diese Netzwerke bilden eine Grundlage für die Nachbarschaftsversammlungen, welche bis heute das Rückgrat der Protestbewegung darstellen.

Dass es am Wahlabend zu ersten Demonstrationen kam, war also absehbar, neu war aber das Ausmaß. Die Proteste werden von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis getragen. „Für eine lange Zeit lebten wir unter diesem Staat nach dem Prinzip: je weniger du sagst, desto sicherer bist du. Aber das ist jetzt aufgebrochen, das hat unsere Realität verändert. Wir wissen jetzt, dass wir zwar alle unterschiedlich sind, aber trotzdem in eine ähnliche Richtung wollen. Wir hören einander zu“, erzählt Wera. Ob das so bleibt, wird sich zeigen. Im Moment sind verschiedene Klasseninteressen vereint, die sich aber bei der Frage einer neuen Gesellschaftsordnung zwangsläufig gegenüberstehen werden.

Die boomende IT-Branche, die vergangenes Jahr für die Hälfte des Wirtschaftswachstums verantwortlich war, würde, genau wie andere Unternehmer*innen von weiteren marktliberalen Reformen profitieren. Sich selbst als progressiv, westlich und anti-sowjetisch verstehend, drohen 300 führende IT-Unternehmen das Land zu verlassen, sollte es nicht zu Neuwahlen und einem Ende der Polizeigewalt kommen. Auch die althergebrachte bürgerlich-intellektuelle Opposition hat wohl ein Interesse an einer Liberalisierung der Märkte, sowie „freien“ Kulturbetrieben ohne ideologische Abteilungen und Zensur. Bei den vielen Jugendlichen und Studierenden ist naheliegend, dass sie im Anbetracht schlechter Zukunftsaussichten in einem Land mit 400 Euro Durchschnittseinkommen für bessere Perspektiven auf die Straße gehen. Dabei wäre es zu kurz gegriffen, diese Perspektiven rein ökonomisch zu betrachten: mit einer Liberalisierung des Landes verbinden viele auch politische und kulturelle Freiheiten, Nachtleben, Befreiung des Alltagslebens und alternative Lebensentwürfe – Dinge, die in der postsowjetisch geprägten belarussischen Gesellschaft oft als westlicher Lifestyle idolisiert werden.

Eine sehr wichtige Rolle spielen aber auch Fabrikarbeiter*innen und Angestellte des Dienstleistungssektors mit ihren Streiks. Die Proteste verbinden viele mit der Hoffnung auf ein Ende der belarussischen Wirtschaftskrise. Dieses breite Bündnis spiegelt sich auch in den Forderungen der Präsidentschaftskandidat*innen wieder. Sie sprechen kaum über ihr politisches Programm, sondern nur über faire Wahlen und ein Ende der Polizeigewalt.

Viktor Babariko, ehemaliger Chef der russischen Belgazprombank, wird wohl russische Kapitalinteressen vertreten und sich eher wenig für die Rechte von Arbeiter*innen interessieren. Nachdem ihm und anderen bedeutenden Präsidentschaftskandidat*innen die Zulassung entzogen wurde oder sie verhaftet wurden, blieb noch Svetlana Tikhanovskaya. Lukashenkos Chauvinismus verhinderte, dass er in ihr als Frau eine Bedrohung sah. Unterstützt von zwei Frauen anderer Wahlkampfstäbe vereinte sie verschiedene oppositionelle Fraktionen. Im Rahmen ihrer Wahlkampftour bot sie in verschiedenen Teilen des Landes Bühnen mit offenem Mikrofon, die Arbeiter*innen und kleinen Unternehmen eine Plattform boten, um sich über ihre Probleme auszutauschen. Diese Kundgebungen entwickelten sich zu den bis dahin größten des Landes in den letzten Jahrzehnten und schufen somit eine weitere Basis für die Aufstände.

Ihr gegenüber stehen einige ebenfalls sehr einflussreiche Blogger*innen, wie der aus dem polnischen Exil arbeitende Telegramkanal Nexta. Auch die anarchistische Bewegung des Landes hat es in den Protesten geschafft, an Einfluss und Popularität zu gewinnen (LCM berichtete). Die Diversität der Protestbewegung trägt mit sich, dass sie kaum durch eine gemeinsame langfristige politische Perspektive geeint wird: sie verbindet vor allem die Wut auf die bestehenden Verhältnisse und die harte Reaktion der Repressionsbehörden. So kommt es, dass das positive verbindende Element der Proteste vor allem Nationalismus ist. Aber die Idee einer unabhängigen belarussischen Nation, die selbstbestimmt über ihr Schicksal entscheidet, entbehrt jeder materiellen Grundlage. Die Wirtschaft des Landes ist strukturell abhängig von Krediten und Subventionen ausländischer Mächte und diese werden ihren Einfluss auf die Neugestaltung des Landes geltend machen. Die tiefgreifenden Veränderungen, die das Land im Falle einer Anpassung an den kapitalistischen Weltmarkt erwarten, werden notwendigerweise Gewinnerinnen und Verlierer erzeugen.

Es gibt dabei verschiedene Richtungen, in die sich die Situation nach dem Sturz Lukashenkos entwickeln kann. Für uns am Wahrscheinlichsten (und deswegen Gegenstand dieses Artikels) sind die Annäherung an den russischen Staat bzw. die EU.

Eine Annäherung an Russland kann auf mehrere Weisen erfolgen. Zum Einen gibt es die Möglichkeit einer militärischen Intervention, so wie 2014 bei der Annexion der Krim im Kontext der Maidan-Proteste. Aktuell ist dies zwar unwahrscheinlich, das könnte sich jedoch ändern sobald die Proteste weniger friedlich verlaufen und sich Russland infolgedessen als Ordnungsmacht präsentiert. Dies wäre für Russland vor allem von Interesse, da es sich schon seit Längerem die Option offen hält, Belarus in das russische Staatsgebiet zu integrieren. Sollten Politiker*innen mit einer pro-russischen Agenda an die Macht kommen, so würden sie sich vermutlich durch Handelsabkommen und Staatshilfen an Russland binden. Das könnte die Übernahme der belarussischen Wirtschaft durch russische Oligarchen beinhalten. Auf der anderen Seite dieses Spannungsverhältnisses steht die EU. Sie repräsentiert für viele Menschen ein gutes Leben in einer gut funktionierenden Wirtschaft sowie einen funktionierenden Rechtsstaat.

Tikhanovskaja, eine wichtige Oppositionsfigur, hat bereits angedeutet, dass sie im Kontakt mit der EU steht und dass nach einem Abdanken Lukashenkos Gelder von dieser Seite fließen würden. Diesen ersten Annäherungen würden wohl Verhandlungen über Handelsabkommen folgen. Sowohl EU-Gelder als auch Handelsabkommen gehen typischerweise mit dem Druck neoliberale Reformen umzusetzen einher, die die Souveränität und das soziale Gefüge von Belarus und seiner Bevölkerung untergraben. Wenn wir von neoliberalen Reformen sprechen, meinen wir die Umgestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft nach marktfundamentalistischen Prinzipien: der dogmatische Glaube an Privatisierung, Deregulierung, die forcierte Öffnung lokaler Märkte und Sparprogramme, welche meist hauptsächlich den sozialen Sektor treffen würden. Ein maßgebendes Instrument für neoliberale Reformen sind Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF). Diese sind normalerweise an sogenannte Strukturanpassungsprogramme geknüpft. Durch das de facto-Monopol des IWF für diese Art von Krediten besitzt diese Institution extrem viel Macht. Staaten, die auf Hilfsgelder angewiesen sind, haben meistens keinerlei Verhandlungsspielraum.

Ein gutes Beispiel, wie die neoliberale Umgestaltung ehemaliger Sowjetrepubliken in der Praxis aussehen kann, findet sich im Polen der 1980er und 90er Jahre. Dort schaffte es die Gewerkschaft Solidarność nach fast einem Jahrzehnt im Untergrund mit ihrem neu gegründeten Parteiflügel die Wahl zu gewinnen und die Regierung zu stellen. Nun stand Solidarność vor der Aufgabe, die ruinierte Wirtschaft zu reformieren. Dafür brauchte es dringend Gelder, um den Staatsapparat am Leben zu halten und nicht an den Staatsschulden bankrott zu gehen. Die Gewerkschaft schlug ein ökonomisches Programm vor, in dem Staatsbetriebe in selbstverwaltete Kooperativen umgewandelt werden sollten. Das war jedoch nicht kompatibel mit den Bedingungen, die der IWF für die Vergabe von Hilfsgeldern in Milliardenhöhe aufstellte. Das Abkommen sah die Abschaffung von Preiskontrollen, den Abbau von Subventionen, sowie den Verkauf der staatlichen Minen, Werften und Fabriken vor. Nach kurzer Zeit gab es im schwer verarmten Polen nun zwar wieder Brot in den Supermärkten zu kaufen. Dieses konnte sich jedoch kaum jemand leisten. Die Einkommensunterschiede stiegen rasant, 1994 ging die Arbeitslosenrate auf 16,4% hoch. Außerdem wurden 33% der Betriebe geschlossen. Laut Berechnungen eines polnischen Ökonomen hätte es 2016 1,5 Millionen weniger Arbeitslose gegeben, wenn die Reformierung der Wirtschaft nicht neoliberalen Grundsätzen gefolgt wäre.

Neoliberale Reformen würden für Belarus bedeuten, dass die staatseigenen Unternehmen, in denen 39,2% der Bevölkerung arbeiten, privatisiert und an ausländische Investor*innen verkauft werden. Das würde einen harten Schlag für den belarussischen Staatshaushalt bedeuten. Dadurch könnten internationale Kredite nicht mehr gedeckt werden, woraufhin der IWF nun von der Regierung verlangen könnte, die Wirtschaft durch Strukturanpassungsprogramme zu sanieren. Die Folgen wären absehbar: Abbau der universellen Gesundheitsversorgung und des Bildungswesens, Kürzung der Sozialhilfen, Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen, Streichung von Arbeitsschutzgesetzen. Die daraus resultierende Verarmung der Bevölkerung stellt für die EU eine Chance auf billige Arbeitskräfte dar, welche nur einen Steinwurf entfernt sind. Vom Beispiel Polens lässt sich auch ableiten, welche langfristigen Szenarien bei der neoliberalen Umwandlung der belarussischen Gesellschaft möglich sind. Die doppelte Enttäuschung – erst vom Staatssozialismus, dann von den Arbeitsrechtsreformen westlicher Demokratien – schafft einen Nährboden für das Erstarken faschistischer Bewegungen. Nicht nur der Aufschwung der polnischen rechtskonservativen PiS-Partei, sondern auch die Entwicklungen in Ungarn oder in der Ukraine verstärken das Bild einer (solchen) historischen Konstante.

In beiden oben beschriebenen Szenarien – Annäherung an die EU oder Russland – gehen wir also davon aus, dass sich die materiellen Lebensbedingungen der lohnabhängigen Klassen verschlechtern werden. Die unmittelbaren Verbesserungen, die mit einer Liberalisierung einhergehen können, wollen wir dabei nicht unter den Teppich kehren: aktuell werden Menschen für die Teilnahme an einer Demonstration oder Mitgliedschaft in einer politischen Organisation verhaftet, gefoltert und ermordet. Die Hoffnung, nach dem Sturz Lukashenkos neu gewonnene Freiheiten für eine langfristige Politisierung der Bewegungen nutzen zu können, ist unter diesen Umständen nachvollziehbar und berechtigt. Trotzdem sehen wir in der aktuellen Situation auch das Potential, dass die Proteste nicht nur minimale Verbesserungen, sondern auch aus sozialrevolutionärer Sicht positive tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen. Die Nachbarschaftsversammlungen, die inzwischen überall in Minsk stattfinden, sind zu einer wichtigen Basis für die Proteste geworden. „Wir organisieren gegenseitige Hilfe wenn jemand etwas braucht, veranstalten Flohmärkte aus deren Erlös die Bußgelder gedeckt werden, die die Regierung von Demonstrierenden verlangt. Und wir helfen denen, die von der Polizei Gewalt erfahren“, erzählt Jasja bei einem dieser Treffen. „Das sind kleine Schritte, mit denen wir ein wenig Macht erlangen. Wenn wir all diese kleinen Schritte vereinen, haben wir große Macht“, ergänzt Wera ihre Nachbarin. Hier werden revolutionäre Konzepte wie Gegenmacht, gegenseitige Hilfe oder Dezentralisierung gelebt, auch wenn sie nicht immer als solche benannt werden.

Zwar scheinen bisher eher wenige Menschen die Nachbarschaftsorganisierung als Kernstück einer neuen Gesellschaftsordnung zu betrachten. Aber für eine Gesellschaft, die sich jahrzehntelang unter einem repressiven Regime weggeduckt hat, stellt diese Selbstermächtigung einen enormen Schritt dar.

Ähnliches lässt sich über die Selbstorganisierung der Arbeiter*innen sagen. Auch wenn den vergangenen Aufrufen zum Generalstreik, zuletzt zum 26. Oktober, nur einige Betriebe folgten, ist die Idee des Streiks als politischem Instrument dennoch in der Bewegung verankert. Langsam entstehen auch erste Impulse kollektiver Arbeit: Seit drei Jahren besteht in Minsk ein Druckerei-Kollektiv, das inzwischen vier Personen einen Lebensunterhalt garantiert. In den Protesten spielen sie eine wichtige Rolle: „Alle Druckereien hier werden zensiert, so dass sich seit Beginn der Proteste viele weigern, irgendetwas zu drucken, was damit oder der weiß-rot-weißen Symbolik zu tun hat. Aber unser Kollektiv arbeitet von Anfang an ohne jegliche Zensur. Als zum Streik aufgerufen wurde, druckten wir alle Materialien dazu kostenlos oder gegen Spenden“, erzählt ein Mitarbeiter.

Allerdings gibt es verschiedene Hürden, die der Entstehung einer kämpferischen Arbeiter*innenbewegung im Wege stehen. Zum einen die mangelnde Tradition gewerkschaftlicher Organisierung. Die staatlichen Gewerkschaften sind in realsozialistischer Kontinuität vor allem ein Mittel der verstärkten Ausbeutung, jeder Versuch der Selbstorganisierung wird im Keim erstickt. Genau wie in der BRD gibt es in Belarus kein Recht auf politischen Streik, auf die erste Streikwelle im August folgten Massenentlassungen und Verhaftungen. Zum anderen wird jegliche sozialistische oder kommunistische Rhetorik mit dem Lukashenko-Regime und Abhängigkeit von der Sowjetunion in Verbindung gebracht. „Nach 26 Jahren Überleben im „Sozialstaat“ glauben die Menschen nicht an Sozialismus. Durch die lange sowjetische Geschichte und der kontinuierlichen pro-kommunistischen Rhetorik in Fernsehen und Alltag, sind sie skeptisch im Bezug auf Kommunismus.“, berichtet ein belarussischer Anarchist im Interview mit Crimethink. Das macht es auch für jede außerparlamentarische Opposition schwer, revolutionäre Ideen mit realpolitischer Perspektive in der Gesellschaft zu verankern.

Ein mögliches Ende des Regimes wird kein Machtvakuum nach sich ziehen: schon jetzt verhandeln verschiedene oppositionelle und internationale Akteur*innen und Teile der herrschenden Klasse, um die ökonomischen und politischen Verhältnisse des Belarus von morgen neu zu ordnen. Die breite Protestbewegung hat momentan keine gemeinsame Vorstellung davon, was in dieser Situation geschehen soll. Nach monatelangen Protesten und einem ersten Erfolg ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich viele durch kleine Zugeständnisse, wie Amnestie für gemäßigtere politische Gefangene, vorerst befrieden lassen. Wenn aber neoliberale Reformen mit der gleichen Geschwindigkeit wie z.B. in Polen umgesetzt werden, muss die Antwort der Bewegung direkt kommen. Wenn es einen Raum für die Mitgestaltung der Veränderung gibt, dann jetzt. Was es braucht, ist eine Organisierung der Gesellschaft an der Basis. Nur wenn sich die Nachbarschaftsversammlungen und Ansätze der unabhängigen Gewerkschaften konföderieren, können sie die Vision so einer Veränderung entwickeln. Die Impulse dafür zu setzen ist Aufgabe einer organisierten Kraft, die das Ende des Lukashenko-Regimes erst als Anfang einer sozialrevolutionären Umgestaltung der belarussischen Gesellschaft begreift

Diese Kraft sehen wir momentan am ehesten in der belarussischen anarchistischen Bewegung. Anarchist*innen haben von Beginn an an den Demonstrationen teilgenommen, sich in den Nachbarschaftsversammlungen eingebracht, Texte gedruckt und Programme veröffentlicht. Tatsächlich ist die anarchistische Bewegung die einzige größere linksradikale Kraft, die die Proteste unterstützt, da ein Großteil der kommunistischen Bewegung in regimetreuen Parteien organisiert ist. Das Potential, dass in der Annäherung der breiten Protestbewegung an libertäre Ideen steckt, hat auch das Regime erkannt: eine Verhaftungswelle folgt der nächsten, der größte Teil der Bewegung ist im Knast oder auf der Flucht, einigen Anarchist*innen droht nun sogar die Todesstrafe. Als Internationalist*innen begreifen wir die Kämpfe in Belarus auch als unser Ringen um eine lebenswerte Zukunft. Nicht aus einem westlichen Paternalismus heraus oder weil es hier nichts zu tun gäbe. Sondern weil auch die Kräfte der Herrschaft und Unterdrückung nicht vor Staatsgrenzen halt machen und ein Kampf um Befreiung genau deshalb nur international sein kann.

Die Kämpfe in Belarus stellen uns vor die Wahl: bleiben wir am Rand stehen als Zuschauer*innen von Kämpfen, deren Ende im Neoliberalismus doch eh schon zu Beginn klar war. Oder aber bringen wir uns ein, organisieren Kundgebungen, sammeln Soligelder, finden heraus, wer hier in der BRD an der Unterdrückung unserer Genoss*innen verdient. Und zeigen ihnen, dass sie nicht allein sind. Belarus befindet sich in einer Zeit des Umbruchs. Nach Jahren des Schweigens und der Isolation spüren die Menschen jetzt, dass die Macht auf der Straße liegt, dass nichts bleiben muss wie es ist.

Wir wünschen ihnen dabei viel Kraft und Hoffnung.

Quelle: lowerclassmag.com… vom 27. November 2020

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