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Venezuelas US-Hampelmann Guaido hat noch 1 Wähler

Eingereicht on 9. Dezember 2020 – 17:24

Die Parlamentswahlen in Venezuela stellen zuallererst die Frage: Womit beginnen? Damit, dass selbst die (kommende) US-Regierung den rechten Retorten-Oppositionellen Guaido nicht mehr als Trumpfkarte ansehen und das wie stets besonders peinliche deutsche Außenministerium sein letzter Unterstützer bleibt? Oder damit, dass die Regierung einen Sieg feiert, weil sie von 20 Millionen Wahlberechtigten 3,5 Millionen Stimmen erhalten hat? Ungefähr so viele, wie sich in den letzten Jahren Richtung Kolumbien und Brasilien auf den Weg aus der Wirtschaftsmisere gemacht haben? Oder gar damit, dass Maduro-Fans rund um die Welt „übersehen“, dass die kleineren linken Alternativen bei dieser Wahl behindert und verfolgt wurden? Siehe in der Materialsammlung zur Parlamentswahl in Venezuela einige aktuelle Beiträge über allseitige Wahlverlierer, das Ende eines selbsternannten Gegenpräsidenten und die Gründe für die wachsende Distanz zwischen den sozialen Bewegungen Venezuelas und der Maduro-Regierung:

„Linke in Venezuela gewinnt Mehrheit im Parlament bei nur 31 Prozent Wahlbeteiligung“ von Marta Andujo am 07. Dezember 2020 bei amerika21.de fasst die Wahlergebnisse so zusammen: „… Bei einer Wahlbeteiligung von 31 Prozent entfielen auf das Bündnis der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei (PSUV), Großer Patriotischer Pol, 67,6 Prozent und über dreieinhalb Millionen Stimmen. Verschiedene Wahlbündnisse der Opposition vereinigten 22,14 Prozent und damit mehr als eine Millionen Stimmen auf sich. Das neue, erstmals unabhängig vom Regierungsblock angetretene Linksbündnis “Revolutionäre Volksalternative” auf der Liste der Kommunistischen Partei Venezuelas erzielte 2,73 Prozent und 143.917 Stimmen. Weitere Parteien und Listen erhielten 6,79 Prozent. Das Endergebnis der Auszählung ist im Laufe des Tages zu erwarten. Rund 200 internationale Beobachter aus 34 Ländern aus fünf Kontinenten begleiteten den umstrittenen Wahlprozess. Die Europäische Union, die von der venezolanischen Regierung ebenfalls zur Wahlbeobachtung eingeladen war, lehnte mit der Begründung ab, dass nach ihrer Ansicht die Bedingungen für eine demokratische Abstimmung nicht gegeben seien. Damit stützte sie im Vorfeld die Haltung der US-Regierung und den Aufruf der radikalen Rechtsopposition in Venezuela zum Wahlboykott, der mit der sehr geringen Wahlbeteiligung einen Erfolg beanspruchen kann“.

„Guaidó – der Gescheiterte?“ von Anne Demmer am 06. Dezember 2020 bei tagesschau.de ist eine Art Betriebsunfall: Denn immerhin wird hier die Position der Bundesregierung in all ihrer Peinlichkeit zutage gefördert: „… Guaidó mobilisierte die Menschen. Für einen Moment schien der Wechsel nah, einige sahen ihn schon als neuen Präsidenten. Doch die Massen bringt er längst nicht mehr auf die Straße. Hört man sich in Carácas um, winken viele Leute ab. Opposition oder Regierung – am Ende komme es doch auf gleiche raus, ist oft zu hören. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datanálisis vertrauen 62 Prozent der Venezolanerinnen und Venezolaner weder dem amtierenden Maduro noch dem selbst ernannten Interimspräsidenten Guaidó. Der Euphorie ist Resignation gewichen. Guaidó gelang es nicht, das einflussreiche Militär auf seine Seite zu ziehen. Kritiker werfen ihm die enge Allianz mit den USA vor. Die US-Sanktionen führten nicht zum Wechsel, unter den Folgen leide vor allen Dingen die Zivilgesellschaft, sagen sie. Jetzt ruft Guaidó zum Boykott der Parlamentswahlen auf, die auch von der EU und den UN nicht als frei und fair bezeichnet werden...“

„Bundesregierung hält an ihrem Präsidenten in Venezuela fest“ von Harald Neuber am 08. Dezember 2020 bei telepolis zum inzwischen faktischen Alleinstellungsmerkmal der Bundesregierung: „… Zugleich stützen einzelne Mitgliedsstaaten der EU, allen voran die deutsche Bundesregierung, Guaidó – und brechen damit nicht nur geltendes Völkerrecht. Sie positionieren sich auch offen gegen den designierten US-Präsidenten Joe Biden, der im Gegensatz zur noch amtierenden US-Regierung auf eine diplomatische Lösung des venezolanischen Konflikts setzt. Brüssel und das SPD-geführte deutsche Außenamt Seite an Seite mit Donald Trump? Die venezolanische Krise treibt dieser Tage diesseits und jenseits des Atlantiks seltsame Blüten.bPräsident Nicolás Maduro wertete das Ergebnis von 67,6 Prozent für seine Vereinte Sozialistische Partei (Psuv) und die im Bündnis Großer Patriotischer Pol versammelten Partnergruppierungen indes als politischen Sieg. “Wir können gewinnen und verlieren, heute aber haben wir gewonnen”, sagte er am Montag im staatlichen Fernsehkanal VTV. Nun beginne ein neuer Abschnitt “der Arbeit, des Wiederaufbaus des Landes und der Wirtschaft – in Souveränität, Unabhängigkeit und Frieden”. Die demonstrativ selbstbewusste Einschätzung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit dieser Wahl nicht nur die stets wenig relevante Opposition um Guaidó weiter an Bedeutung verloren hat. Auch für das Regierungslager ist eine Beteiligung von nur 31 Prozent ein herber Rückschlag; 2015 nahmen schließlich noch über 74 Prozent der gut 20 Millionen Wahlberechtigten an der Abstimmung teil. Einen politischen Sieg für die radikale Opposition bedeutet das aber nicht…“

„Two Chavista Blocs, Two Voices: Venezuelan Parliamentary Candidates Speak“ von Cira Marquina am 04. Dezember 2020 bei Venezuela Analysis war, kurz vor der Wahl, ein Gespräch mit zwei Aktivisten, die sich als „Chavisten“ verstehen. Einer, der die Regierung der PSUV verteidigt und einer, der sie kritisiert. Die linke Opposition zu Maduro hatte, bis auf einige kleinere Gruppen, lange gebraucht, um den Schritt zu machen, mit der PSUV zu brechen und öffentlich zu vertreten, dass man Maduro nicht für den „legitimen Erben“ von Hugo Chavez halte. Jetzt wird diese selbstständige kleinere Kandidatur oppositioneller Chavisten in erster Linie mit dem jüngst verabschiedeten Anti-Blockade-Gesetz begründet, das eine Kapitulation vor Neoliberalismus und Privatisierung sei (siehe dazu auch den Hinweis am Ende dieses Beitrags) – und mit der Tatsache, dass es die selbstorganisierten sozialen Bewegungen quer durchs Land seien, die die wirklichen Träger von Veränderungen seien (und von denen ebenfalls sehr viele nicht an der Wahl teilnahmen, wie aus anderen Quellen deutlich wird).

„Venezuela: “Auf der Seite des radikalen Chávez”“ am 06. Dezember 2020 bei amerika21.de war ein Gespräch von Cira Pascual Marquina mit Rafael Uzcátegui (von der Revolutionären Volksalternative) zur eigenen Wahlbeteiligung (mit einem KP-nahen Bündnis), worin er zu den Gründen für diesen Schritt unter anderem ausführte: „… In den Reihen des Chavismus sind Neugruppierungen im Gange, die eine revolutionäre Alternative aufbauen wollen. Es gibt Dutzende Organisationen in der APR – von alten, traditionellen Parteien wie der Kommunistischen Partei (PCV) und der Mehrheitsfraktion der PPT [eine Partei, die aus den Kämpfen der Arbeiterklasse der 70er und 80er Jahre hervorging] bis hin zu kommunalen und regionalen Organisationen und sozialen Bewegungen. Einige von ihnen haben sich abseits von PSUV und Regierung entwickelt, die – wegen ihrer liberalen Wirtschaftspolitik und der Tendenz, andere interne Stimmen nicht zu beachten – viele vergrault hat. Andere hatten kritisch-konstruktive Positionen im Patriotischen Pol eingenommen, aber auch ihre Stimmen wurden nicht gehört. Aber generell und abseits aller Einzelkritik an spezifischer Politik und Praxis ist es unsere politische Vision, die uns von Nicolás Maduro unterscheidet. Wir wollen einen linken revolutionären Neustart, der im radikalem Projekt von Hugo Chávez wurzelt. Die Regierung Maduro hat sich davon entfernt. Unser Projekt ist ein linkes chavistisches Projekt. Und wenn wir uns mit dem Chavismus identifizieren, dann meinen wir einen “radikalen Chávez”. (…) Es gab eine Veränderung in der Führung des Prozesses, und es dauerte eine Weile, bis wir das begriffen. Ihr Charakter änderte sich, und mit dieser Veränderung kam auch ein Wandel in der Politik. Es gibt eine Blockade, ja. Donald Trump und jeder Vertreter imperialer Interessen ist gegen jegliche Ausdrucksform von Volkssouveränität. Die Sanktionen wurden aber zum Vorwand, einer neuen Logik den Weg frei zu machen, die sich in der “revolutionären Bourgeoisie” ausdrückt. Wohlgemerkt, dieser Begriff wurde von Landwirtschaftsminister Wilmar Castro Soteldo geprägt – ein pensionierter Offizier, der am Aufstand vom 27. November 1992 beteiligt war. Die Worte von Castro Soteldo stießen auf breite Ablehnung in der Bevölkerung. Aber Nicolás Maduro sagte später, wer auch immer seine Minister kritisiere, kritisiere den Präsidenten selbst. Der bolivarische Prozess änderte sich und wir brauchten einige Zeit, um das zu verstehen, aber jetzt ist das für die Gruppierungen der APR klar. Es dauerte Jahre, bis die Linke begriff, dass die Sowjetunion zu einem nichtsozialistischen Gebilde mutiert war, und in den Köpfen Einiger ist die Sowjetunion immer noch lebendig und wohlauf! Etwas Ähnliches geschah mit China, das zur führenden kapitalistischen Handelsmacht der Welt geworden ist, und einige nehmen es als positives Beispiel. Nun, etwas ähnliches passiert hier: Das Projekt ist dabei, sich zu ändern! Das ist eine neue Situation, und daher müssen wir müssen die Politik neu organisieren…“

Alcaldesa y policía de Valmore Rodríguez Zulia detienen a militantes del PCV en un allanamiento a la sede del comando de campaña del Gallo Rojo en el municipio“ am 07. Dezember 2020 im Twitter-Kanal der PCV steht hier als Beispiel für eine ganze Reihe von Meldungen der KP Venezuelas über Repressionsmaßnahmen gegen ihren Wahlkampf gemeinsam mit dem Wahlbündnis APR, bei denen immer wieder Versammlungen oder Aktionen verboten wurden und einzelne AktivistInneen vorübergehend festgenommen…

„Die Regierung hat eine neoliberale Anpassung vorgenommen“ von Ute Evers am 03. Dezember 2020 bei nd online war ein Gespräch mit Ricardo Adrián von der KP Venezuela über die Politik der Maduro-Regierung nach der Präsidentschaftswahl 2018 aus der Sicht der KPV: „… Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass für die Wiederwahl von Präsident Nicolás Maduro 2018 eine Reihe von öffentlichen programmatischen Vereinbarungen mit Parteien wie der PCV und Heimatland für alle (PPT) unterzeichnet wurde. Es handelte sich um einen Weg, der Krise und den Sanktionen mit revolutionären Maßnahmen zu begegnen. Kaum war die Regierung wiedergewählt, kündigte sie aber einen Plan der Öffnung und Anreize für nationale und ausländische Privatinvestitionen an, die harte Anpassungen für die arbeitende Bevölkerung zur Folge hatten. Das war der Moment, als alle Parteien und linken Strömungen begannen, ihrer Besorgnis darüber Ausdruck zu verleihen. Der Lohn fiel von Dezember 2018 von umgerechnet 30 US-Dollar monatlich bis heute auf weniger als ein US-Dollar. Die Preise auf alle Waren wurden dem Dollar angepasst, nicht aber der Lohn! Es wurden Staatsvermögen und Unternehmen privatisiert. Die tägliche Ölförderung fiel von 1,4 Millionen Barrel auf 380 000 pro Tag. Es wurden schwerwiegende Fehler in der Herstellung und dem Vertrieb bei Gas, Wasser und Strom gemacht. Kurz, es begann eine Zeit riesiger Katastrophen, gegen die die Menschen in Venezuela noch heute zu kämpfen haben. Natürlich argumentiert die Regierung primär mit den Sanktionen, die schrecklichen Schaden angerichtet haben. Wir teilen diese Meinung, aber wir glauben auch, dass der schlimmere Schaden darin besteht, dass angesichts der Sanktionen eine Wirtschaftspolitik betrieben wird, die weit davon entfernt ist, die Auswirkungen der Sanktionen umzukehren. Sie reproduziert und verstärkt sie sogar eher, indem sie sie ausschließlich auf die Schultern der arbeitenden Bevölkerung wirft. Aus dieser Krise, die sich auf die ärmsten Menschen des Landes konzentriert, entsteht eine neue kritische, populare und revolutionäre Subjektivität, die wir heute mit der Politik der Revolutionär-Popularen Alternative (APR) zum Ausdruck zu bringen versuchen…

„”Venezuela braucht dringend eine Perspektive auf eine Überwindung der gesellschaftlichen Polarisierung”“ am 03. Dezember 2020 bei amerika21.de ist ein Interview von Vilma Guzmán mit Andrej Hunko über die aktuelle Entwicklung in Venezuela, worin er unter anderem zur Lebenslage der Menschen ausführt: „… Seit meinem Besuch im April 2019 sind leider in vielen Bereichen deutliche Verschlechterungen zu beobachten. Die Wirtschaft befindet sich weiter im freien Fall und die öffentliche Infrastruktur wird seit Jahren auf Verschleiß gefahren. Das Benzin ist knapp und die Inflation frisst die geringen Löhne auf. Das hat viele Gründe wie die teils verfehlte Wirtschaftspolitik der Regierung, die Korruption und den Verfall des Preises für Erdöl, von dem das Land extrem abhängig ist. Diese Fehlentwicklungen wurden durch die Wirtschaftsblockade der USA enorm verschlimmert. Das Kalkül hinter dieser Politik ist offensichtlich: Der Wirtschaftskrieg soll Venezuela endgültig in den Kollaps treiben, um die Maduro-Regierung loszuwerden. Bislang ist es jedoch nicht aufgegangen. Die massive Auswanderung von Venezolanerinnen und Venezolanern hat sich im Zuge der Pandemie offenbar verlangsamt. Aber nach wie vor leben Schätzungen der UNO zufolge etwa fünf Millionen venezolanische Staatsangehörige im Ausland, viele unter sehr schwierigen Bedingungen, insbesondere angesichts der Pandemie. Das wirft natürlich auch in Bezug auf die Parlamentswahl Fragen auf. Allerdings ist das venezolanische Wahlrecht bei dem Thema recht klar: Wie in vielen anderen Ländern Lateinamerikas sind im Ausland lebende Staatsangehörige bei Parlamentswahlen nicht wahlberechtigt...“

„Venezuela: Un balance del fracaso chavista desde la oposición de izquierda“ am 30. September 2020 bei La Clase.info war eine Bilanz insbesondere der beiden letzten Jahre Maduro-Politik aus jener linken Richtung, die schon seit langem gegen die PSUV zu mobilisieren versuchte – und nicht ganz zufällig dabei erst in letzter Zeit einige Erfolge verbuchen konnte…

Quelle: labournet.de… vom 9. Dezember 2020

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