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Schweiz: Warum ich nicht wählen gehe

Eingereicht on 16. Oktober 2019 – 17:40

Philipp Gebhardt (BFS Zürich). Am kommenden Sonntag, 20. Oktober 2019 wählt die Schweiz ein neues Parlament. Die Erwartungen von links sind riesig und glaubt man den Kommentaren der links-grünen Parteien, wird die Schweiz ab kommender Woche

eine andere sein. Ich habe da meine Zweifel. Als überzeugter revolutionär-sozialistischer Nicht-Wähler bekommt man in diesen Tagen allerhand zu hören. Man würde den #Linksrutsch sabotieren, den Rechten – insbesondere der Schweizerischen Volkspartei (SVP) – helfen, ja man sei eigentlich selbst ein Rechter. Solche Anschuldigungen verlangen nach einer polemischen Replik.

Weil es nichts zu wählen gibt

2019 gab es in der Schweiz alleine in der Bundesverwaltung knapp 38’000 Vollzeitstellen. Wer das ist, kümmert niemanden und gewählt werden sie nicht. Sie treten normalerweise auch nicht ab, sondern bleiben unter Umständen ihr Leben lang. Wenn wir nun alle vier Jahre 246 Personen in die zwei Kammern der Schweizer Legislative wählen, kümmert das zwar auch nicht so viele (siehe Wahlbeteiligung in den letzten Jahren) und weit über ein Viertel der Bevölkerung darf sich nicht darum kümmern (alle ohne Schweizer Pass und Jugendliche unter 18). Wenn man es aber wagt, offen zu sagen, dass man sich absichtlich und aus politischen Gründen «nicht darum kümmert», dann findet das sogar die linke Historikerkoryphäe Jakob Tanner «ungemütlich», wie er unlängst im Magazin des Tages-Anzeiger meinte.

Als revolutionärer Sozialist bin ich nicht grundsätzlich gegen parlamentarische Arbeit als politisches Betätigungsfeld für die Linke – trotz allen Beschränkungen und Gefahren. Unter gewissen Umständen kann es für Revolutionär*innen nützlich sein, um an Informationen zu kommen, die politischen Positionen besser verbreiten zu können, oder den parlamentarischen Betrieb von innen zu stören, wie es z.B. die BFS im Tessin macht.

Wenn es also revolutionäre – oder zumindest explizit linke, unabhängige – Parteien gäbe, die sich zu Wahl stellen würden, könnte ich mir durchaus vorstellen, wählen zu gehen.

Keine Stimme für die SP – nie und nimmer

Hier sagt man mir dann jeweils, dass es auch in Zürich Parteien links der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP) gibt, die man wählen könne. Könnte man, spielt einfach keine Rolle: denn alle Parteien, die links der SP stehen, haben mit ihr eine Listenverbindung (Alternative Liste, Partei der Arbeit, junge Grüne und Jusos sowieso). Das heisst, dass sofern diese Parteien keinen Sitz erreichen (was wahrscheinlich ist), gehen die Stimmen trotzdem an die SP. Und die Sozialdemokratie wähle ich unter keinen Umständen. Denn die SP ist keine weichspülende Alternative zum Neoliberalismus, sondern im Gegenteil mitverantwortlich für die neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft seit den 1980er Jahren und den darauf aufbauenden Aufstieg der Rechten. Die SP trägt nicht nur als Regierungspartei Verantwortung dafür. Ihre Parteimitglieder waren seit den 1990er Jahren führend beteiligt an der Liberalisierung des Telefonmarktes, der Umstrukturierung der SBB, der Restrukturierung der Post und den Grossangriffen auf die Arbeitsbedingungen der Staatsangestellten (z.B. Abschaffung des Beamtenstatus im Jahr 2000) usw.

Um aufzuzeigen, dass die SP nicht meine Interessen als Lohnabhängiger vertritt, muss ich mich nicht auf den Frühling des Neoliberalismus in der Schweiz in den 1990er Jahren beziehen. 2019 haben in Zürich alle rot-grünen Exekutivmitglieder auf kantonaler und städtischer Ebene die kantonale Umsetzung der Steuerreform und AHV-Finanzierung (STAF) und damit weitere Steuergeschenke für die Unternehmen unterstützt. Es ist eine Binsenwahrheit, dass damit der Zwang zum weiteren Abbau unserer sozialen Löhne (des «Sozialstaates») folgen wird. Die SP zu wählen – ob direkt oder indirekt – widerspricht diametral meinen materiellen (und politischen) Interessen.

Wer einwendet, dass es in der SP ja auch tatsächlich Linke und Nette gibt, hat sicherlich recht, aber wenig verstanden. Am 27. Mai 2019 brachte dies alt-SP-Nationalrat Tim Guldimann in der Aargauer Zeitung wunderschön auf den Punkt: «Ich habe nichts dagegen, wenn bei uns der linke Flügel auch mal radikale Forderungen stellt. Das mobilisiert die linke Wählerschaft, ohne die Welt zu verändern.» Ich lasse mich aus Prinzip nicht von alten Bürokrat*innen an der Nase rumführen.

Der #Linksrutsch findet auf der Strasse statt

Am absurdesten ist der Vorwurf, ich würde mit meiner bewussten Wahlabstinenz den Rechten helfen. Dass ein #Linksrutsch am 20. Oktober überhaupt möglich ist, liegt in erster Linie an der riesigen feministischen Bewegung, die am 14. Juni 2019 im Frauen*streik kulminierte, und an der Klimastreik-Bewegung, die seit Dezember 2018 welt- und auch schweizweit zu einer politischen Diskursverschiebung geführt hat (inwiefern wir dadurch auch das reale Kräfteverhältnis längerfristig zugunsten der Lohnabhängigen verschieben können, ist noch offen). Dass sich all jene, die sich auf der lila-grünen Welle ins Parlament tragen lassen wollen, überhaupt Hoffnung auf einen Parlamentssitz machen dürfen, liegt also paradoxerweise an all denjenigen Aktivist*innen, die sich in den letzten Monaten unermüdlich, unentgeltlich – und vor allem ausserhalb der Parlamente – für eine andere, feministische, ökologische und solidarische Welt eingesetzt haben. Uns allen also vorzuwerfen, wir würden den Rechten in die Hände spielen, ist verblödet.

Mit unserem Engagement haben wir aber vor allem alternative politische Betätigungsformen aufgezeigt und praktiziert, die nicht auf Delegation, sondern Selbstorganisation beruhen. Und dass dies politisch wirkungsvoller ist, bestätigt indirekt auch die liberale Politikwissenschaft. In einem Interview mit dem Tages-Anzeiger am 1. September 2019 wurde der liberale Politologe Michael Hermann mit der Feststellung konfrontiert, dass der parlamentarische Rechtsrutsch von 2015 tatsächlich nicht viel verändert habe. Auf die Frage, inwiefern nun ein Linksrutsch etwas ändern würde, antwortete er: «Rutsche in der Schweiz sind immer klein, selbst wenn sie uns gross erscheinen. Sogar wenn die Zusammensetzung der Regierung wechseln sollte, wäre der Unterschied wohl nur minim.» Die neoliberale politische Stabilität in der Schweiz wird nicht durch die Wahlen ins Wanken gebracht, sondern durch den Druck der Strasse.

Quelle: sozialismus.ch… vom 16. Oktober 2019

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