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Kein Land in Sicht? Corona vs. Capitalism

Eingereicht on 4. Januar 2021 – 9:15

Christoph Morich. Die gegenwärtigen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie führen uns deutlicher denn je vor Augen, welche Position die Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft einnehmen: sie sind das Anhängsel ihrer Produktionsverhältnisse, die zwar von ihnen täglich gemacht, doch nicht von ihnen kontrolliert werden. Sie sollen für möglichst wenig Geld arbeiten, für möglichst viel Geld konsumieren und dieses Leben als das alternativlos bejubeln. Unverfroren appellieren Politiker*innen aller Couleur an die Solidarität der Bevölkerung, die darin bestehen soll, alles was Geld generiert weiterzubetreiben und alles andere zu unterlassen. Der Weihnachtseinkauf wird zum „patriotischen Akt“ (Peter Altmaier) und die Sphäre der Arbeit bleibt – egal, wie spinnefeind sich die Politiker*innen in allen sonstigen Fragen der Pandemie-Bekämpfung sind – unangetastet. Der Kapitalismus ist zur „zweiten Natur“ (Marx) geworden und auf die lässt sich offenbar noch weniger Einfluss nehmen als auf die erste, gegen deren Unannehmlichkeiten zumindest noch ein Impfstoff entwickelt werden kann. Und da der noch nicht für alle da ist, aber die Räder der Fabrik und die Drohnen bei Amazon niemals stillstehen dürfen, müssen viele Familien nun in Kauf nehmen, dass ein Großelternteil nicht nur dieses Jahr, sondern nie mehr mit unter dem Weihnachtsbaum sitzen wird. Schuld daran trägt aber in den öffentlichen Erklärungen nicht etwa die ausbeutende Klasse, die Menschen zwingt, in überfüllten S-Bahnen zu ihren Arbeitsstätten ohne ernst zu nehmende Hygienekonzepte zu fahren, sondern chronologisch in dieser Reihenfolge: Familienfeiern, alkoholisierte Jugendliche und Glühweintrinker*innen. Tritt man für einen Moment aus dem Spektakel der Corona-Berichterstattung zurück, in der man täglich mit den neusten Fallzahlen, dem aktuellsten Streit zwischen Bund und Ländern und der letzten Ermahnung von Markus Söder bombardiert wird, fällt es einem täglich schwerer nachzuvollziehen, warum mittlerweile nicht der*die letzte Politiker*in aus dem Amt gejagt, das Kapital enteignet und diese Pandemie besiegt ist. Zumindest letzteres ist in vielen anderen Ländern schon seit Längerem der Fall.

Es ist offensichtlich: die alltägliche Barbarei des Kapitalismus spitzt sich im Zuge der Corona-Pandemie weiter zu. Und auch daraus macht die bürgerliche Presse keinen Hehl. So resümiert die FAZ die ökonomischen Veränderungen des letzten Jahres: „Das Virus bringt Elend und Armut in die Welt. Unternehmen gehen Pleite, Arbeitsplätze verloren. Das ist die eine Seite der Pandemie. Auf der anderen Seite steht der Glanz jener Unternehmen, die von der Coronakrise profitieren. Dies sind vor allem die Vorreiter aus der digitalen Welt, die mit zerstörerischer Kraft lang etablierte Geschäftsmodelle zum Kollaps bringen. Diesen Trend gab es schon vor Corona. Aber das Virus hat ihn beschleunigt.“ Während der Großteil der Pfleger*innen, die zu Beginn des Jahres von deutschen Balkonen beklatscht wurden, heute keinen Cent mehr verdient und dafür auch noch länger arbeiten muss, kam es unter den Superreichen zu einer Vermögenssteigerung, dessen Dimensionen sich, wenn überhaupt, nur noch durch gewitzte Rechenspielchen begreifen lassen. So könnte etwa Jeff Bezos jedem*r seiner weltweit 840.400 Mitarbeiter*innen über 100.000 Dollar schenken und wäre noch immer so reich wie zu Beginn der Pandemie im März dieses Jahres.

Die andere Seite des sozioökonomischen Gefälles, das Elend dieser Welt, lässt sich dagegen ohne gedankliche Hilfskonstruktionen begreifen. Nach Schätzungen der Weltbank werden bis Ende des Jahres bis zu 115 Millionen Menschen mehr als im letzten Jahr in die absolute Armut gedrängt, was heißt, dass sie mit weniger als 1,90 Dollar pro Tag leben müssen. Sie sind nicht mehr in der Lage, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen und müssen dauerhaft um das eigene Überleben kämpfen. Und auch das Elend in den europäischen Flüchtlingslagern wurde in der vergangenen Woche wieder sehr plastisch, als Ärzt*innen aus Moria berichteten, dass sie in erster Linie Kinder behandeln müssen, deren Extremitäten in der Nacht von Ratten angeknabbert werden, die in den unhygienischen Zuständen der Lager – im Gegensatz zu den darin lebenden Menschen – die idealen Lebensbedingungen vorfinden. Ob diese Meldung es bis dato nicht in die bürgerliche Presse schaffte, weil sie die sowieso schon getrübte weihnachtliche Stimmung noch weiter vermiest hätte, lässt sich wohl nicht endgültig beurteilen. Das Elend an den Toren Europas nach und nach aus der öffentlichen Berichterstattung verschwinden zu lassen, scheint auf jeden Fall schon seit Längerem auf der Agenda der großen Medienkonzerne zu stehen.

Die kurze Hoffnung, dass sich die Dinge im Zuge der jetzigen Krise vielleicht doch einmal zum Besseren wenden könnten, die zu Beginn der Corona-Pandemie für einen Moment zu verspüren war, ist auf jeden Fall verflogen. Stattdessen müssen wir bilanzieren, dass die Welt genauso barbarisch geblieben ist, wie sie davor war. Diese grundlegendste Erkenntnis über die Gegenwart zu verleugnen und auch aus der letzten Scheiße noch die Hoffnung auf Gold zu machen, gehört zu den wesentlichen Aufgaben bürgerlicher Ideologie. So schreibt das Springer-Blatt Die Welt im Hinblick auf die verheerenden Folgen der Corona-Pandemie im globalen Süden: „Mitunter kann die Krise sogar als Chance wirken. So hätten Länder wie Ecuador, die Philippinen und Uganda nach Ansicht der Weltbank die Gelegenheit genutzt und wichtige regulatorische Reformen auf den Weg gebracht und ihre Investitionen in die Digitalisierung erhöht.“ Die jüngste Krise bietet also erneut die Chance, sich für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt zu wappnen, um irgendwann nicht mehr zu den Verlierern gehören zu müssen. Denn es ist wie in der Bundesliga: wenn sich nur alle Teams genug anstrengen, werden am Ende alle deutscher Meister.

Im Spott über den deutschen Idealismus, der es niemals geschafft hat, die materiellen Ursachen des Elends der Welt ins Auge zu fassen, schrieb Karl Marx bereits vor über 170 Jahren folgendes Gleichnis nieder: „Ein wackrer Mann bildete sich einmal ein, die Menschen ertränken nur im Wasser, weil sie vom Gedanken der Schwere besessen wären. Schlügen sie sich diese Vorstellung aus dem Kopfe, etwa indem sie dieselbe für eine abergläubige, für eine religiöse Vorstellung erklärten, so seien sie über alle Wassersgefahr erhaben. Sein Leben lang bekämpfte er die Illusion der Schwere, von deren schädlichen Folgen jede Statik ihm neue und zahlreiche Beweise lieferte.“ Der Idiotie des wackren Mannes entspricht heute der öffentliche Diskurs über die Reformierbarkeit dieses Systems, der permanent und im Zuge von Krisen noch etwas lauter zu vernehmen ist. So wie dem wackren Mann, die Ursache des Ertrinkens niemals in der Schwerkraft zu liegen scheint, so wenig sind es für die Apologet*innen des Kapitalismus die Gesetze dieser Produktionsweise, die das tägliche Elend erzeugen. Und so wird, anstatt diesen Irrsinn endlich zu beenden, in jeder Krise aufs Neue nach dem bisher übersehenen Kniff gesucht, der die kapitalistische Gesellschaft zu einer lebenswerten Gesellschaft für alle werden lässt – den Kapitalismus also nicht mehr so funktionieren lässt, wie er nach den Erkenntnissen jeder ernst zu nehmenden Analyse funktioniert.

Das staatliche Handeln während der momentanen Krise gibt einen Ausblick, was uns bezüglich der noch viel verheerenderen Verwerfungen im Zuge des Klimawandels erwarten wird. Das System muss gerettet werden, egal wie viele Menschen dafür sterben. Um im Bilde zu bleiben: Das Boot, in dem wir laut Politik alle gemeinsam sitzen, ist die Titanic. Die wird – entgegen aller anderen Verlautbarungen – untergehen und die Rettungsboote werden dann bereits für die 1. Klasse reserviert sein. Statt dem Orchester spielt auf dem Deck dann wahrscheinlich ein DJ, der versucht, den Untergang des Schiffes noch in letzter Sekunde wegzubassen. Um das zu verhindern, braucht es die Einsicht in die Schwerkraft und dann die Meuterei.

# Titelbild: Metro Centric, CC BY-NC 2.0, Capitalism Kills

Quelle: lowerclassmag.com… vom 4. Januar 2021

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