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Die Ideologie des Spätimperialismus

Eingereicht on 31. März 2021 – 16:53

Zhun Xu. Als der renommierte indische marxistische Ökonom Prabhat Patnaik 1990 die Frage «Whatever Happened to Imperialism?» [Was geschah nur mit dem Imperialismus?] stellte, befanden sich die einst lebendigen und einflussreichen Theorieschulen zum Imperialismus auf einem historischen Nachkriegstiefstand.[1] Als er 1974 aus dem Westen nach Indien zurückzukehrte, stand der Imperialismus im Zentrum aller marxistischen Diskussionen. Doch als er nur fünfzehn Jahre später in den Westen zurückkehrte, schien die Debatte um den Imperialismus bereits aus der Mode gekommen zu sein. Schliesslich lag das Ende der Sowjetunion und die Erklärung der Liberalen vom Ende der Geschichte noch nicht weit zurück.

Die Untersuchungen der Marxisten und Marxistinnen zur Frage des Imperialismus begannen im frühen zwanzigsten Jahrhundert. In der Zeit von W. I. Lenin und Rosa Luxemburg konzentrierten sich die Marxisten und Marxistinnen auf zwei miteinander verbundene Fragen zum Imperialismus: (1) interkapitalistische Konkurrenz und Krieg und (2) die Hierarchie innerhalb des Weltkapitalismus und das Verhältnis zwischen den imperialistischen Ländern und den Kolonien/Halbkolonien. Seitdem haben die Russische und die Chinesische Revolution, die antikoloniale Welle der Nachkriegszeit und der Kalte Krieg den Kontext des Imperialismus tiefgreifend verändert. Nach dem letzten interimperialistischen Krieg zwischen den Kernländern in den 1940er Jahren und nachdem die meisten Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, wurde das politisch-ökonomische Verhältnis zwischen den imperialistischen und den nichtimperialistischen Ländern zum Schlüssel für die Theoretisierung des Imperialismus.

Seit den 1950er Jahren haben marxistische Wissenschafter unser Verständnis des Imperialismus erheblich vertieft, indem sie die Unterentwicklung und das Zentrum-Peripherie- oder Abhängigkeitsverhältnis im Weltkapitalismus untersuchten.[2] Paul Barans The Political Economy of Growth ist eine der frühesten und besten Analysen darüber, wie feudale, imperialistische und kompradoristische Interessen sowie andere unproduktive Verwendungen des ökonomischen Mehrwertes die Dritte Welt zurückgehalten haben. Spätere Autoren wie Samir Amin, Andre Gunder Frank und Immanuel Wallerstein entwickelten jeweils einen eigenen, aber verwandten Ansatz für den Aufstieg des Kapitalismus. Anstatt sich nur auf Westeuropa und die Vereinigten Staaten zu konzentrieren, untersuchten sie auch, wie die globale Arbeitsteilung und das allgemeinere Weltsystem oder imperialistische System den Mehrwert von der Peripherie ins Zentrum transferierten und so gleichzeitig Entwicklung und Unterentwicklung schufen.

Angesichts dieser Flut von marxistischen Schriften über den Imperialismus in den 1960er und 70er Jahren ist das Verschwinden des Imperialismus aus der linken Diskussion recht bemerkenswert. Nach den Daten von Google Books (siehe Grafik 1) ist die Häufigkeit des Begriffs Imperialismus in einer grossen Stichprobe englischsprachiger Bücher zwischen 1974 und 1990 um mehr als 50 Prozent zurückgegangen. Bereits vor dem Untergang der Sowjetunion oder den neoliberalen Umwälzungen in weiten Teilen der Welt verschwanden Analysen des Imperialismus in den Vereinigten Staaten und anderswo.

Grafik 1. Häufigkeit des Begriffs Imperialismus in Google Books, 1870-2019 (Englisch)

Patnaik schlug vor, dass dieses Abflauen mit dem Erstarken und der Konsolidierung des Imperialismus nach dem Vietnamkrieg zusammenhängen könnte.[3] Dies zeigte sich an der Tyrannei der globalen Arbeitsteilung sowie an den destruktiven Funktionen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Daneben gab es auch eine direktere Entwicklung unter westlichen liberalen und linken Intellektuellen, die politisch darauf abzielte, antiimperialistische Schriften abzumildern. Seit den 1970er Jahren haben bekannte linke Autoren wie Bill Warren, Robert Brenner, Michael Hardt, Antonio Negri und David Harvey zu dieser Art von intellektueller Gegenrevolution beigetragen.

Abgesehen von einer Veränderung der Forschungsinteressen im akademischen Betrieb hat der Rückzug von der Frage des Imperialismus vor allem den Aufstieg einer konservativen Ideologie begünstigt, die als linker Diskurs gilt. Es gab eine Rückkehr zu dem, was wir als Politik der Zweiten Internationale bezeichnen können, die im Wesentlichen mit den von Lenin vorgelebten marxistischen Traditionen bricht und das revolutionäre Potenzial im imperialistischen Kern stark einschränkt.

Warren und das Verschwinden der Imperialismus-Analysen

Eine der frühen Kritiken an der marxistischen antiimperialistischen Tradition kam von Warren, einem ehemaligen Mitglied der britischen Kommunistischen Partei, der später der British and Irish Communist Organization beitrat. 1973 veröffentlichte Warren in der New Left Review einen langen Ausatz mit dem Titel «Imperialism and Capitalist Industrialization» (Imperialismus und kapitalistische Industrialisierung).[4] In dem Aufsatz versuchte Warren, die damals gängige antiimperialistische Sichtweise herauszufordern, dass der Imperialismus und allgemeiner die Ausweitung der kapitalistischen Verhältnisse weltweit Abhängigkeit und Unterentwicklung in der Dritten Welt schaffe. Warren war bestrebt zu zeigen, dass die Expansion des Kapitalismus und des Imperialismus der Dritten Welt Fortschritt (industrieller und anderer Art) brachte. In Warrens Worten: «Empirische Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Aussichten für eine erfolgreiche kapitalistische Wirtschaftsentwicklung [was Industrialisierung impliziert] einer beträchtlichen Anzahl von grossen unterentwickelten Ländern recht gut sind.» Obwohl Warren die Existenz des Imperialismus anerkannte und sogar andeutete, dass seine These mit der von Lenin übereinstimmte, argumentierte er, dass «Lenins allgemeine Theorie des Imperialismus theoretisch falsch konzipiert und historisch ungenau war.»

Warrens empirische Ergebnisse spiegelten zum einen den Nachkriegsboom und die weit verbreiteten nationalen Industrialisierungsprojekte der neuen unabhängigen Nationen wider, zum anderen den Aufstieg einiger weniger Protegés des Imperialismus wie Taiwan und Südkorea. Aber Warren begnügte sich nicht damit, die Nachkriegsprosperität zu erwähnen. Er fuhr fort zu argumentieren, dass die Dritte Welt eine unabhängige Industrialisierung durchmachte, wobei die Entwicklung zunehmend im Inland stattfand und finanziert wurde, eine breite Palette von Industrien umfasste und die westliche technologische Überlegenheit schwand. Er argumentierte, dass in der Nachkriegszeit der Abfluss des Mehrwerts von der Peripherie ins Zentrum nichts zu bedeuten hat, da er einfach der Preis sein kann, der für die Errichtung von Produktionsstätten gezahlt wird. Schliesslich sei «Ausbeutung die Kehrseite des Vormarschs der Produktivkräfte».

Warrens anti-antiimperialistische Politik war klar. Er argumentierte, dass Sozialisten den Charakter des antiimperialistischen Kampfes viel genauer untersuchen müssten, und forderte, den einheimischen Klassenkämpfen in der Dritten Welt mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn das Zentrum-Peripherie-Verhältnis zunehmend der Vergangenheit angehörte, dann wurde der Antiimperialismus natürlich nur ein Deckmantel für interkapitalistische Streitereien und Verhandlungen.

Im Gegensatz zu Warrens falschem Optimismus hat die Entwicklung des Kapitalismus eine anhaltende, wenn nicht sogar zunehmende Kluft zwischen Zentrum und Peripherie hervorgebracht. Bald darauf schrieb Arghiri Emmanuel eine Antwort auf Warren, in der er argumentierte, dass dieser den gewaltigen Unterschied in der Industrialisierung und der landwirtschaftlichen Mechanisierung zwischen den reichen Ländern und der Dritten Welt übersehen habe.[5] Emmanuel argumentierte, dass der Imperialismus sich selbst reproduziere und nicht selbst zerstöre, wie Warren annahm, und dass er nur von der Arbeiterklasse ausserhalb der Heimatländer des Imperialismus angegriffen und zerstört werden könne. In einer weiteren Antwort zeigten Philip McMichael, James Petras und Robert Rhodes nicht nur, dass es wenig Anhaltspunkte für eine eigenständige Industrialisierung im Globalen Süden gab, sondern warnten auch (richtigerweise) vor der kommenden Zahlungsbilanzkrise in der unterentwickelten Welt.[6] Zusammenfassend argumentierten die drei Autoren nachdrücklich, dass das Wachstum der Dritten Welt von einer kleinen Anzahl von Ländern abhing, zum Nutzen eines kleinen Teils ihrer Bevölkerung, was nur im Kontext des Imperialismus verstanden werden kann. David Slater wies später auf eine Reihe von Schwächen in Warrens These hin, darunter Warrens Eurozentrismus, die schlichte Akzeptanz der kapitalistischen Ausbeutung und die sehr selektive Lektüre der Marxschen Texte.[7]

Die tatsächliche Entwicklung bis heute bestätigt Warrens These nicht. Grafik 2 stellt das nationale Pro-Kopf-Einkommen gemessen in konstanten 2010-Dollar im Jahr 1960 den Werten im Jahr 2015 gegenüber. Das klare Muster deutet darauf hin, dass die Hierarchie und die Ränge innerhalb der kapitalistischen Welt während der fünfundfünfzig Jahre der sogenannten Entwicklung weitgehend intakt geblieben sind. Die reichen Länder von 1960 stehen 2015 immer noch an der Spitze, während die armen Länder von damals auch ein halbes Jahrhundert später eher am unteren Ende zu finden sind. Basierend auf denselben Daten betrug das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der zwanzig reichsten Länder 1960 das schwindelerregende 32-fache des Durchschnittseinkommens der zwanzig ärmsten Länder; im Jahr 2015 war dieses Verhältnis auf 123 angestiegen.

Grafik 2. Hierarchie im Weltkapitalismus

Natürlich würden die Entwicklung des Zentrums und die Unterentwicklung der Peripherie völlig unabhängig voneinander erscheinen, wenn der Imperialismus angeblich «weg» wäre. Daher hat Warrens These zwei wesentliche politische Implikationen. Erstens ist der Mangel an Entwicklung oder Unterentwicklung das Problem jedes Landes selbst. Es kommt wahrscheinlich von der Weigerung, sich der produktivitätsfördernden Globalisierung anzuschliessen, oder von bestimmten Arten von Korruption, oder von schlechten Institutionen oder Kultur, oder genauer gesagt von der Armut selbst. Zweitens: Obwohl der Globale Süden oder die Dritte Welt seit Lenins Zeiten oder sogar noch früher das Zentrum der Revolution und der Experimente des Sozialismus war, wurde er für Warren zu einer Last der Entwicklung und der Hilfe und zu einem Schüler der westlichen Gesellschaften. Die Art von euro- oder westzentrischer Sichtweise, die im globalen kapitalistischen Markt fortbestand, fand in der Linken ein Echo.

Brenners Eingreifen in die Übergangsdebatte

Wenn Warrens These die konservative Wende der westlichen Linken in Bezug auf zeitgenössische und globale Themen ankündigte, dann bereicherte Robert Brenner, ein ausgebildeter Historiker, diese Entwicklung erheblich, indem er den Eurozentrismus und Konservatismus in der Geschichte des Übergangs zum Kapitalismus in Europa bekräftigte. Dies wurde deutlich in Brenners langer polemischer Arbeit «The Origins of Capitalist Development: A Critique of Neo-Smithian Marxism», in der New Left Review von 1977.[8]

Brenners Aufsatz war teilweise eine Aufarbeitung der berühmten Debatte über den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus zwischen Maurice Dobb, Paul Sweezy und anderen marxistischen Gelehrten in den 1950er Jahren in Science and Society. Unter anderem stimmten Sweezy und Dobb zwar darin überein, dass sowohl interne (Klassenkonflikte) als auch externe (Handel und Städte) Kräfte eine wichtige und interaktive Rolle beim Übergang zum Kapitalismus spielten, waren sich aber uneinig über den «primären Schwerpunkt» (Dobb) oder die «Haupttriebkraft» (Sweezy). Sweezy argumentierte, dass die treibende Kraft hinter dem Übergang in Westeuropa extern war, während Dobb behauptete, dass interne Kräfte die Form und Richtung der Auswirkungen von Handel und Markt bestimmten.[9] Sweezy, der die Diskussion entfachte, suchte nach Antworten auf politische Fragen. In seinen Worten: «Nun, ich habe eine ziemlich gute Vorstellung von der Natur der treibenden Kraft im Kapitalismus, warum der Entwicklungsprozess, den sie erzeugt, zur Krise führt und warum der Sozialismus notwendigerweise die Nachfolgeform der kapitalistischen Gesellschaft ist. Aber ich war mir über keinen dieser Faktoren im feudalen Fall im Geringsten im Klaren, als ich mich an Dobbs Buch setzte.»[10] Aber insgesamt ist nicht klar, dass die ursprüngliche Debatte an sich explizit mit linker Politik in der Nachkriegszeit verbunden war. Nichtsdestotrotz haben die Inspiration und der intellektuelle Raum, den diese Debatte erzeugte, wahrscheinlich spätere Diskussionen über Imperialismus, Abhängigkeit und Weltsysteme erleichtert.

Abgesehen von dieser Debatte schenkten Sweezy, Baran und die Autoren der Monthly Review den Kämpfen und Revolutionen im Globalen Süden grosse Aufmerksamkeit. Brenner, der in den späten 1970er Jahren schrieb, betrachtete eindeutig Frank und Wallerstein als das Hauptziel seiner Argumentation, aber sein Aufsatz begann mit einer Kritik an Sweezys Position aus den 1950er Jahren. Im Gegensatz zu allen, die sich an der ursprünglichen Debatte beteiligten, einschliesslich Dobb, lehnte Brenner jedoch die Rolle des Handels und der Städte vollständig ab und akzeptierte nur die Rolle des agrarischen Wandels bei der Schaffung kapitalistischer sozialer Beziehungen. Er argumentierte, dass der Handel nicht von sich aus die feudalen sozialen Beziehungen oder die Leibeigenschaft transformieren würde, und dass nur eine autonome Veränderung der Klassenbeziehungen auf dem Lande den Handel in Richtung Kapitalismus treiben würde. Dem folgend argumentierte Brenner, dass Sweezy, Frank und Wallerstein die Existenz des Kapitalismus voraussetzten, wenn sie über die Rolle von Handel, Arbeitsteilung, «Wettbewerb» und «Mehrwertmaximierung» sprachen. Brenner nannte die Konzentration auf den Austausch (Sweezy) und Arbeitsteilung (Frank und Wallerstein) sogar neo-smithianisch.

Fairerweise muss man sagen, dass Sweezy sich nicht ein einziges Mal auf die Mehrwertmaximierung bezog, ein Begriff, den Brenner fälschlicherweise Sweezy zuschrieb, um das hervorzuheben, was er für den ahistorischen Aspekt des Arguments hielt. Tatsächlich war es der britische marxistische Historiker Rodney Hilton, der in seiner Antwort auf Sweezy vorschlug, dass die Maximierung des Mehrwerts die Hauptantriebkraft der Dynamik des Feudalismus war.[11] In Hiltons Worten: «Die herrschende Klasse war auf die eine oder andere Weise … die ganze Zeit bestrebt, die Feudalrente zu maximieren, d.h. den gewaltsam angeeigneten Überschuss der direkten Produzenten.» Hilton erklärt weiter, dass diese Maximierung nicht dem Verkauf auf dem Markt diente, sondern im Wesentlichen dazu, «ihre Position als Herrschende zu erhalten und zu verbessern, sowohl gegenüber ihren zahllosen Rivalen als auch gegenüber ihren ausgebeuteten Untertanen.»

Brenners Aufsatz ist in mindestens dreierlei Hinsicht zutiefst fehlerhaft. Erstens beschuldigt Brenner Sweezy und Wallerstein, den Übergangsprozess zu unterstellen, aber seine Alternative war, die Nichtexistenz des Übergangs zu behaupten. Wenn Brenner von der Unmöglichkeit der Mehrwertmaximierung in der feudalen Gesellschaft sprach, war seine Methode eine metaphysische, die den Einfluss der damaligen analytischen Schule widerspiegeln könnte.[12] In seiner Analyse postuliert Brenner, dass Feudalherren keine kapitalistischen Motive haben können – weil nur Kapitalisten und Kapitalistinnen kapitalistische Motive haben –, aber dieses krude binäre Modell impliziert, wie viele populäre bürgerliche Wirtschaftstheorien, dass der Übergang zum Kapitalismus augenblicklich erfolgte. Dies könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Wie Sweezy in seiner Antwort auf Brenner betonte, lagen zwei Jahrhunderte zwischen dem Ende der Leibeigenschaft und dem Aufstieg der kapitalistischen Landwirtschaft, etwas, dem auch Dobb zustimmte.[13] Ironischerweise bedeutete dies, dass Brenner selbst den langen Übergang wegnehmen musste. Wie James Blaut später kommentierte, «hält Brenner, wie einige andere Marxisten, an einer sehr mystischen Konzeption des Kapitalismus fest. Der Kapitalismus wird als eine Entität, als ein wesentliches Ding konzipiert. Wenn er kommt, tut er das vollständig und ganz, als ob er ein Gott wäre, der vom Olymp herabsteigt, um die menschlichen Angelegenheiten zu regeln.»[14]

Zweitens hat Brenner einige wichtige historische Beweise falsch interpretiert. Wallerstein erklärte die zweite Leibeigenschaft in Polen und Osteuropa als Folge ihrer Eingliederung in das Weltsystem als Getreideproduzenten. In seinem Versuch, die Rolle des Handels zu verwerfen, schlug Brenner vor, dass der Getreideexport nur eine geringe Rolle bei der Verschlechterung der bäuerlichen Bedingungen spielte, da der frühere polnische Getreidehandel relativ klein war. Wie Robert Denemark und Kenneth Thomas sorgfältig untersuchten, erreichten die Getreideexporte zwar erst nach der Refeudalisierung ihren Höhepunkt, aber den grossen Angriffen auf den rechtlichen Status der Leibeigenen und ihre Fähigkeit, sich an königliche Gerichte zu wenden ging ein signifikanter Anstieg der Exporte voraus.[15] Indem er von sich verbessernden Terms of Trade der osteuropäischen Landwirtschaft gegenüber der westlichen Industrie berichtet, legt Brenner nahe, dass der Mehrwert im siebzehnten Jahrhundert tatsächlich vom Zentrum in die Peripherie floss. Denemark und Thomas argumentierten, dass Veränderungen der Terms of Trade nichts über den Mehrwerttransfer aussagen können, da sie auf unterschiedliche Produktivitätswachstumsraten zurückzuführen sein könnten. Sie dokumentierten, dass die Veränderungen der Terms of Trade im Kontext der steigenden niederländischen Produktivität und der stagnierenden oder sinkenden polnischen Getreideproduktivität im siebzehnten Jahrhundert leicht zu verstehen sind.

Drittens schenkte Brenner in seiner eurozentrischen Sicht der Geschichte dem Kolonialismus, der militärischen Eroberung und ihren Auswirkungen auf die Klassenbildung in den meisten Teilen der Welt wenig Aufmerksamkeit. Er übersah auch, dass viele wichtige Merkmale des spätmittelalterlichen ländlichen Englands (ungebundene Bauernschaft, Barpacht, Bauernkämpfe und so weiter) im selben Zeitraum in vielen Teilen Europas, Afrikas und Asiens vorhanden waren.[16] Kenneth Pomeranz, ein nicht-marxistischer Wirtschaftshistoriker, argumentierte, dass England und das untere Jangtse-Delta bis 1800 viele Schlüsselmerkmale gemeinsam hatten, aber die koloniale Expansion und die Sklaverei in Amerika brachten England schliesslich voran.[17] Ausserdem, obwohl Brenners Aufsatz scheinbar den Klassenkampf an die erste Stelle der Faktoren setzte, die zum Aufstieg des Kapitalismus führten, legen seine anderen Schriften nahe, dass nur eine besondere Art von Klassenkampf (in England) zum Kapitalismus führen würde. Für ihn war ein gewisses Mass an Kampf notwendig, um eine zweite Leibeigenschaft zu vermeiden, aber nicht so viel Kampf, dass die Grundherren das Eigentum an Land verloren.[18] So stellt Brenners These «die Klassenkampftheorie auf den Kopf «[19] . Brenners Analyse argumentiert im Grunde, dass, da bestimmte Phänomene (eine bestimmte Art von Klassenkampf zum Beispiel) mit dem Aufstieg des Kapitalismus in England koexistierten, der Aufstieg des Kapitalismus in England auch auf diese Dinge zurückzuführen sein muss. Das ist eine typische Art von Eurozentrismus, der auf zirkulärer Logik beruht.

Wie Warren lehnte Brenner die Relevanz des Konzeptes des Imperialismus ab und beschuldigte andere Marxisten, «den Grad zu minimieren, in dem jede bedeutende nationale Entwicklung der Produktivkräfte heute von einer engen Verbindung mit der internationalen Arbeitsteilung abhängt.» Er weigerte sich nicht nur, den Transfer von Mehrwert aus der Dritten Welt ins Zentrum anzuerkennen, sondern er beschuldigte die Antiimperialisten sogar einer «Utopie des Sozialismus in einem Lande» nachzuhängen.

Insgesamt zu sagen, dass Warren und Brenner, neben anderen, eine grosse intellektuelle Debatte ausgelöst haben, wäre eine Übertreibung. Es gab Diskussionen, sicher, aber sie waren nicht im Entferntesten ausreichend angesichts der Bedeutung des Themas. Wie Denemark und Thomas feststellten, haben sich nur wenige Autoren mit dem Hauptangriff von Brenner auseinandergesetzt.[20] Slater argumentierte, dass der Einfluss der Warren-These letztlich damit zusammenhing, dass das vorherrschende politische Klima seit 1980 militant prokapitalistische Positionen stark begünstigte.[21] Tatsächlich fielen die Schriften von Warren und Brenner mit der grossen konterrevolutionären Wende zusammen, wenn sie nicht sogar bewusst Teil davon waren, die schliesslich die revolutionäre Strömung negierte, die im frühen zwanzigsten Jahrhundert begann.

Vom Kommunistischen Manifest zur Zweiten Internationale

Wie dramatisch die intellektuellen Verschiebungen um 1980 auch zu sein schienen, sie waren eine Rückkehr zur langen eurozentristischen Tradition unter den westlichen Sozialisten, wie sie von denen in der Zweiten Internationale vorgelebt wurde. […] Warren und Brenner zum Beispiel waren beide daran interessiert, sich von «neueren marxistischen Ideen» zu lösen und zu dem Marxismus zurückzukehren, der angeblich eine positivere Sicht auf die Ausbreitung des Kapitalismus hatte.

Von welchem Marxismus sprachen sie? Die berühmten Passagen des Kommunistischen Manifests, die Brenner zitierte, drückten tatsächlich grossen Optimismus über die revolutionäre Rolle des Kapitalismus aus:

Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schiesst, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.[22]

Wie oft zitiert wird, glaubte Karl Marx, dass die britische Kolonialherrschaft dem indischen Volk immensen Schaden zufügte: «England hat das ganze Gerüst der indischen Gesellschaft zertrümmert, ohne dass bisher irgendwelche Symptome der Wiederherstellung aufgetaucht wären. Dieser Verlust seiner alten Welt, ohne Gewinn einer neuen, verleiht dem gegenwärtigen Elend des Hindus eine besondere Art von Melancholie und trennt das von England beherrschte Hindustan von all seinen alten Traditionen und von der Gesamtheit seiner vergangenen Geschichte.»[23] Aber Marx war in den frühen 1850er Jahren immer noch etwas hoffnungsvoll, dass die Handlungen Grossbritanniens indirekt und unbeabsichtigt zum Fortschritt Indiens führen könnten, da «was auch immer die Verbrechen Englands gewesen sein mögen, es war das unbewusste Werkzeug der Geschichte, um diese Revolution herbeizuführen.»

Dieser Optimismus, möglicherweise überbetont in einer politischen Erklärung, mag seiner Zeit angemessen gewesen sein. Die fortschrittliche Rolle des Kapitalismus war noch vor der Pariser Kommune vorhanden. Wie Lenin später prägnant zusammenfasste, «war die Periode zwischen 1789 und 1871 eine des fortschrittlichen Kapitalismus, als der Sturz des Feudalismus und Absolutismus und die Befreiung vom fremden Joch auf der Tagesordnung der Geschichte standen», aber das kapitalistisch-imperialistische Zeitalter nach 1871 war «eine des reifen und faulig-reifen Kapitalismus.»[24] Wie zahlreiche Denker seit den späten 1960er Jahren hervorgehoben haben, vor allem Kevin Anderson in Marx at the Margins, entwickelten sich Marx‘ Gedanken in Bezug auf den Kolonialismus ab den späten 1850er Jahren, insbesondere nach dem indischen Aufstand von 1857. Das Aufkommen bedeutender Widerstandsbewegungen in weiten Teilen der kolonisierten Welt veranlasste ihn, sich mehr auf die Potenziale der Revolution ausserhalb Westeuropas und Nordamerikas zu konzentrieren.[25] In seinem berühmten Brief an Vera Zasulich aus dem Jahr 1881 äusserte Marx, dass die russische nichtkapitalistische ländliche Kommune «der Dreh- und Angelpunkt für die soziale Regeneration in Russland» sein könnte.[26] Hier war Marx eindeutig anderer Meinung als Euro-Marxisten wie Brenner und Warren. Auch Friedrich Engels stellte in seinem Brief an Karl Kautsky 1882 folgende Behauptung auf: «Welche sozialen und politischen Phasen diese Länder dann zu durchlaufen haben werden, bevor sie ebenfalls zur sozialistischen Organisation gelangen, darüber können wir heute, glaube ich, nur ziemlich müssige Hypothesen aufstellen. Nur eines ist sicher: Das siegreiche Proletariat kann keiner fremden Nation irgendwelche Segnungen aufzwingen, ohne dadurch seinen eigenen Sieg zu untergraben. Was freilich Verteidigungskriege verschiedener Art keineswegs ausschliesst.»[27]

Noch wichtiger ist, dass sowohl Marx als auch Engels seit den Tagen der Revolutionen von 1848 bewusst eine dialektische Sicht der Geschichte entwickelten und den Zusammenhang zwischen revolutionärem Potenzial, Arbeiteraristokratie und schwachen Gliedern in Europa untersuchten. Dies zeigt sich in ihrer Arbeit mit dem Kommunistischen Bund, für den das Kommunistische Manifest geschrieben wurde.

Wie sich Engels erinnerte, bestand der Bund zumeist aus deutschen Gastarbeitern und Handwerkern, insbesondere aus männlichen Schneidern.[28] Diese Gastarbeiter waren überall und Engels dokumentierte, dass Deutsch «so sehr die vorherrschende Sprache in diesem Gewerbe» in Paris war. Trotz der Zunfttradition und der einflussreichen Aussicht, ein Meister zu werden, entwickelten sich unter diesen Arbeitern allmählich kommunistische Ideen. Es war die Organisation dieser und anderer Arbeiter, die die erste deutsche kommunistische Arbeiterbewegung sowie «die erste internationale Arbeiterbewegung aller Zeiten» ins Leben rief.

Die von Engels aufgezeichnete Geschichte des Kommunistischen Bundes ist besonders nützlich. Trotz der Aktivitäten in London stützte sich der Bund nicht auf englische Arbeiter, Arbeiterinnen oder Gewerkschaften. Es war nicht England, das erste und am weitesten entwickelte industrielle kapitalistische Land, das die kommunistische Arbeiterbewegung hervorbrachte. Vielmehr lag das Epizentrum der kommunistischen Weltrevolution im noch nicht vereinigten Deutschland, «einem Land des Handwerks und der auf Handarbeit beruhenden Hausindustrie».[29] Im Kommunistischen Manifest erklärten Marx und Engels, dass die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit auf Deutschland richten, «weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht und weil es diese Umwälzung unter fortgeschrittneren Bedingungen der europäischen Zivilisation überhaupt und mit einem viel weiter entwickelten Proletariat vollbringt als England im 17. und Frankreich im 18. Jahrhundert, die deutsche bürgerliche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann..» [MEW 4, 493]

Die englische Arbeiterklasse trat trotz ihrer fortgeschrittenen materiellen Bedingungen und einer langen Geschichte von Kämpfen nicht als führende Kraft in der späteren internationalen Arbeiterbewegung auf. In seinem Brief von 1870 stellte Marx fest, dass das revolutionäre Potenzial der englischen Arbeiterklasse durch die Existenz britischer Peripherien wie Irland und das koloniale Bündnis zwischen englischen Arbeitern und Kapitalisten stark eingeschränkt war. In Marx‘ Worten: «Der gewöhnliche englische Arbeiter hasst den irischen Arbeiter als einen Konkurrenten, der seinen Lebensstandard senkt. In Bezug auf den irischen Arbeiter sieht er sich als Mitglied der herrschenden Nation…. Dieser Antagonismus ist das Geheimnis der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse, trotz ihrer Organisation. Es ist das Geheimnis, durch das die Kapitalistenklasse ihre Macht aufrechterhält. Und letztere ist sich dessen durchaus bewusst.»[30]

War die Identifikation mit der herrschenden Nation anfangs eher ein Vorurteil, so erhielt sie später eine viel solidere materielle Grundlage, als mit dem Imperialismus eine Arbeiteraristokratie zu entstehen begann. Der lange Wohlstand, die Akzeptanz der Gewerkschaften, die Verbesserung der Reallöhne und Arbeitsbedingungen sowie die Ausweitung des Wahlrechts stärkten das politische Bündnis zwischen der Bourgeoisie und den etablierten Gewerkschaften und Aktivisten. Zunehmend teilten die Arbeiter und Arbeiterinnen in den imperialistischen Nationen einen Teil der Früchte der imperialistischen Superprofite als Ergebnis des Mehrwerttransfers aus der Dritten Welt.

Als Engels das Vorwort für die 1892 erschienene Ausgabe von Die Lage der arbeitenden Klasse in England schrieb, erkannte er Veränderungen bei zwei Teilen der Arbeiterklasse – Fabrikarbeitern und -arbeiterinnen und Gewerkschaftsmitgliedern – seit der Erstveröffentlichung des Buches im Jahr 1845 an.[31] Er erklärte ihre konservative Politik so: «Sie bilden eine Aristokratie in der Arbeiterklasse; sie haben es fertiggebracht, sich eine verhältnismäßig komfortable Lage zu erzwingen, und diese Lage akzeptieren sie als endgültig.» Genau aus diesem Grund lehnte Engels in seinem Brief an August Bebel 1883 die Möglichkeiten der revolutionären Bewegung in Grossbritannien entschieden ab. «Lassen Sie sich auf keinen Fall der Illusion hingeben, dass hier eine echte proletarische Bewegung im Gange ist», warnte er Bebel. «Eine wirklich allgemeine Arbeiterbewegung wird hier erst dann entstehen, wenn die Arbeiter die Tatsache zu spüren bekommen, dass das englische Weltmonopol gebrochen ist.»[32] Auch wenn die Vorteile, die die englischen Arbeiter und Arbeiterinnen erhielten, wahrscheinlich erbärmlich gering waren, «war und ist die Teilnahme an der Beherrschung des Weltmarktes die Grundlage der politischen Nichtigkeit der englischen Arbeiter.» So begann die englische Arbeiterklasse sich der Liberalen Partei zu folgen, sich auf Gewerkschaften und Streiks einzulassen sowie humanere Arbeitsbedingungen und das Wahlrecht der Arbeiter zu unterstützen.[33]

Diese wichtigen Erkenntnisse bereiteten bereits den Boden für Lenins Theorien über den Imperialismus und das schwache Glied. Zeit ihres Lebens blickten Marx und Engels auf das weniger entwickelte Deutschland. Lange Zeit vertrat die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), wie Lenin einmal bemerkte, «den revolutionären Standpunkt im Marxismus».[34] Als Deutschland zu einer imperialistischen Grossmacht aufstieg, veränderte sich jedoch auch der deutsche Sozialismus erheblich.

Dies zeigte sich bereits im Aufstieg von Eduard Bernstein und des Revisionismus in der Partei und der Zweiten Internationale. Ausgestattet mit einer Art Fatalismus, der die Revolution mit dem kommenden Zusammenbruch des Kapitalismus gleichsetzte, begnügte sich der SPD-Mainstream unter der Führung von Bebel und Kautsky damit, vor dem grossen Tag der sozialistischen Revolution um Sitze im Reichstag zu konkurrieren.[35] Ausgehend von der Prosperität des deutschen Imperialismus wurden die Gewerkschafter in der Partei zu starken reformistischen Kräften und ihre politische Neutralität setzte sich allmählich durch.[36] Es fehlte auch an marxistischer Bildung in der SPD, und während mehr Menschen für den Sozialismus stimmten, hatten die meisten Parteimitglieder eine andere Vorstellung davon, was Sozialismus sein könnte.[37] Die SPD-Mitglieder um die Jahrhundertwende erlebten eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und lasen hauptsächlich kapitalistische Nachrichten und Reiseberichte, Kriegsgeschichten und ethnographische Exotika aus der deutschen kolonialen Expansion.[38]

Als langjähriger Abgeordneter der SPD im Reichstag repräsentierte Bernstein mit seiner Ansicht zumindest den rechten Flügel der Partei. Bernstein sah den Imperialismus als etwas Neues, parallel zum Kapitalismus und um 1900 als fortschrittlich. Bis 1912 blieb seine Position weitgehend dieselbe: Der Imperialismus war im Grunde fortschrittlich, auch wenn er mit einigen kapitalistischen Interessen verbunden war.[39] Nach Bernsteins Ansicht war der britische Imperialismus demokratisch und daher zustimmungs- und nachahmenswert, während der undemokratische wilhelminische deutsche Imperialismus reaktionär und gefährlich war.[40] Bernstein war es, der für die berüchtigte sozialistische Kolonialpolitik plädierte, die auf dem Zweiten Kongress der Internationalen in Stuttgart 1907 zu einem heiss diskutierten Thema wurde.

Der Stuttgarter Kongress war ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. Lenin lobte die breite Repräsentation des Kongresses: 884 Delegierte aus fünfundzwanzig Nationen und fünf Kontinenten.[41] Obwohl der Kongress «die endgültige Konsolidierung der Zweiten Internationale … markierte, die einen sehr beträchtlichen Einfluss auf die Art und Richtung der sozialistischen Aktivitäten in der ganzen Welt ausübte», kommentierte Lenin das «bemerkenswerte und traurige Merkmal», dass die deutsche Sozialdemokratie eine klare konservative und opportunistische Wende vollzog nahm.»[42]

Die deutschen Delegierten zum Kongress der Zweiten Internationale waren durch ihren Konservatismus und Revisionismus gekennzeichnet. Insgesamt war die opportunistische Kraft unter den westeuropäischen Delegierten stark. Die prokoloniale Gruppe, zu der Van Kol aus Holland, Bernstein und Eduard David aus Deutschland gehörten, dominierte den Ausschuss zum Kolonialismus.[43] Sie brachten die «Mehrheitsresolution» ein, die besagte, dass die Vorteile der Kolonien für die Arbeiterklasse übertrieben seien und dass der Kongress den Kolonialismus nicht grundsätzlich ablehne, da er als zivilisierende Kraft wirken könne.[44] Dieser weitgehende Rückzug von sozialistischen Prinzipien war in Lenins Worten «ungeheuerlich», und wir können Teile dieser Aussagen, in etwas anderer Form, in den von Warren und Brenner entwickelten Thesen wieder auftauchen sehen. Lenin kommentierte, dass der Begriff der sozialistischen Kolonialpolitik (von Bernstein und anderen) «ein heilloses Durcheinander» sei, und erklärte, dass «der Sozialismus sich nie geweigert hat, auch in den Kolonien für Reformen einzutreten; aber das kann nichts damit zu tun haben, unseren prinzipiellen Standpunkt gegen Eroberungen, Unterwerfung anderer Nationen, Gewalt und Plünderung, die die ‚Kolonialpolitik‘ ausmachen, zu schwächen.»[45]

Es überrascht nicht, dass die Position des Landes der Delegierten im kapitalistischen System ihre Stimmen während des Kongresses stark beeinflusste. Die Franzosen, Briten und Italiener waren in der Abstimmung gespalten, während die Deutschen, die der Einstimmigkeitsregel unterlagen, alle für die prokoloniale Resolution stimmten.[46] Es waren die Stimmen aus den nichtkolonialen Ländern, die die «Minderheitsresolution» auf dem Kongress durchsetzten, aber es war in der Tat eine sehr knappe Abstimmung: 127 zu 108.[47]

Der Rechtsruck der SPD und anderer europäischer sozialistischer Parteien setzte sich nach dem Zweiten Kongress der Internationale 1907 fort. Es dauerte nur noch wenige Jahre, bis die führenden Parteien, wie die SPD, die Revolution offen verrieten und beschlossen, den Ersten Weltkrieg zu unterstützen. Die Zweite Internationale und ihre Politik brachen de facto zusammen.

Die englischen Arbeiter und Arbeiterinnen zur Zeit von Marx und die deutschen Arbeiter und Arbeiterinnen zur Zeit von Lenin erwiesen sich als unfähig, eine führende Rolle im Kampf für den Sozialismus zu spielen. Die prokoloniale und proimperialistische Politik hatte die führenden Arbeiterparteien und Gewerkschaften in den imperialistischen Ländern eindeutig fest im Griff. Von Marx und Engels bis Lenin versuchten die Sozialisten und Sozialistinnen stets, das revolutionäre Potenzial gegen den Kapitalismus anzuzapfen. Aus den langen und brutalen Kämpfen gegen den Opportunismus entwickelte sich allmählich die leninistische Einsicht, dass die Revolution und eine neue sozialistische Gesellschaft nicht zuerst aus dem Zentrum des Kapitalismus kommen wird, wo die Arbeiteraristokratie stark ist und die Arbeiterklasse und das Kleinbürgertum aufgrund des Imperialismus eher konservativ sind. Die tatsächlichen sozialistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts gingen vom unterentwickelten Teil Europas (Russland) und allgemeiner vom unterentwickelten Teil der Welt (China und andere Länder der Dritten Welt) aus. In Bezug auf die Produktionskräfte waren die westeuropäischen Länder am weitesten fortgeschritten, aber in Bezug auf die revolutionäre Politik, wie Lenin 1913 brillant zusammenfasste, war Europa rückständig und Asien fortgeschritten. Die Unabhängigkeit und die sozialistischen Revolutionen der Dritten Welt und folglich die Schwächung des Imperialismus würden natürlich als Vorbedingung für sozialistische Revolutionen im imperialistischen Kern dienen. […].

Ist dieses Land nicht auch imperialistisch? Widersprüche im «Neuen Imperialismus»-Narrativ

Die Diskussionen über den Imperialismus verschwanden ab den späten 1970er Jahren weitgehend, sind aber seit Beginn des 21. Jahrhunderts wieder aufgetaucht, insbesondere angesichts der aktuellen Weltwirtschaftskrise. Wichtige Forschungen über den Spätimperialismus oder den Imperialismus der globalen Arbeitsarbitrage unter dem verallgemeinerten Monopolfinanzkapital wurden kürzlich von Samir Amin, John Smith, Utsa Patnaik, Prabhat Patnaik und Intan Suwandi veröffentlicht.[48] Viele einflussreiche Linke, wie Hardt, Negri und Harvey, reproduzieren jedoch in Diskussionen über den «neuen Imperialismus» weiterhin die alte konservative Geopolitik in einer aufgefrischten Verpackung.

So argumentieren Hardt und Negri in ihrem Buch Empire, dass der Imperialismus tatsächlich eine Zwangsjacke für das Kapital schafft und das Kapital sie schliesslich überwinden muss.[49] Dieses Argument ist im Wesentlichen eine aktualisierte Version der Bernstein/Warren/Brenner-These, die besagt, dass der Kapitalismus die Phase des Imperialismus hinter sich gelassen hat. Was an die Stelle des Imperialismus getreten sei, sei das Empire, ein horizontaler, dezentrierter und deterritorialisierender Weltkapitalismus.[50] Wie John Bellamy Foster argumentiert, ist das Buch von Hardt und Negri eine linke Version der Erzählung vom «Ende der Geschichte», die die US-Aussenpolitik in marxistische und postmoderne Begriffe verpackt.[51]

Im Gegensatz zu Warren stützten Hardt und Negri ihre Schlussfolgerungen nicht auf empirische Beweise. In einem Teil des Buches lehnten sie die Imperialismustheorie ab, indem sie die Debatte zwischen Lenin und Kautsky in den 1910er Jahren neu interpretierten und irreführenderweise behaupteten, dass Kautskys Ultraimperialismusthese mehr mit Marx‘ Werk übereinstimme. Sie behaupteten auch, dass Lenin grundsätzlich mit Kautsky analytisch über die Tendenz des Ultraimperialismus übereinstimmte, obwohl er zu einer anderen Schlussfolgerung darüber kam, was die revolutionäre Antwort sein sollte. Für Hardt und Negri bestand die wirkliche, in Lenins Werk implizierte Wahl zwischen globaler kommunistischer Revolution oder Empire (ein neuer Name für Ultraimperialismus).[52]

Wenn Lenin tatsächlich mit der Zukunft eines stabilen Weltkapitalismus einverstanden war, dann erscheinen die nachfolgenden Revolutionen als verzweifelte Aktionen, um die Realisierung des Ultraimperialismus zu verhindern. Als Lenin das Vorwort zu Nikolai Bucharins Imperialismus und Weltwirtschaft von 1915 schrieb, hatte er seine entscheidendsten Schriften zum Imperialismus noch nicht beendet. Daher kritisierte Lenin vor allem die opportunistischen Implikationen von Kautskys Ultraimperialismus.[53] Er widersprach zwar nicht ausdrücklich der Theorie einer neuen Phase des Kapitalismus nach dem Imperialismus, aber Lenin wies darauf hin, dass eine solche Vision in der Praxis eine Abkehr von den Problemen der Gegenwart bedeutete. Als er 1916 Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus, schrieb, verneinte Lenin eindeutig die Möglichkeit einer ultraimperialistischen Zukunft, da die Ungleichmässigkeit der kapitalistischen Entwicklung und die wechselnde relative Stärke jede stabile Koalition, Allianz oder ein Imperium verbieten.[54]

Harvey und andere haben eine schwächere Version der Bernstein/Warren/Brenner-These aufgestellt. Nämlich, dass es zwar immer noch Imperialismus und Mehrwerttransfer von der Peripherie zum Zentrum gibt, aber entweder rekrutiert das Zentrum ständig neue Mitglieder, oder das Verhältnis von Zentrum und Peripherie kann dank der kapitalistischen Entwicklung umgekehrt werden. Harvey glaubt zum Beispiel, dass der Abfluss von Nettoreichtum vom Osten in den Westen in den letzten Jahrzehnten weitgehend umgekehrt wurde.[55] Auf der Grundlage seiner eigenen Arbeit über Superausbeutung und Imperialismus legte Smith eine starke Kritik an Harveys Leugnung des Imperialismus vor.[56] In seiner Antwort behauptete Harvey, dass die traditionelle (starre und unbewegliche) Marxsche Imperialismustheorie unzureichend sei, um die Komplexität des Kapitalismus zu verstehen.[57] Harveys vorgeschlagene Methode behandelt jedoch grundsätzlich Handelsüberschüsse oder schnelleres Wachstum des Bruttoinlandsprodukts als Beweis für Imperialismus. Dies ist ziemlich oberflächlich und reduktiv, da sich Imperialismus nicht auf schnelles Wachstum oder Exportgewinne bezieht, sondern auf die Beziehung zwischen dem Zentrum und dem Rest der Welt. Bekanntlich können Kolonien oder Peripherien zeitweise enorme Überschüsse aus dem Handel haben, wie z.B. Jamaika aufgrund der Sklaverei. Was die Wachstumsraten des Einkommens angeht, so hatten Länder wie Polen und Chile zwischen 1850 und 1900 eine Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf von etwa 2 Prozent, was fast 100 Prozent höher war als die britische oder französische Wachstumsrate in dieser frühen imperialistischen Phase.[58]

Harvey definiert Imperialismus als eine widersprüchliche Verschmelzung eines territorialen politischen Projekts und der Expansion des Kapitalismus durch Raum und Zeit. Der erste Teil bezieht sich auf eine abstrakte und ahistorische territoriale Logik, während der zweite eine diffusionistische Sicht des Kapitalismus impliziert. Ohne jegliche Erwähnung der Zentrum-Peripherie-Beziehung oder des Transfers von Mehrwert läuft der flache, fluide Kapitalismus in Harveys Verständnis dessen, was er den Neuen Imperialismus nennt, praktisch auf dasselbe hinaus wie das von Warren, Brenner und den Theoretikern der Zweiten Internationale verfochtene Konzept. [59] Gerade wegen dieses Ausgangspunkts ist es für Harvey ein Leichtes, jede geographische Veränderung der industriellen Aktivitäten als das sich verändernde Zentrum des Imperialismus zu behandeln. Zum Beispiel spricht Harvey jetzt von Ostasien als einer aufsteigenden imperialistischen Kraft, aber, wie Smith hervorhebt, sprach Harvey schon in früheren Schriften von der Machtverschiebung zu den sogenannten Schwellenländern wie Indien, Ägypten und Ungarn.[60]

Viele dieser Diskussionen (einschliesslich der von Harvey) beziehen sich explizit oder implizit auf China als eine aufstrebende imperialistische Macht, die in einigen Darstellungen sogar mit den Vereinigten Staaten rivalisiert. Es ist unter Konservativen und Liberalen zu einer Art überparteilicher Mode geworden, sich gegen das sogenannte imperialistische China zu stellen. Interessanterweise betont auch das US-Aussenministerium in seinen offiziellen Stellungnahmen den Imperialismus Chinas.[61] Der eigentümliche Konsens ist selbst ein Ergebnis der Verwirrung und Verzerrung in der Imperialismusfrage seit den 1970er Jahren.

Lassen Sie uns den Fall China genauer untersuchen. Imperialismus beinhaltet letztlich einen Transfer von Mehrwert aus der Peripherie in das imperialistische Zentrum. Trotz seines schnellen Wachstums ist China nicht in der Lage gewesen, solche Profite zu erzielen. In einer umfassenden Studie weist Minqi Li darauf hin, dass China zwar eine ausbeuterische Beziehung zu einigen Rohstoffexporteuren entwickelt hat, insgesamt aber weiterhin eine grössere Menge an Mehrwert an die Kernländer im kapitalistischen Weltsystem transferiert, als es von der Peripherie erhält.[62] China lässt sich am besten als ein halbperipheres Land im kapitalistischen Weltsystem beschreiben.

Als ein halbperipheres Land spielt China in Bezug auf das imperialistische Zentrum meist eine ergänzende, statt eine konkurrierende Rolle. In Bezug auf die Exporte konkurriert China hauptsächlich mit Ländern mit niedrigerem Einkommen. Arbeiter und Arbeiterinnen in China verdienen viel weniger als ihre US-Kollegen mit ähnlichen Qualifikationen, obwohl sich der Unterschied verringert hat. Basierend auf der World Input-Output Database zeigten Suwandi, R. Jamil Jonna und Foster, dass die chinesischen Lohnstückkosten zwischen 1995 und 2014 bei etwa 40 Prozent der US-Lohnstückkosten blieben, trotz eines leichten Anstiegs in den letzten Jahren.[63] Dieser Unterschied diente als Grundlage für die globale Arbeitsarbitrage und den ungleichen Austausch.

Wir können auch einen Blick auf Chinas Kapitalexport ins Ausland werfen. Chinas Abfluss ausländischer Direktinvestitionen als Prozentsatz der Bruttokapitalbildung lag 2019 bei 1,9 Prozent, während der Weltdurchschnitt bei 6 Prozent lag.[64] Der Grossteil dieser Investitionen ging nach Hongkong und in einige Steueroasen, entweder als Kapitalflucht oder umverpackt als ausländisches Kapital, um wieder nach Festlandchina zu gelangen. Während China im Laufe der Jahre enorme Vermögenswerte im Ausland angehäuft hat, sind 2018 fast die Hälfte davon Währungsreserven, die im Wesentlichen Chinas informellen Tribut an den US-Imperialismus darstellen, indem es für dessen «Seigniorage-Privileg» bezahlt.[65]

Einige könnten argumentieren, dass China zwar jetzt nicht imperialistisch sei, aber es könnte sich dazu entwickeln. Diese Ansicht könnte zu zuversichtlich sein, was die Fähigkeit des Imperialismus angeht, eine so grosse Bevölkerung in seinem Zentrum zu absorbieren. Wie Li anmerkt, bedeutet ein hypothetischer chinesischer Imperialismus einen dramatischen Anstieg des Mehrwerttransfers aus der Peripherie, der sowohl ökonomisch als auch ökologisch kaum möglich sein dürfte.[66]

Die chinesischen Eliten sind sich grösstenteils selbst bewusst, dass sie von der gegenwärtigen Arbeitsteilung in der Weltwirtschaft immens profitiert haben, und haben ein starkes Verlangen, den Status quo zu erhalten.[67] Dieser Konsens unter den chinesischen Eliten macht sie oft eifriger als viele andere dafür stark, die US-geführte Weltordnung zu verteidigen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zwei der neueren Versionen der Bernstein/Warren/Brenner-These – populär gemacht von Hardt, Negri und Harvey – nicht in der Lage sind, ein besseres Verständnis des Weltkapitalismus zu liefern. Mit diesen Theorien verschmelzen antiimperialistische Kämpfe zu interimperialistischen Rivalitäten. Noch wichtiger ist, dass sie eine Wiederbelebung der Politik der Zweiten Internationale signalisieren, die seit dem 19. Jahrhundert die Wurzel des linken und sozialdemokratischen Denkens ist.

Die Zweite Internationale schlägt zurück

Die Behauptung, dass einige Länder nicht imperialistisch sind, ist nicht unbedingt eine Verteidigung des Status quo oder der sozialen Beziehungen dieser Länder. Es ist die Behauptung, dass Mehrtransfer und imperialistische Ausbeutung die Widersprüche in diesen nichtimperialistischen Ländern vertiefen. Selbst die Erfüllung der Grundbedürfnisse von Gesundheit und Bildung für die arbeitende Bevölkerung würde einen sozialistischen Durchbruch erfordern. Bestimmte Länder der Dritten Welt – vor allem solche mit schwächeren und inkompetenteren herrschenden Klassen sowie solche mit einem starken revolutionären Erbe – könnten das potenzielle schwache Glied im gegenwärtigen imperialistischen System darstellen. An diesen Orten sind die Kämpfe der Menschen gegen den US-Imperialismus real und potenziell revolutionär.

Wenn einige Linke die marxistische Theorie des Imperialismus leugnen oder aufgeben, wird der Kapitalismus zu einem lebendigen, sich entwickelnden System ohne Ende, statt zu einem System des Verfalls und Parasitismus. So werden sie oft unfähig, das revolutionäre Potenzial in einem Grossteil der Welt zu sehen. Da der Kapitalismus unbesiegbar zu sein scheint und Sozialismus und Kommunismus völlig ausser Reichweite zu sein scheinen, ist es nicht überraschend, dass die Politik der Zweiten Internationale in diese allgemeine Atmosphäre der Desillusionierung eindringt.

Die zeitgenössische Politik der Zweiten Internationale beinhaltet zwei komplementäre Denkrichtungen. Erstens wird angesichts der Langlebigkeit des Kapitalismus argumentiert, dass das beste Szenario für die Welt ein besserer Kapitalismus ist. Hier bezieht sich «besser» oft auf Massnahmen wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Mehrparteien-Wahlsysteme, sicheres Privateigentum und andere Merkmale der bürgerlichen Gesellschaft, die im imperialistischen Zentrum oft beobachtet werden. Wenn Fortschritt (wieder) als Verbreitung und Nachahmung des US-amerikanischen oder westeuropäischen Kapitalismus definiert wird, verbünden sich die «Progressiven» sehr schnell mit den imperialistischen Regierungen bei ihren Angriffen gegen die Länder in der Peripherie oder Semiperipherie. Während die Theoretiker der Zweiten Internationale nicht prinzipiell gegen Kolonialismus und Imperialismus waren, sind die heutigen Liberalen nicht prinzipiell gegen Sanktionen und Regimewechseloperationen in der Dritten Welt. Für viele dieser Autoren und Autorinnen, die oft behaupten, Marxisten zu sein, geht es nicht in erster Linie darum, den Kapitalismus zu stürzen, sondern den sogenannten autoritären Kapitalismus loszuwerden, ein neuerer Begriff für die «unzivilisierte» Gesellschaft.

Die zweite Linie in der zeitgenössischen Politik der Zweiten Internationale konzentriert sich auf die Frage des Imperialismus. Wenn einige Autoren und Autorinnen China ohne weiteres zum imperialistischen Zentrum zählen, sieht der Imperialismus als eine Phase des Kapitalismus sicherlich wie ein nie endender Alptraum aus. Da es keine wirkliche Alternative gibt, ist es sinnvoll, eine bessere Version des Alptraums zu wählen. Genau wie Bernstein, der dafür plädierte, zwischen gutem und schlechtem Imperialismus zu unterscheiden, plädieren auch zeitgenössische Autoren wie Harvey für einen reformierten, besseren Imperialismus.

Harvey argumentierte, dass es zwar radikalere Lösungen gibt, dass es aber vorläufig ausreicht für den Aufbau eines neuen New Deal unter der Führung der USA und Europas, sowohl innenpolitisch als auch international, zu kämpfen. In dieser Hinsicht ging er so weit, einen «wohlwollenderen ‚New Deal‘-Imperialismus zu rechtfertigen, der vorzugsweise durch die Art von Koalition kapitalistischer Mächte zustande kommt, die Kautsky vor langer Zeit ins Auge fasste».[68] Für Harvey wäre dieser New-Deal-Imperialismus angeblich gutartiger als der schlechte Imperialismus, den die Neokonservativen anbieten.

Harveys Konservatismus hat seitdem immer weiter zugenommen, und es ist kein Zufall, dass er Ende 2019 in einem Interview eine besonders reaktionäre Ansicht äusserte. In dem Interview argumentiert er, dass das Kapital zu gross sei, um zu scheitern, und erklärt, dass:

«Wir können uns keine Situation vorstellen, in der wir den Kapitalfluss abschalten, denn wenn wir den Kapitalfluss abschalten, würden 80 Prozent der Weltbevölkerung sofort verhungern, sie würden immobil werden, sie wären nicht in der Lage, sich auf sehr effektive Weise zu reproduzieren. Wir können uns also keinen anhaltenden Angriff auf die Kapitalakkumulation leisten. Also ist die Art von Fantasie, die man vielleicht die man vielleicht um 1850 haben konnte – Sozialisten oder Kommunisten und Andere –, nämlich dass wir dieses kapitalistische System zerstören und etwas völlig anderes aufbauen können, im Moment ein Ding der Unmöglichkeit.»[69]

Mit dieser Art des Denkens, das unter Liberalen und vielen Linken vorherrscht, wird jeder mögliche innerstaatliche Widerstand gegen den imperialistischen US-Staat herabgemindert. Dies wirft ein besonderes Licht auf die andauernden Konflikte zwischen den Vereinigten Staaten und China. Das Bild eines aufstrebenden Chinas, eines imperialistischen (und doch nicht ganz zivilisierten) Chinas, spricht interessanterweise unterschiedliche Gruppen sowohl in China als auch in den Vereinigten Staaten an. Seit Jahren prahlen die nationalistischen Medien in China mit einem mächtigen China, um die Militanz der arbeitenden Bevölkerung zu bremsen. Chinesische Linke stehen solchen nationalistischen Behauptungen meist sehr kritisch gegenüber. Zur gleichen Zeit haben der US-Mainstream und der rechte Flügel ihre Argumente erfolgreich auf der Grundlage der Propaganda eines imperialistischen Chinas gemacht. Unter Ausnutzung von tief verwurzeltem Rassismus und antikommunistischer Geschichte dient sie dem Ziel, China zum Sündenbock zu machen und die US-Arbeiterklasse zu korrumpieren. Sogar einige linke Beobachter haben unkritisch behauptet, dass China jetzt zum Feind Nummer eins der globalen Arbeiterklasse geworden sei. Wir sehen die Bildung einer heiligen Allianz in den imperialistischen Vereinigten Staaten, die von der reaktionären Politik der Zweiten Internationale beherrscht wird.

Prabhat Patnaik warnte, dass der Rückzug von Analysen des Imperialismus nur die Stärkung des rechten Flügels in den Kernländern und im Globalen Süden bedeuten würde, was dazu beitragen würde, rassistische, fundamentalistische und fremdenfeindliche Bewegungen hervorzubringen. Diese tiefgreifenden Einsichten sind zunehmend relevant, während wir uns in die 2020er Jahre bewegen.

Die (westliche) Linke im imperialistischen Zentrum befindet sich in einem historischen Moment.[70] Ohne eine Rückbesinnung auf die antiimperialistische Tradition und ohne eine sorgfältige Analyse des in der neoliberalen Ära entwickelten Imperialismus ist es wahrscheinlich, dass sich die Linke in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten weiter von ihrer revolutionären Vergangenheit zurückziehen wird. Ob wir der Zweiten Internationale oder den Traditionen des späten Marx, Lenin und Mao folgen sollen, ist eine lebenswichtige Frage für uns alle.

Anmerkungen

1) Prabhat Patnaik, „Whatever Happened to Imperialism?„, Monthly Review 42, Nr. 6 (November 1990): 1-7.

2) Paul Baran, The Political Economy of Growth (New York: Monthly Review Press, 1957); Andre Gunder Frank, The Development of Underdevelopment (New York: Monthly Review Press, 1966); Harry Magdoff, The Age of Imperialism (New York: Monthly Review Press, 1969); Arghiri Emmanuel, Unequal Exchange (New York: Monthly Review Press, 1972); Samir Amin, Accumulation on a World Scale (New York: Monthly Review Press, 1974); Immanuel Wallerstein, The Capitalist World Economy (New York: Cambridge University Press, 1979); Walter Rodney, How Europe Underdeveloped Africa (Washington DC: Howard University Press, 1981).

3) Patnaik, „Whatever Happened to Imperialism?“

4) Bill Warren, „Imperialism and Capitalist Industrialization“, New Left Review 81 (1973).

5) Arghiri Emmanuel, „Myths of Development Versus Myths of Underdevelopment“, New Left Review 85 (1974): 61-82.

6) Philip McMichael, James Petras und Robert Rhodes, „Imperialism and the Contradictions of Development“, New Left Review 85 (1974): 83-104.

7) David Slater, „On Development Theory and the Warren Thesis: Arguments Against the Predominance of Economism“, Environment and Planning D: Society and Space 5, no. 3 (1987): 263-82.

8) Robert Brenner, „The Origins of Capitalist Development: A Critique of Neo-Smithian Marxism“, New Left Review 104 (1977).

9) Paul Sweezy und Maurice Dobb, „The Transition from Feudalism to Capitalism“, Science and Society 14, Nr. 2 (1950): 134-67.

10) Paul Sweezy, „Comments on Professor HK Takahashi’s ‘Transition from Feudalism to Capitalism,’” Science and Society 17, Nr. 2 (1953): 158-64.

11) Rodney Hilton, „The Transition from Feudalism to Capitalism“, Science and Society 17, Nr. 4 (1953): 340-48.

12) Louis Proyect argumentiert, dass Brenner lose mit dem analytischen Marxismus verbunden war. Siehe die sehr hilfreiche Diskussion über die Brenner-These und ihren politischen Kontext auf seiner Webseite, verfügbar unter columbia.edu.

13) Paul Sweezy, „Comment on Brenner“, New Left Review 108 (1978): 94-95.

14) James Blaut, „Robert Brenner in the Tunnel of Time“, Antipode 26, no. 4 (1994): 351-74.

15) Robert Denemark und Kenneth Thomas, „The Brenner-Wallerstein Debate“, International Studies Quarterly 32, Nr. 1 (1988): 47-65.

16) Blaut, „Robert Brenner in the Tunnel of Time“.

17) Kenneth Pomeranz, „The Great Divergence: China, Europe, and the Making of the Modern World Economy (Princeton: Princeton University Press, 2000).

18) Siehe zum Beispiel Robert Brenner, „Agrarian Class Structure and Economic Development in Pre-Industrial Europe“, Past and Present 70, no. 1 (1976): 30-75. Diese Art der Argumentation ist nicht einzigartig unter rassistischen und eurozentrischen Schriften. Siehe zum Beispiel Quamrul Ashraf und Oded Galor, „The ‚Out of Africa‘ Hypothesis, Human Genetic Diversity, and Comparative Economic Development“, American Economic Review 103, Nr. 1 (2013): 1-46. Sie folgt der exakten Formel, nur dass sie den Klassenkampf durch genetische Vielfalt ersetzt. Zu viel Vielfalt (Afrikaner) bedeutet weniger Vertrauen, aber zu wenig Vielfalt (Ureinwohner) bedeutet weniger Innovation. Nur Eurasier mit dem richtigen Mass an genetischer Vielfalt, so das Argument, haben es geschafft, die Welt zu führen.

19) Blaut, „Robert Brenner in the Tunnel of Time“.

20) Denemark und Thomas, „The Brenner-Wallerstein Debate“.

21) Slater, „On Development Theory and the Warren Thesis“.

22) Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4,466.

23) Karl Marx, „Die britische Herrschaft in Indien“, in Marx-Engels Werke, Bd. 12 (1853; repr. New York: International Publishers, 1979), 125-33.

24) I. Lenin, „Opportunism and the Collapse of the Second International“, in: Lenin Collected Works, Bd. 22 (1916; repr. Moskau: Progress Publishers, 1964), 108-20.

25) Kevin Anderson, Marx at the Margins: On Nationalism, Ethnicity, and Non-Western Societies (Chicago: University of Chicago Press, 2010). Zu den Denkern, die die gleiche These wie Anderson vertreten haben, siehe: Horace B. Davis, Nationalism and Socialism (New York: Monthly Review Press, 1967), 59-73; Earl Ofari, „Marxism, Nationalism, and Black Liberation,“ Monthly Review 22, no. 10 (March 1971): 18-34; Kenzo Mohri, „Marx and ‚Underdevelopment‘,“ Monthly Review 30, no. 11 (April 1979): 32-42; Suniti Kumar Ghosh, „Marx on India,“ Monthly Review 35, Nr. 8 (Januar 1984): 39-53; John Bellamy Foster, „Marx and Internationalism,“ Monthly Review 52, no. 3 (Juli-August 2000): 11-22.

26) Karl Marx, „Marx to Vera Zasulich“, in Marx-Engels Collected Works, Bd. 46 (New York: International Publishers, 1992), 71.

27) Friedrich Engels, „Engels to Karl Kautsky,” in Marx-Engels Collected Works, vol. 46, 320-23.

28) Frederick Engels, „On the History of the Communist League” in Marx-Engels Collected Works, vol. 26 (New York: International Publishers, 1990), 312-30.

29) Engels, “ On the History of the Communist League“.

30) Karl Marx, “ K. Marx to Sigfrid Meyer and August Vogt,” in Marx-Engels Collected Works, vol. 43 (New York: International Publishers, 1988), 471-76.

31) Friedrich Engels, Vorwort zu The Condition of the Working-Class in England, englische Ausgabe 1892, in: Marx-Engels Collected Works, Bd. 27 (New York: International Publishers, 1990), 257-69.

32) Friedrich Engels, „Engels to August Bebel“, in: Marx-Engels Collected Works, Bd. 47 (New York: International Publishers, 1995), 52-55.

33) Engels, „Engels to August Bebel“.

34) I. Lenin, „The International Socialist Congress in Stuttgar“, in: Lenin Collected Works, Bd. 13 (Moskau: Progress Publishers, 1972), 82-93.

35) Roger Fletcher, Revisionism and Empire: Socialist Imperialism in Germany 1897-1914 (London: George Allen & Unwin, 1984), 14.

36) Carl Schorske, Carl Schorske, German Social Democracy, 1905–1917: The Development of the Great Schism (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1983), 15, 26-27.

37) Fletcher, Revisionism and Empire, 28.

38) Fletcher, Revisionism and Empire, 30-34; John Short, „Everyman’s Colonial Library: Imperialism and Working-Class Readers in Leipzig, 1890-1914“, German History 21, no. 4 (2003): 445-75.

39) Fletcher, Revisionism and Empire, 155.

40) Fletcher, Revisionism and Empire, 157.

41) Lenin, “ The International Socialist Congress in Stuttgart“.

42) Lenin, “ The International Socialist Congress in Stuttgart“.

43) Lenin, “ The International Socialist Congress in Stuttgart „; Schorske, German Social Democracy, 84.

44) Schorske, German Social Democracy, 84.

45) Lenin, “ The International Socialist Congress in Stuttgart „.

46) Schorske, German Social Democracy, 85.

47) Schorske, German Social Democracy, 84-85.

48) Samir Amin, Modern Imperialism, Monopoly Finance Capital, and Marx’s Law of Value (New York: Monthly Review Press, 2018); Utsa Patnaik und Prabhat Patnaik, A Theory of Imperialism (New York: Columbia University Press, 2016); John Smith, Imperialism in the Twenty-First Century (New York: Monthly Review Press, 2016); Intan Suwandi, Value Chains: The New Economic Imperialism (New York: Monthly Review Press, 2019).

49) Antonio Negri und Michael Hardt, Empire (Cambridge: Harvard University Press, 2000), 243.

50) Hardt und Negri, Empire, xii.

51) John Bellamy Foster, „Late Imperialism: Fifty Years After Harry Magdoff’s The Age of Imperialism„, Monthly Review 71, no. 3 (Juli-August 2019): 1-19.

52) Hardt und Negri, Empire, 230, 461.

53) I. Lenin, Vorwort zu Nikolai Bucharins Imperialismus und Weltwirtschaft, in: Lenins Gesammelte Werke, Bd. 22, 103f.

54) I. Lenin, Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus, in: Lenins Gesammelte Werke, Bd. 22, 185-304.

55) David Harvey, „Realities on the Ground: David Harvey Replies to John Smith„, Review of African Political Economy, 5. Februar 2018.

56) Smith, Imperialism in the Twenty-First Century; John Smith, “ David Harvey Denies Imperialism,“ Review of African Political Economy, 10. Januar 2018.

57) Harvey, „Realities on the Ground“.

58) Berechnet auf Basis der Datenbank des Maddison Project. Siehe Jutta Bolt, Robert Inklaar, Herman de Jong, und Jan Luiten van Zanden, “ Rebasing ‘Maddison’: New Income Comparisons and the Shape of Long-Run Economic Development“ (Groningen Growth and Development Centre Research Memorandum 174, University of Groningen, Januar 2018).

59) David Harvey, The New Imperialism (New York: Oxford University Press, 2003), 26.

60) Smith, “ David Harvey Denies Imperialism“.

61) siehe zum Beispiel „Secretary Michael R. Pompeo at a Press Availability“, U.S. Department of State, 15. Juli 2020.

62) Minqi Li, „China: Imperialism or Semi-Periphery?“ (Arbeitspapier, Department of Economics, University of Utah, 2020).

63) Intan Suwandi, R. Jamil Jonna, und John Bellamy Foster. “ Global Commodity Chains and the New Imperialism„, Monthly Review 70, no. 10 (2019): 1-24.

64) basierend auf dem World Investment Report 2020, der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung, unctad.org.

65) Li, „China“.

66) Li, „China“.

67) So hat sich China in den letzten Jahren zu einem führenden Verfechter der Globalisierung entwickelt. Der chinesische Staat predigt den Vereinigten Staaten manchmal sogar die Vorteile der gegenwärtigen Welt unter der Führung der USA. Siehe zum Beispiel 乐玉成,人民日报人民要论:牢牢把握中美关系发展的正确方向, People’s Daily, 7. September 2020.

68) Harvey, The New Imperialism, 209-11.

69) David Harvey, “ Anti-Capitalist Chronicles: Global Unrest„, Democracy at Work, 19. Dezember 2019.

70) Die Sozialisten und Sozialistinnen in der Peripherie und Semiperipherie stehen ebenfalls vor ernsthaften Herausforderungen, die eine separate Diskussion verdienen.

#Beitragsbild: Stuttgarter Kongress der Zweiten Internationale, 1907.

Quelle: monthlyreview.org… vom 28. März 2021; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch mit einigen kleinen Kürzungen

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