Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte, Kampagnen

1. Mai 2021 in Paris: gewerkschaftliche Mobilisierung und eine Attacke

Eingereicht on 3. Mai 2021 – 16:01

Die soziale Mobilisierung in Frankreich meldet sich zumindest zum diesjährigen 1. Mai zurück. Herrschte in den vergangenen Monaten im Schatten der Corona-Krise – auf deren allgemeine Auswirkungen in Frankreich wir in Kürze zurückkommen werden – weitgehend Flaute bei den Sozialprotesten, abgesehen von den Besetzungen von Kultureinrichtungen durch wirtschaftlich bedrohte Kulturschaffende, so gingen zum diesjährigen 1. Mai wieder Menschen in größerer Anzahl auf die Straße.

Laut Regierungsangaben nahmen insgesamt, frankreichweit (an 320 Orten) „106.650“ Menschen an gewerkschaftlich unterstützten Maidemonstrationen teil, laut Zahlen des mitgliederstärksten Gewerkschaftsdachverbands – d.i. die CGT – waren es „170.000“. Bezogen auf die Hauptstadt Paris sprach die CGT von „25.000“ und das Innenministerium von „17.000“ Demonstrierenden. Dies liegt wohl im durchschnittlichen Bereich, verglichen im Mittel der vergangenen rund zehn Jahre (abgesehen natürlich von 2020, in jenem Jahr waren Versammlungen ab 100 Personen im Zusammenhang mit der Pandemiesituation verboten). (Vgl. https://www.lepoint.fr/societe/journee-internationale-des-travailleurs-un-1er-mai-sous-le-signe-du-covid-01-05-2021-2424439_23.php)

Ein zentrales, alle Sektoren verbindendes Thema zeichnete sich nicht ab, vielmehr handelte es sich um einen Neubeginn sozialer Protestmobilisierung nach einer mehrmonatigen faktischen Totalpause – abgesehen von lokalen Situationen wie einem Konflikt mit „Bossnapping“-Aktion in einem Werk von Renault in der Bretagne vergangene Woche (wir werden darauf zurückkommen). In dieser Zeit wurden frankreichweit seit dem Pandemiefrühling von 2020 insgesamt 550 „Sozialpläne“, also kollektive betriebsbedingte Entlassungen, verzeichnet.

Als wichtiges sozialpolitisches Thema kündigt sich für die kommenden Woche die regressive „Reform“ der Arbeitslosenversicherung an. Diese war durch das Regierungslager 2019 aufgelegt worden (vgl. https://rdl.de/beitrag/macron-will-arbeitslosenversicherung-auf-dem-r-cken-der-erwerbslosen-refomieren) und sollte im darauffolgenden Jahr in Kraft treten, wurde jedoch 2020 aufgrund der Pandemiesituation verschoben; manche hatten bereits mit ihrer stillschweigenden Beerdigung jedenfalls für die laufende Legislaturperiode (Frühsommer 2017 bis Frühjahr 2022) gerechnet, ähnlich jener, die der Anfang 2020 umkämpften Renten„reform“ widerfuhr, die erst nach der nächstjährigen Präsidentschafts- und Parlamentswahl ausgegraben werden dürfte.  Nun soll jedoch die regressive „Reform“ der Arbeitslosenversicherung, leicht abgespeckt, doch zum 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten. (Vgl. https://www.vie-publique.fr/en-bref/279608-assurance-chomage-de-nouvelles-regles-au-1er-juillet-2021)

Zu hässlichen Szenen kam es insbesondere am Abschluss der Demonstration, um kurz vor 19 Uhr auf der place de la Nation. Zunächst war es gegen 16 Uhr auf halber Wegstrecke, im elften Pariser Bezirk auf der Höhe der Kirche Saint-Ambroise und der gleichnamigen Métro-Station, zu zeitweiligen heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Die Polizei hatte offenkundig die Anordnung, es an diesem Tag grundsätzlich nicht zur Formierung eines „Spitzenblocks“ (cortège de tête) kommen zu lassen. Unter dieser Bezeichnung nehmen seit den Auseinandersetzungen um die Arbeitsrechts„reform“ im Frühjahr und Frühsommer 2016 mitunter Tausende Menschen an den Protestzügen teil, indem sie sich vor den offiziellen Demonstrationsbeginn – also vor den Prominentenblock der Gewerkschaften – stellen und dort laufen. Dieses Phänomen ist nicht einheitlich geprägt und die Zusammensetzung heterogen, man findet jüngere und radikaler Gewerkschafter/innen, linksradikale Gruppen, aber mitunter auch politische Abenteurer und hooligan-ähnlich agierende Gruppierungen, die ihren Erfolg an der Höhe des Glasschadens messen. Während der 1. Mai-Demonstrationen 2018 und 2019 kam es bereits dazu, dass im objektiven Zusammenspiel von Vermummtenfraktion und Polizeiapparat die Demonstrationen teils stundenlang blockiert und/oder auseinandergerissen wurde.

An diesem Samstag, den 01.05.21 griff die Polizei frühzeitig durch Spalier und Tränengaseinsatz ein, um jegliche Herausbildung eines solchen „Kopfblocks“ zu verhindern. Dies heizte die Teilnehmewilligen, darunter auch die Unvernünftigeren unter ihnen, zusätzlich auf. Kurz darauf brannte eine Bankfiliale aus. Erst nach ein- bis zweistündiger Verzögerung konnte der Protestzug, welcher solange feststeckte, fortgesetzt werden.

Am Abschlussort kam es dann zum körperlichen Angriff von einigen Dutzend Personen, einige von ihnen trugen gelbe Westen, auf den Ordnerdienst sowie einen Lautsprecherwagen der CGT. In deren Reihen wurden 21 Personen verletzt, zwei von ihnen wurden vorübergehend stationär behandelt, konnten jedoch am Sonntag aus dem Krankenhaus entlassen werden. Ein Mitglied erhielt eine säureähnliche Substanz in die Augen gesprüht. Die CGT-Führung sprach in einer ersten Stellungnahme, etwa bei TV-Interviews von Generalsekretär Philippe Martinez, von einer rechtsextremen Attacke. Die Realität dürfte jedoch komplexer sein. In ihrer offiziellen Presseerklärung spricht die CGT (vgl. unten, https://www.cgt.fr/comm-de-presse/violences-inacceptables-contre-le-monde-du-travail) nicht direkt von Rechtsextremen, aber von „Menschen, die sich auf ihre Zugehörigkeit zur Gelbwestenbewegung berufen“. In ihrer eigenen Presseaussendung benutzte die linksalternative Gewerkschaft SUD Rail (SUD Schienenverkehr) jedoch die Überschrift: „Gegen alle Faschismen!“ [Siehe das Video des Angriffs im Twitter-Thread vonBlxckMosquito]

Laut ersten Erkenntnissen waren es tatsächlich Anhänger der extrem heterogenen Protestbewegung der „Gelbwesten“, ergänzt um einige sich für besonders superrevolutionär haltende Autonome (konkret wurden Autonomen-Gestalten von der Universität Paris-Tolbiac auf Aufnahmen durch linke Strukturen identifiziert), die der CGT ihren „Verrat“ vorwarfen, weil ihr Ordnerdienst anlässlich des polizeilichen Vorgehens rund drei Stunden zuvor gegen die an der Spitze Laufenden nicht eingegriffen hatte. Allerdings dürfte es auch kaum Aufgabe eines gewerkschaftlichen Ordnerdiensts, die Polizei anzugreifen, was eine immense Gefährdung für die gesamte Demonstration inklusive ihrer nicht sonderlich sportlichen, älteren oder aus Familien bestehende Teile bedeutet hätte.

Das Hauptproblem dürfte aber darin bestehen, dass das Protestsymbol der „gelben Westen“ derart unkontrolliert aus unterschiedlichsten politischen Motiven übergestreift werden kann, dass es – neben Linken und auch Gewerkschafter/innen, die sich vor allem in der Hochphase 2018/19 ebenfalls in der gleichnamigen Protestbewegung engagierten oder zumindest mitliefen – auch allerhand übles reaktionäres Gesocks gibt, das dieses Kleidungsstück ebenfalls zur Identifikation benutzt.

In diesem Jahr war auffällig, dass es am 1. Mai ausgeprägt viele Impf- und Maskengegner und ähnliche Vögel (die in Deutschland zum Querspinner-Spektrum zählen würden) wren, die sich gelbe Westen anzogen. Dies dürfte zum Problem des totalen Solidaritätsbruchs gegenüber Gewerkschafter/inne/n erheblich beigetragen haben.

Einige ausgewählte Medienberichte:

#Bild: Foto von Bernard Schmid der Pariser Demo am 1.5.2021: Das Ende der Welt ist erst der Anfang

Quelle: labournet.de… vom 3. Mai 2021

Tags: , , , , , ,