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Indien: Profit durch Tod – Modis neoliberale Antwort auf die Pandemie

Eingereicht on 5. Mai 2021 – 15:50

Tithi Bhattacharya. Gleich zu Beginn möchten wir klarstellen: Was gerade in Indien passiert, ist Massenmord.  Und dieser wird von einem Mann organisiert, der in solchen Dingen Übung hat.

Zwei Bilder prägen die gegenwärtige Krise und verweisen auf deren Entwicklung. Das erste ist das Bild der indischen Polizei, die im vergangenen Frühjahr, während der ersten Welle der Pandemie, Wanderarbeiter mit Bleichmittel abspritzte, und das grausamere, neuere Bild zeigt die im ganzen Land brennenden Krematoriumsfeuer. Dass dem ersten Bilde das zweite folgte, überrascht nicht; das Verbrechen liegt in der Tatsache, dass diese Entwicklung hätte vermieden werden können.

Als die Infektionsrate nach dem ersten Lockdown sank, erklärte das Modi-Regime den Sieg über das Virus.  Indem er seine Propaganda mit hinduistischer Mythologie unterfütterte, erklärte der Premierminister im März der Nation, dass er, während der Mahabharat-Krieg [mythische Schlacht der Hindu-Epen] in 18 Tagen gewonnen worden sei, die Corona-Schlacht in 21 Tagen gewinnen werde.

Die Politik wurde um diesen wilden Aberglauben herum gestaltet. Die Coronavirus-Task-Force der Regierung hörte auf zu tagen und der Gesundheitsminister erklärte, dass Indien «im Endspiel der Pandemie» sei. Die Regierung brüstete sich damit, dass sie 55 Millionen Dosen Impfstoff an 62 verschiedene Länder verkauft hatte.

Es war ein Beispiel für eine perfekte Ehe zwischen Hindutva [radikale hinduistische Ideologie, auf die die Regierungspartei von Modi, der Bharatiya Janata Party,  seit der Mitte der 1990er Jahre eingeschworen ist] und Kapitalismus. Hindutva versicherte der Regierung, dass das Virus besiegt sei, während die kapitalistische Gier eine globale Pandemie monetarisierte.

Impfstoff-Kapitalismus

Der lebensrettende Impfstoff ist in fast allen Ländern des globalen Nordens kostenlos erhältlich, in Indien ist er es nicht. Das Serum Institute of India (SII), der grösste Impfstoffhersteller der Welt, ist derzeit der Hauptproduzent des Impfstoffs im Lande.  Im Januar wurden die ersten 100 Millionen Dosen des Impfstoffs an die indische Regierung zu einem «Sonderpreis» von 200 Rupien (2,74 Dollar) pro Dosis verkauft, danach wurde der Preis erhöht. Auf dem privaten Markt wird der Impfstoff für 1.000 Rupien ($13,68) pro Dosis verkauft.

SII ist ein privates Unternehmen, das von einem der reichsten Männer der Welt geleitet wird, Cyrus Poonawala, dessen Nettovermögen etwa 13 Milliarden Dollar beträgt. Poonawala machte sein Vermögen als Pferdezüchter und Rennfahrer.  Seine überragenden Spielerinstinkte brachten seinen Sohn, Adar Poonawala, im letzten Jahr mit Blick auf die verheerende globale Pandemie dazu, diese Gelegenheit zu nutzen, um sich ein Vermögen zu machen.  In seinem Interview mit internationalen Medien betonte Poonawala, dass er «das Risiko eingehen und ein Spitzenreiter werden» wolle.

Die üblichen Verdächtigen sprangen auf diesen Zug auf, der öffentliche Gesundheitsnotfälle in privaten Profit verwandelt. Die Melinda und Bill Gates Stiftung investierte 150 Millionen Dollar, während die vampirischen Firmen Goldman Sachs, Citi und Avendus Capital zu den Hauptberatern von SII wurden. Wie alle Eliten aus dem globalen Süden, die gut in neoliberaler Sprache geschult sind, erklärte Poonawalla sein hehres antikoloniales Ziel: «Einen Grossteil des Impfstoffs, zumindest anfangs… an unsere Landsleute zu liefern, bevor er ins Ausland geht.»

In Wirklichkeit gingen fast 80 Prozent des SII-Impfstoffes mit hohem Gewinn ins Ausland, bis die indische Regierung schliesslich ein Exportverbot erzwang, als die Zahl der Toten zu steigen begann.

Die Züge dieser makabren kapitalistischen Machenschaften offenbarten sich bald. Cyrus Poonawallas Vermögen stieg in 5 Monaten um 85%. Und als der Rauch der Scheiterhaufen den indischen Himmel zu verdunkeln begann, unterzeichnete Adar Poonawalla Ende März einen Mietvertrag für eine Londoner Villa für die Rekordsumme von 70.000 Dollar pro Woche.

Neoliberales Todesregime

Das Modi-Regime ist direkt verantwortlich für das aktuelle Massensterben. Aber der Weg dorthin wurde von all denen geebnet, die vor ihnen kamen, von denen, die seit den 1980er Jahren eifrig die Strukturanpassungsprogramme des IWF befolgten und Indiens lebensschaffende Institutionen und Infrastruktur zerstörten. Wir brauchten offenbar mehr Autos, mehr Dämme, auf Kosten von Nahrung und Gesundheitsversorgung.

Die indische Wirtschaft wurde 1991 unter einer Kongress-Regierung formell liberalisiert. Die Geschichte, die darauffolgte, ist erschreckend vertraut.

Die Reduzierung des Fiskaldefizits, der heilige Gral des Neoliberalismus, eröffnete in Wirklichkeit ein «Einnahmedefizit», da die Reichen von der Steuer befreit wurden und der Staat, während er die Militärausgaben erhöhte, die Investitionen des öffentlichen Sektors und die Sozialausgaben kürzte. Ich möchte betonen, dass nicht nur der Kongress oder die BJP, sondern jede regierende Koalition auf Landes- und Bundesebene diesem Weg gefolgt ist, einschliesslich die Stalinisten, die in meinem Heimatstaat Westbengalen an der Macht waren – sie enteigneten die Bauern von ihrem Land, um eine Autofabrik zu bauen. Mehr als 50 Millionen Inder und Inderinnen wurden in den ersten 50 Jahren der Unabhängigkeit enteignet, um Platz für Entwicklungsprojekte wie grosse Staudämme zu schaffen, die den produktivistischen Imperativ des Kapitalismus vorantreiben sollten. Untersuchungen zeigen, dass mehr als 50 Prozent der Enteigneten Adivasi oder Ureinwohner waren, die in den Hügeln und in bewaldetem Land leben, wo die meisten Dämme und Minen gebaut wurden.

Während der Staat bei allen lebensschaffenden Massnahmen wie dem Gesundheitswesen oder der Bildung abwesend war, war er bei der Schaffung von Tod nur allzu präsent, indem er für Kaschmir ein Regime nach dem Modell des Gazastreifens errichtete und  Internierungslager für Muslime, Dalits und Adivasi errichtete.

Der Gesundheitssektor erzählt eine ähnliche Geschichte der Ausbeutung.  Nach Angaben des BMJ hat Indien heute nur 0,8 Ärzte und 0,7 Krankenhausbetten pro 1000 Einwohner und hat nach den USA und China die drittgrössten Militärausgaben der Welt. Aber nicht alle werden ohne Gesundheitsversorgung gelassen. Die private Gesundheitsindustrie explodierte unter dem Neoliberalismus, und das Land gehört zu den 20 Ländern mit den höchsten privaten Gesundheitsausgaben, während die Ausgaben für das öffentliche Gesundheitswesen zu den niedrigsten gehören.

Austerität ist, wie Ruthie Gilmore uns lehrt, der «organisierte Verzicht» auf Leben und Lebensgestaltung, gepaart mit «organisierter Gewalt». Die Schliessung von Schulen und Krankenhäusern und die Ausweitung von Gefängnissen und Verteidigungsbudgets halten sich gegenseitig den Spiegel vor.

Die Austerität verstärkt jedoch nur das, was ein zentrales Organisationsprinzip des Kapitalismus ist: die Senkung des Wertes des menschlichen Lebens. Während der Kapitalismus danach strebt, den Wert der Arbeitskraft zu senken, um den Mehrwert zu steigern, bedeutet dies für die Arbeiterklasse konkret, in Anlehnung an Rosemary Hennessys Konzept der Ablehnung, was wir die Herstellung der Ablehnung nennen könnten. Dieser Mechanismus geht über die ökonomische Anstrengung der Senkung der Löhne hinaus. In der Tat werden Löhne meist dann effektiv gesenkt, wenn das Kapital die Parameter der sozialen Reproduktion von Leben und Arbeitskraft erfolgreich senken kann. Soziale Unterdrückungen wie Rasse, Geschlecht und Kaste sind einige der Hauptfaktoren für die Senkung der sozialen Reproduktion.

Wir sollten uns an eine dunkle Passage im Kapital erinnern, in der Marx beschreibt, wie zu seiner Zeit in Grossbritannien Frauen «noch gelegentlich anstelle von Pferden zum Ziehen von Kanalbooten verwendet wurden, weil die zur Produktion von Pferden und Maschinen erforderliche Arbeitskraft eine genau bekannte Grösse ist, während die zum Unterhalt der Frauen der Überschussbevölkerung erforderliche unter aller Berechnung liegt.»  Michael Goldfield hat kürzlich einen ähnlichen Punkt über die Rolle der Sklaverei und des Rassismus in den USA gemacht und gezeigt, wie «sowohl die Pflanzer als auch die Industrie des Nordens von billigen Arbeitskräften profitierten, deren untere Grenze durch den Rassismus bestimmt wurde», was über die Zeit hinweg «eine gefühllose Missachtung der menschlichen Würde und der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens hervorbrachte.» Um Gilmore zu paraphrasieren: Wo das Leben nicht kostbar ist, ist das Leben nicht teuer.

Wir sehen, wie sich diese mörderische Logik – der Kapitalismus entwertet das Leben durch Austerität – in Indien in einem solchen Ausmass abspielt, dass selbst die Reichen und Mächtigen nicht sicher sind. Ein ehemaliger Botschafter starb, während er auf dem Parkplatz eines Krankenhauses in Delhi wartete. Es gibt keine Krankenhausbetten. Es gibt keine Krankenwagen. In Surat, einer Industriestadt in Gujarat, sind die Grills, die zur Verbrennung von Leichen verwendet werden, so unerbittlich in Betrieb, dass das Eisen an einigen von ihnen geschmolzen ist. Fast alle Leichenbestatter in den Krematorien und Verbrennungseinrichtungen sind Angehörige der Dalit- oder Bahujan-Gemeinschaften, deren durchschnittlicher Monatslohn bei etwa 134 Dollar liegt. Sie arbeiten rund um die Uhr, ohne jegliche soziale Absicherung, und bieten Familien, die zu Lebzeiten wahrscheinlich für ihre fortgesetzte rituelle Absonderung von der Elitegesellschaft eingetreten wären, letzte Riten, Trauerbegleitung und Trost an. Bezwada Wilson, ein Organisator für die Rechte und das Wohlergehen von Sanitärarbeitern, sagte gegenüber VICE World News: «Niemand weiss, wie viele Kremationsarbeiter positiv auf diese tödliche Krankheit getestet wurden und niemand weiss, wie viele infolgedessen gestorben sind. Das liegt daran, dass die Regierungsbeamten die Feuerbestattungsarbeiter und Sanitärarbeiter nicht als Menschen sehen.»

Doch während das Land nach Sauerstoff schnappt, haben sich die Aktien von Linde India, einem Lieferanten von medizinischem Sauerstoff, verdoppelt. Adar Poonawalla hat es einem Ted Cruz gleichgetan, ist aus Indien geflohen und hat in seiner bescheidenen Londoner Villa Zuflucht gesucht, ebenso wie die Ultrareichen in ihren Privatjets.

Währenddessen brennt der Rest Indiens, während die BJP-Führer weiterhin mit Kuhmist und Kuh-Urin als medizinische Lösung für Covid 19 hausieren gehen. Bis vergangenen Samstag sind nur 1,9 Prozent der indischen Bevölkerung vollständig geimpft und über 400.000 tägliche Neuinfektionen durch Tests bestätigt, die tatsächliche Zahl liegt sicher weit höher.

Der kapitalistische Staat gegen das Volk

Narendra Modi hat, mehr als jeder andere Premierminister seit den 1980er Jahren, die Macht des indischen Staates brutal eingesetzt, um ein für das Kapital sicheres Gemeinwesen zu formen; Hindutva war der ideologische Rammbock für dieses Projekt. Während der Staat bei allen lebensschaffenden Massnahmen wie Gesundheitsversorgung oder Bildung abwesend war, war er bei der Schaffung von Tod nur allzu präsent, von der Gazafizierung Kaschmirs bis zur Errichtung von Internierungslagern für Muslime, Dalits und Adivasi. Tatsächlich ist es nicht der Staat, der derzeit das vom Neoliberalismus zerrüttete Gesundheitssystem am Laufen hält, sondern einfache Menschen. Teams von Freiwilligen haben überall in der verwüsteten Landschaft Netzwerke der gegenseitigen Hilfe aufgebaut und versuchen auf geniale und zutiefst liebevolle Weise, den Schaden zu verringern. Gurudwaras und Moscheen arbeiten unermüdlich an der Versorgung mit Lebensmitteln. Der Chef der faschistischen Shiv Sena, Uddhav Thackeray, sah sich gezwungen, den Muslimen der Stadt Ichalkaranji in Maharashtra zu danken, weil sie Zakat-Gelder [eine Vermögensabgabe im islamischen Brauchtum; Anm.d.Ü] gespendet hatten, um eine Intensivstation mit 10 Betten in einem örtlichen Krankenhaus zu finanzieren.  Die Menschen haben COVID-Helplines eingerichtet, um die Kranken und Leidenden zu erreichen, und bilden Fahrgemeinschaften, um als Krankenwagen zu fungieren, während Politiker in Maharashtra und Gujarat lebenswichtige Medikamente und Sauerstoff horteten, um sie auf dem Markt zu einem erhöhten Preis zu verkaufen.

Die Toten fordern, dass die mystischen Schleier der Unergründlichkeit von der Geschichte gerissen werden, denn unter ihnen liegt die banal offensichtliche Erklärung für dieses Gemetzel: der Kapitalismus.

Diese mörderische Arbeitsteilung zwischen Staat und Volk muss rückgängig gemacht werden, und der Staat muss gezwungen werden, in ihrem Namen zu handeln. Eine Reihe von Schritten kann sofort unternommen werden, um die Flut aufzuhalten.

  1. Erstens muss sich die Regierung auf den Essential Commodities Act berufen, um das Horten von lebenswichtigen Medikamenten, Sauerstoff und so weiter durch räuberische Unternehmen zu stoppen.
  2. Zweitens sollte der Staat Flächen für die Einrichtung von Feldkrankenhäusern beschlagnahmen und Hotels für die Obdachlosen eröffnen.
  3. Drittens muss die Regierung sofort Geld in die Produktion von Impfstoffen investieren und Massnahmen ergreifen, um Impfstoffe kostenlos und allgemein verfügbar zu machen. Die von Konzernen wie SII eingeführte Preisstaffelung für diese Medikamente muss abgeschafft und die Impfstoffe für alle kostenlos gemacht werden, und zwar mit einer Verteilung nach Verletzlichkeit und nicht nach der Grösse des Geldbeutels oder der Fähigkeit, sich an die Spitze zu drängen.
  4. Viertens: Anthony Fauci hat zwar einen harten Lockdown empfohlen, aber in einem Land wie Indien ist dieser Schritt weder human noch effektiv, ohne dass der Staat den Familien einen Anreiz gibt, damit sie von der Arbeit freigestellt werden. Wo es einen harten Lockdown geben kann und sollte, ist bei religiösen und sozialen Versammlungen, von denen eine in der jüngsten Vergangenheit, von der Regierung als sicher gepriesen, zweifellos ein Superspreader war.
  5. Fünftens: Öffentliche Gelder, die für den Umgang mit Covid-19 aufgebracht wurden, sollten sofort offen und transparent zur Verfügung gestellt werden. Während der ersten Welle im letzten Jahr richtete die Modi-Regierung den Prime Minister’s Citizen Assistance and Relief in Emergency Situations Fund (PM-CARES) ein, um die Krise zu bewältigen. Mehr als 70 % der Gelder wurden von öffentlichen Einrichtungen gespendet, aber PM-CARES wurde so eingerichtet, dass er keiner staatlichen Prüfung und damit auch nicht der Öffentlichkeit gegenüber rechenschaftspflichtig ist. In Wirklichkeit weiss niemand, wie diese Mittel ausgegeben werden.
  6. Schliesslich hat die internationale Linke, besonders im globalen Norden, eine wichtige Rolle zu spielen: Wir müssen Druck auf unsere eigenen herrschenden Klassen ausüben, damit sie aufhören, Impfstoffe zu horten. Der Impfstoff-Imperialismus mag kurzfristig für die reichen Länder funktionieren, aber er erlaubt es dem Virus, in den Teilen des Globus zu mutieren, in denen es keinen Impfstoff gibt, um schliesslich zurückzukehren, um die Hortungsländer anzugreifen. Internationalismus ist in diesem Fall nicht nur ein politisches Prinzip, es ist eine Notwendigkeit für die öffentliche Gesundheit.

#Bild: In Bhopal hat Javed, ein Auto-Rikscha-Fahrer, sein Auto in einen behelfsmässigen Krankenwagen umgewandelt, mit dem er Patienten kostenlos in Krankenhäuser transportiert. Mit freundlicher Genehmigung: ScoopWhoop Media

Quelle: spectrejournal.com… vom 5. Mai 2021; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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