Frankreichs umkämpfte Arbeitsrechts-„Reform“, Stand 20. Juni 2016
Bernard Schmid. CGT-Generalsekretär Philippe Martinez wurde bei Arbeitsministerin Myriam El-Khomri empfangen, doch das Treffen unterstrich zunächst die Differenzen
Dennoch gibt es erste Modifikationen in den Positionen der CGT * Angedrohtes Demonstrationsverbot scheint sich tatsächlich herauszukristallisieren ° Letzte Meldung: Die Pariser Polizeipräfektur verlangt von den Gewerkschaften eine örtlich gebundene Kundgebung, statt einer Demonstration am Donnerstag
Der angekündigte „Verrat“ hat nicht stattgefunden. Nicht, wie er erwartet wurde. Viele im linksradikalen Spektrum hatten bereits mit einem Einknicken der wichtigsten Gewerkschaften gerechnet, nachdem CGT-Vorsitzender Philippe Martinez am Freitag früh (17. Juni) bei Arbeitsministerin Myriam El-Khomri empfangen wurde. Es hatte sich seit einer Woche abgezeichnet. Acht Tage zuvor hatte Martinez die amtierende Ministerin dazu aufgefordert, ihn zu empfangen und anzuhören. Daraufhin hatte diese reagiert, indem sie erklärte, dies könne auch „sofort“ geschehen – bevor dann im Laufe des Freitag, den 10. Juni verlautbarte, „aus Termingründen“ sei dies doch erst eine Woche später möglich. Unterdessen wurde FO-Generalsekretär Jan-Claude Mailly (also der Chef des drittstärksten und politisch schillerenden Dachverbands Force Ouvrière/ FO; er selbst besitzt seit dreißig Jahren ein Parteibuch der französischen Sozialdemokratie) bei El-Khomri empfangen. Im Anschluss erklärt er, die Ministerin als „offen“ erlebt zu haben. (Wir berichteten)
Das Treffen mit CGT-Chef Martinez erfolgte drei Tage nach der letzten Großdemonstration, bei der am Dienstag mehrere Hunderttausende Menschen in Paris gegen die geplante „Reform“ des französischen Arbeitsrechts zusammenkamen.
„Die Gewerkschaftsführungen wollen die Proteste kanalisieren und befrieden, und wir müssen mehr denn je unsere eigenen Aktionen unabhängig von ihnen machen, da wir sonst verloren haben“: So fasste es etwa ein Protestteilnehmer aus dem anarcho-syndikalistischen Spektrum, der ungenannt bleiben möchte, zusammen. Dazu zählen für ihn Demonstrationen mit wirtschaftlichen Beeinträchtigungen für die Kapitalseite oder den Staat, wie das Stören der beginnenden Sommerschlussverkaufsaktionen (geplant am 25. Juni oder das Blockieren von Maut- und Zahlungsstellen auf französischen Autobahnen, vorgesehen für den 02. und 03. Juli. Solche, für die kommenden Tage geplanten Aktivitäten laufen parallel zu den von Gewerkschaften unterstützten Streiks, manchmal auch in Verbindung mit ihnen, wenn etwa bei „Kostenlos-fahren-Aktionen“ Geldspenden für Streikkassen gesammelt werden.
Umgekehrt erhoffte die Regierungsspitze sich bis zuletzt eine Einbindung der Gewerkschaftsführungen, indem sie ein wenig Ballast zu einigen sekundären Bestimmungen des geplanten „Arbeitsgesetzes“ abwirft.
Allein, die Erwartungen (vgl. http://www.lefigaro.fr/social/2016/06/17/09010-20160617ARTFIG00067-loi-travail-martinez-et-el-khomri-se-rencontrent-enfin.php) oder Befürchtungen haben sich zunächst einmal nicht erfüllt. Nach rund anderthalb Stunden (vgl. zum Beginn: http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2016/06/17/97002-20160617FILWWW00047-philippe-martinez-est-arrive-au-ministere-du-travail.php und zum Ende: http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2016/06/17/97002-20160617FILWWW00070-loi-travail-les-desaccords-se-sont-confirmes-aujourd-hui-cgt.php) endete das Treffen von Martinez und El-Khomri am Freitag Vormittag mit der Erklärung von beiden Seiten, der Dissens sei erst einmal festgeschrieben. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2016/06/17/97002-20160617FILWWW00075-loi-travail-pas-de-consensus-avec-la-cgt-el-khomri.php
oder http://finance.orange.fr/actualite-eco/article/loi-travail-pas-de-consensus-avec-la-cgt-indique-myriam-el-khomri-CNT000000q99Am.html und http://actu.orange.fr/france/loi-travail-myriam-el-khomri-et-philippe-martinez-constatent-leurs-desaccords-CNT000000q99Am.html) Nach wie fordert die CGT im Prinzip die Rücknahme des umkämpften Gesetzentwurfs, während die Regierung nur Korrekturen am Rande daran vornehmen möchte.
Nichtsdestotrotz täuscht dies nicht darüber hinweg, dass auch erste Änderungen im Diskurs der CGT aufscheinen. Darauf wird im Folgenden noch näher eingegangen.
Kompromiss, sagten Sie?
Die Streikauswirkungen begannen in den letzten Tagen eher spürbar abzubröckeln, etwa in den Raffinerien und bei der französischen Bahn (wo allerdings die CGT ihre Unterschrift unter das durch die Bahndirekt geplante Abkommen zur Arbeitszeit nach einer Urabstimmung verweigert, vgl. http://www.lemonde.fr/economie/article/2016/06/14/sncf-la-cgt-cheminots-ne-signe-pas-l-accord-sur-le-temps-de-travail_4950503_3234.html; über 57 % stimmten dagegen, während die Leitung eher dafür war). Deswegen erwartet die Regierung, vielleicht doch noch zu einem „Kompromiss“ zu kommen. Aus ihrer Sicht haben die Gewerkschaftsführungen ein Interesse daran, ohne Gesichtsverlust aus der Auseinandersetzung herauszukommen, indem sie sich darauf berufen können, wenigstens das Schlimmste verhindert und einige Entschärfungen heraus geholt zu haben. Tatsächlich dürfte dieser Gesichtspunkt auch zumindest in Teilen der Gewerkschaften Berücksichtigung finden – denn letzten Endes mit leeren Händen aus einem Konflikt zu kommen, ist der eigenen Basis am Schluss schwerer zu verkaufen, als einen Teilerfolg. Letzterer erschwert eine Mobilisierung der eigenen Basis „beim nächsten Mal“ weniger als die Erinnerung an eine Pleite, Niederlage, Kapitulation…
Nichtsdestotrotz handelt es sich bei den Vorstellungen der Regierung zu einem möglichen „Kompromiss“ um einen denkbar faulen.
Zu den in Regierungs- und in sozialdemokratischen Parteikreisen diskutierten Vorstellungen dafür zählt die Idee, zwar weiterhin Vereinbarungen auf Unternehmensebene – vor allem zur Arbeitszeitpolitik – auf für die Lohnabhängigen ungünstige Weise von Gesetz und Flächentarifvertrag abweichen zu lassen; doch den sogenannten Sozialpartnern auf Branchenebene am Rande eine eigene Rolle einzuräumen.
Eine Idee lautet, die Branchenverbände von Gewerkschaften und Kapitalseite sollten vorab „Methodenvereinbarungen“ (accords de méthode) treffen, die den Betriebsvereinbarungen bestimmte Grenzen setzen, etwa bestimmte Mehrheitsverhältnisse erfordern. (Laut Gesetz können Minderheitsgewerkschaften ab einem dreißigprozentigen Stimmenanteil unterzeichnen. Aber bislang weisen die Mehrheitsgewerkschaften ab fünfzig Prozent Einfluss/Wähleranteil ein zeitlich begrenztes „Vetorecht“ auf, das das Gesetzesvorhaben jedoch abschaffen will.)
Eine andere Vorstellung beruht darauf, dass eine Branchenkommission von Gewerkschaftern und Arbeitgebervertretern eingesetzt werden soll, die einen Monat Zeit hätte, um bei zu negativen Vereinbarungen in einem Unternehmen ihre Kritik formulieren zu können. Doch erstens würde die Kapitalseite die Hälfte einer solchen Kommission stellen. Und zum Zweiten ist dies zwar so angedacht, dass der „Flexibilität“ der Arbeitskräfte für das Kapital gegenüber kritische Gewerkschaften – wie die CGT oder FO – ihre Unterhändler an der Basis zurückpfeifen können, wenn diese sich auf negative Verhandlungsergebnisse einlassen. Da es aber Gewerkschaften gibt, die in genau diese Richtung verhandeln wollen und zur Akzeptanz wichtiger „Imperative“ des Kapitals bereit sind, besonders die CFDT, würde dies schlussendlich gar nichts verhindern. Zumal das geplante Gesetz die Abkommen mit Minderheitengewerkschaften, ohne Zutun der Mehrheitsorganisationen, erleichtert. (Allerdings wird, infolge der lang dauernden und heftigen Auseinandersetzung um das geplante „Arbeitsgesetz“, auch der politische Preis für die CFDT – im Falle ihrer Unterschrift unter schlechte Vereinbarungen – künftig wohl gestiegen sein.)
Allerdings deutet auch die CGT-Spitze nunmehr an, über eine Rolle der Branchengewerkschaften bei einer „Kontrolle“ von Unternehmensvereinbarungen – im Rahmen des geplanten „Arbeitsgesetzes“ – nun mit sich reden zu lassen. (Vgl. http://actu.orange.fr/france/hierarchie-des-normes-martinez-inflechit-son-discours-CNT000000qa4Cu.html) Es wird also genau zu beobachten sein, was sich da eventuell anbahnt, oder auch nicht..! Erste Warnungen zirkulieren jedenfalls bereits (vgl. http://www.communisteslibertairescgt.org/Martinez-ouvre-une-porte-de-sortie-qui-pourrait-faire-entrer-le-loup.html)…
Gewalt, sagten Sie…?!?
Bislang jedenfalls tritt also die Erwartung der Regierung, die CGT und FO würden sich für einen faulen Frieden einspannen lassen, nicht ein. Daneben setzt sie darauf, dass die in den Fokus der Berichterstattungen in bürgerlichen Medien gerückte Gewalt- und Militanzfrage dafür sorgen werde, dass die öffentliche Meinung endlich „kippt“. Bislang zeichnete sich das auch nach dreieinhalb Monaten Konflikt nicht ab: In keiner Umfrage liegt der Anteil derer, die gegen das „Arbeitsgesetz“ opponieren und den Protest dagegen für richtig befinden, unter sechzig Prozent. Doch unterstützt die öffentliche Meinung auch mit deutlicher Mehrheit das Anliegen der Protestierenden, so bleiben viele Menschen mit Arbeits- und Familienleben doch den Demonstrationen fern, die insgesamt erheblich kleiner ausfallen als bei den Sozialprotesten 2003, 2006 oder 2010 zu „Rentenreformen“ bzw. zum Kündigungsschutz. Viele Berufstätige über 35 wünschen nicht oder können es sich nicht erlauben, ein Verletzungsrisiko am Rande von Auseinandersetzungen bei Demonstrationen einzugehen.
Die Regierung setzt nun darauf, die manipulative Berichterstattung in rechtsorientierten Fernsehsendern wie TF1 oder BFM TV erlaube es, dank der Missbilligung gewaltsamer Zusammenstöße durch das Publikum die öffentliche Meinung doch noch umzudrehen. Am Mittwoch und Donnerstag (15. und 16. Juni d.J.) dramatisierte sie in diesem Sinne die Glasbruchschäden, die von einer Minderheit aus dem schwarzen Block heraus angerichtet worden waren.
Am Dienstag, den 14. Juni schlugen zwei isoliert handelnde Individuen am Rande der Demonstrationen Scheiben an dem Kinderkrankenhaus Necker in Paris ein. Dort befand sich das dreijährige Kind eines Polizistenpaars, das am Vortag durch einen Jihadisten westlich von Paris ermordet wurde, in Behandlung. Wenn auch die allermeisten Protestierenden den Glasschaden an der Klinik verurteilten und die CGT eine scharfe Erklärung verfasst, war doch in der PR der Regierung und in gewissen Medien eine vermeintliche Verbindungslinie schnell hergestellt. Indirekt führte sie von der CGT bis zum so genannten Islamischen Staat, der sich zu dem Polizistenmord bekannte. Auch die linksliberale Zeitung Libération, die der regierenden Sozialdemokratie eher nahe steht, beurteilte dies als stark überzogen. (Vgl. Tagesthema in der Papierausgabe vom Donnerstag, den 16.06.16)
Bislang geht die Rechnung nicht auf, dass deswegen die Unterstützung für die Proteste zurückgehe. Am Mittwoch, den 15. Juni startete die Regierung einen Versuchsballon, indem Premier Manuel Valls und Präsident François Hollande ein Verbot der kommenden Demonstrationen in Erwägung zogen. Die sieben Gewerkschafts- und Jugendverbände, die die Streiks und Demozüge unterstützen, protestierten laut dagegen. Und sie bekräftigten, ihre nächsten „Aktionstage“ mit Protesten am 23. und 28. Juni blieben selbstverständlich aufrecht erhalten. In einer gemeinsamen Erklärung betonten sie, eine Regierung, die Demonstrationsverbote in Erwägung ziehe, sei „sich offensichtlich ihrer Sache nicht sicher“ und stecke in der Defensive. Eine Teilnehmerin an dem Treffen erklärt, falls die Regierung auf eine Beruhigung durch die Sommerferienzeit ab Anfang Juli 2016 setze, dann stehe man „eben notfalls auch im September gleich wieder bereit“.
In einem Interview in den Spalten der Sonntagszeitung JDD vom gestrigen Sonntag, den 19. Juni forderte Premierminister Valls die Gewerkschaften dazu auf, „von sich aus“ auf die geplanten Demonstrationen am 23. und 28. Juni zu verzichten.
Letzte Meldung: Am heutigen Montag, den 20.06.16 bestätigt sich, dass sich ein tatsächliches Demonstrationsverbot herauskristallisieren zu sein scheint. Die Polizeipräfektur (politische Polizeiführung für die Stadt Paris) kündigte jedenfalls an, für den kommenden Donnerstag – 23. Juni – eine an einem festen Ort verharrende Kundgebung genehmigen zu wollen, jedoch nicht eine mit Laufen verbundene Demonstration. (Vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com/en-direct/a-chaud/24263-loitravail-prefecture-police-paris-demande-rassemblement.html)
Über den weiteren Fortgang der Dinge werden wir unsere Leser/innen/schaft selbstverständlich zeitnahe unterrichten.
Repression, sagten wir..
Organisierte Linke sehen unterdessen für die kommenden Wochen auch in der Arbeit gegen die Folgen der Repression eine zentrale Aufgabe. Über 1.000 Personen wurden in den letzten Wochen allein in Paris festgenommen, 130 bis 140 Strafprozesse eingeleitet. Pascal, Grundrechte-Referent bei der Hochschulgewerkschaft SNESUP-FSU, spricht von einer „Repression, wie sie seit den Kolonialkriegen in Frankreich nicht da war“. In der Vergangenheit sei es bei bürgerlichen Regierungen noch Konsens gewesen, dass Polizei nicht ohne Aufforderung der Verwaltung in Universitätsräume eindringt – die seit dem Mittelalter als Freiräume galten – und dass Ausnahmezustandsbestimmungen nicht gegen von Gewerkschaften unterstützte Bewegungen Anwendung finden. Beide Tabus habe die Regierung nun zerstört. Am Nationalfeiertag am 14. Juli soll ein Aktionstag speziell zum Thema Repression stattfinden.
Quelle: www.labournet.de… vom 20. Juni 2016
Tags: Arbeiterbewegung, Frankreich, Neoliberalismus, Widerstand
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