Schweiz. Fünfzehn Gründe gegen das sogenannte «Antiterrorgesetz»
Paolo Bernasconi listet im Folgenden 15 Gründe auf, das Bundesgesetz über «Polizeiliche Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (MPT)», über das am 13. Juni 2021 abgestimmt werden soll, abzulehnen.
- Ein freiheitsbedrohendes Gesetz
- Das neue Gesetz sieht vor, dass die Polizei das Internet, Mobiltelefone, E-Mail-Korrespondenz, WhatsApp usw. aller Schweizer Bürgerinnen und Bürger ausspähen kann.
Der Bundesrat schreibt, dass dafür «ein konkreter und aktueller Verdacht ausreichend ist». Dies ist ein noch nie dagewesener Eingriff des Staates in unser Privatleben.
- Der Bundesrat schreibt, dass ein «Like» (Botschaft des Bundesrats, S. 3949) der Zustimmung zu einer radikalen und fundamentalistischen Kommunikation ausreicht. Selbst wenn diese von einem neugierigen und leichtsinnigen Teenager herrührt.
- Die Definition von Terrorismus ist allgemein und vage: «Verbreitung von Angst und Schrecken». Der Tessiner Polizeiminister Norman Gobbi führte in seinem Artikel vom 15. Mai 2021 im Corriere del Ticino die Beispiele der antispeziesistischen Gruppen an. Bald können auch Gruppen von Umweltschützern und Umweltschützerinnen und dann Aktivitäten zur Verteidigung der Menschenrechte ins Visier genommen werden [1].
- Die Polizei wird ihr Modell der generalisierten Kontrolle anwenden, das bereits während der Pandemie erprobt wurde («die Älteren gehen in Lethargie», Matteo Cocchi, Kommandant der Tessiner Polizei). Das neue Gesetz bestätigt und kristallisiert das Pandemieregime. Schweizer Bürger und Bürgerinnen geraten so unter ständige Vormundschaft. Seit Februar 2020 werden wir alle als «infektionsverdächtig» behandelt. Ab dem 13. Juni werden wir zu «Terrorismusverdächtigen».
- Das neue Gesetz kann als «Erosionsgesetz» bezeichnet werden, d.h. die Aushöhlung der Rechte und der Freiheit der Schweizer Bürgerinnen und Bürger. Die Befugnis der Polizei, Kinder ab einem Alter von 15 Jahren zu verhaften, steht im Widerspruch zu internationalen Konventionen zum Schutz von Kindern.
- Schweizer Bürgerinnen und Bürger werden in internationalen Datenalgorithmen nicht nur auf Verdacht, sondern allein auf Grund ihrer Meinung registriert. So können sie ohne ihr Wissen und ohne eine illegale Handlung begangen zu haben, in China, Russland, der Türkei oder anderen diktatorischen Ländern verhaftet werden, nur weil sie zu Hause in der Schweiz demokratische Anliegen geäußert haben
- Ein unnötiges Gesetz
- Italien besiegte die Roten Brigaden und den bewaffneten Terrorismus der bleiernen Jahre ohne diese Polizeibefugnisse. Deutschland besiegte den bewaffneten Terrorismus der Rote Armee Fraktion ohne diese außergewöhnlichen Polizeibefugnisse. Und dies waren Hunderte von bewaffneten, militarisierten, organisierten Menschen, unterstützt von Tausenden von Unterstützern. Ganz anders mit den islamistisch-fundamentalistischen Terroristen, die meistens als Einzeltäter agieren.
- Die Verwaltung der neuen polizeilichen Befugnisse wird an den Schweizer Geheimdienst übergeben. Im Gegensatz zu anderen Polizeisektoren sind auch in der Schweiz Angehörige des Geheimdienstes und Agenten verurteilt oder entlassen worden. Beispiele sind die Fälle Bellasi und Bachmann, die Geheimorganisation P26, das Geheimabkommen mit dem südafrikanischen Geheimdienst und das kürzlich entdeckte Abkommen mit dem Geheimdienst der Kommunistischen Partei Chinas. Zudem musste der derzeitige Chef des Schweizer Geheimdienstes vor kurzem im Zusammenhang mit der unerlaubten Bespitzelung durch die Firma CRYPTO in Zug zurücktreten, wodurch die Neutralität der Schweiz weltweit gedemütigt und delegitimiert wurde.
- Die neuen polizeilichen Maßnahmen basieren auf Dateien, die von den Geheimdiensten des Bundes (die einer Aufsichtsbehörde unterliegen) und von kantonalen Diensten (die keiner Aufsichtsbehörde unterliegen) angelegt werden. Trotz der Kontrollen wurde 1985 entdeckt, dass 900.000 Personen in der Datei waren [2]; 2010 wurde entdeckt, dass noch 200.000 Personen in der Datei waren; und 2014 sagte der Chef des Schweizer Geheimdienstes, Markus Seiler, der NZZ [14.11.2020], dass weitere 65.000 Personen in der Datei waren. In Zukunft wird also die Mindestanzahl an Personen, die überwacht und ausspioniert werden, drastisch ansteigen.
- Die Polizeisprecher haben die kleinen und seltenen Fälle, die in der Schweiz im Zusammenhang mit islamistischem Terrorismus entdeckt wurden, aufgeblasen. Es ist ausreichend, sich an Folgendes zu erinnern:
(a) Die Pressekonferenz von Kommandant Matteo Cocchi anlässlich des Übergriffs einer psychisch beeinträchtigten Frau in einem Kaufhaus in Lugano;
b) Die grossangelegte Verhaftungsaktion in Lugano mit 100 Polizisten am 22. Februar 2017, die mit einer unbedeutenden «Handvoll Fliegen» [3] endete.
In seinem Artikel vom 15. Juni im Corriere del Ticino versprach der Polizeiminister Norman Gobbi, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu respektieren.
Eine kürzlich ausgestrahlte Sendung auf «Faló» (auf RSI), die sich auf die Aussagen von Dutzenden von Tessiner Anwältinnen, Anwälten und Agenten stützte, zeigte, dass die Wohnungen von Hunderten von ehrlichen ausländischen Lohnabhängigen im Tessin weiterhin von Dutzenden von kantonalen und kommunalen Polizeibeamten durchsucht werden, wobei auch Kühlschränke, Papierkörbe und private Wäscheschubladen durchsucht werden, mit dem einzigen Ziel, herauszufinden, dass sie der Verpflichtung, sich 180 Tage im Jahr im Kanton aufzuhalten, nicht nachkommen. Hunderte von Durchsuchungen ohne jede Befugnis, ohne jede Rechtsgrundlage, unter Verstoß gegen das Bundesdatenschutzgesetz, unter Verstoß gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
III. Ein rechtlich fehlerhaftes Gesetz
- Das gesamte Gesetz basiert auf folgender Aussage des Bundesrates: «Die Polizei kann heute grundsätzlich nur eingreifen, wenn eine Straftat bereits begangen wurde».
Diese Aussage ist falsch; sie ignoriert die folgenden Bestimmungen des Strafgesetzbuches:
(a) Art. 260 ter des Polizeigesetzes, der jede, auch geringfügige, Form der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung unter Strafe stellt;
b) das Bundesgesetz vom 12. Dezember 2014, das die Gruppen «Al-Qaida» und «Islamischer Staat» und die mit ihnen verbundenen Organisationen verbietet und bestraft;
(c) § 259 StGB, der die öffentliche Aufforderung zu einem Verbrechen unter Strafe stellt;
(d) Artikel 260 quinquies des Strafgesetzbuchs, der die Finanzierung des Terrorismus unter Strafe stellt;
(e) Artikel 260 bis des Strafgesetzbuchs, der Vorbereitungshandlungen für schwere, für den Terrorismus typische Straftaten unter Strafe stellt
(f) Artikel 22 des Strafgesetzbuches, der alle möglichen Versuche, Straftaten zu begehen, unter Strafe stellt, auch solche von geringer Bedeutung [4].
- Wie kann man denjenigen einen Freibrief ausstellen, die ein Gesetz fördern, indem sie das Parlament und die Wähler täuschen?
- Zahlreiche Beispiele zeigen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft in den vergangenen Jahren in Fällen von versuchten Straftaten und sogar in Fällen von Vorbereitungshandlungen für schwere Straftaten mit Drohnen, elektronischen Kugeln, Telefon- und Internetüberwachung sowie mit Durchsuchungen, Beschlagnahmungen, Informationsaustausch mit der Polizei anderer Länder und sogar mit Präventivhaft eingegriffen haben. Dies geschah sogar jahrelang in den Moscheen von Genf und Winterthur.
- Das neue Gesetz sieht vor, dass Kooperationsverträge mit der Polizei anderer Länder allein vom Bundesrat abgeschlossen werden. Eine Ratifizierung durch die Bundesversammlung wird nicht mehr notwendig sein. Dadurch wird es der Polizei möglich, Informationen mit den Geheimdiensten der schlimmsten Diktaturen wie China, Russland, der Türkei, Burma, Syrien und vielen anderen Regimen auszutauschen, die immer zahlreicher werden und die diese Informationen nutzen, um Proteste gegen Diktatur und Völkermord zu unterdrücken. Auch hier wurde die Gewaltenteilung zugunsten der Regierung und zum Nachteil des Parlaments ausgehebelt. (Übersetzung aus dem Italienischen von Nils de Dardel, Rechtsanwalt)
Paolo Bernasconi (Prof. Dr. hc) lehrte u.a. an den Universitäten Zürich, Genf, Bocconi/Mailand. Von 1986 – 2013: Mitglied des Direktoriums des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf; ab 2014 zum Ehrenmitglied ernannt.
Fussnoten
1] Internationale Anti-Terrorismus-Konventionen enthalten Definitionen von Terrorismus (Counter-Terrorism Strategies in a Fragmented International Legal Order, Van den Herik/Schrijver, Cambridge, 2013, S. 666). In der Schweiz ist jedoch eine autonome Definition in Abschnitt I Art. 23e TPM vorgesehen. Eine Schweizer Spezialität.
2] Kreis-Bericht zur politischen Datenerhebung, 11.6.1993; Bacher-Bericht zur politischen Datenerhebung, 2.5.1996.
3] Italienischer Ausdruck.
4] Untersuchungen der Universität Lausanne verweisen auf die 21 Verurteilungen durch das Bundesstrafgericht seit 2004 wegen Unterstützung von Terrorakten, von denen 9 Verurteilungen allein auf elektronischen Nachrichten beruhten (zusammengefasst in Daniel Ryser, «Ist unser Rechtsstaat Wehrlos gegen Terrorismus. Ein Blick auf die Urteile», Republik, 17.5.2021).
Quelle: alencontre.org… vom 27. Mai 2021; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch
Tags: Repression, Widerstand
Neueste Kommentare