Die „New Economy“ des Kapitalismus: Die ArbeiterInnenklasse
„Einerseits, um den sozialistischen Theorien, andrerseits, um den Urteilen über ihre Berechtigung einen festen Boden zu geben, um allen Schwärmereien und Phantastereien pro et contra ein Ende zu machen, ist die Erkenntnis der proletarischen Zustände deshalb eine unumgängliche Notwendigkeit.“ [Engels, Vorwort von „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, 1845]
Mit diesem letzten Teil der Untersuchung der selbsternannten „Dienstleistungs-„, angeblich „wissensbasierten“ Wirtschaft des zeitgenössischen Kapitalismus ist es an der Zeit, sich der aktuellen Situation der ArbeiterInnenklasse zuzuwenden. Dies kann zwangsläufig nicht mehr als ein grober Überblick über ein Bild sein, das klarer wird, wenn wir das, was wir bereits geschrieben haben (z.B. zu Themen wie den Renten), durch eine detailliertere Untersuchung der sich verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen der ArbeiterInnenklasse ergänzen.
Für RevolutionärInnen reicht es nicht aus, zu verstehen, dass trotz der sorgfältig orchestrierten Vermeidung des Begriffs durch das Kapital, die ArbeiterInnenklasse immer noch existiert, ja nicht einmal, dass der Klassenkampf ein wesentlicher Bestandteil der Existenz des Kapitalismus ist. Die Grundprinzipien des kommunistischen Programms haben sich in den letzten dreißig Jahren nicht geändert. Das gleiche gilt für das zentrale Ziel der revolutionären Organisation, ihre politische Präsenz innerhalb der Klasse zu verstärken.
Nach mehr als drei Jahrzehnten der kapitalistischen Krise und des turbulenten Wandels wäre es jedoch naiv anzunehmen, dass die Art und Weise, wie wir an diese Aufgabe herangehen, die Situation der ArbeiterInnenklasse ausblenden könne. Unser Interesse an der gegenwärtigen Lage der ArbeiterInnenklasse ist mehr als soziologisch. Ohne ein genaues Bild der heutigen ArbeiterInnenklasse könnte jeder Versuch, Arbeiterinnen und Arbeitern die Bedeutung des kommunistischen Programms näherzubringen, auf taube Ohren stoßen. Trotz der damit verbundenen Fallstricke haben wir keine andere Wahl, als uns auf offizielle Statistiken und kapitalistische Finanz- und Konjunkturumfragen zu verlassen. Diese sind oft bedeutender für das, was sie beiläufig enthüllen, als für ihren ursprünglichen Schwerpunkt, den wir auf jeden Fall von einem völlig anderen Klassenstandpunkt aus interpretieren. Schauen wir uns die bedeutenden Veränderungen in der Situation der ArbeiterInnenklasse noch einmal an, die in dieser Artikelreihe zur „New Economy“ bereits angesprochen wurden.
Die Umstrukturierung der Arbeiterklasse
Wie wir gesehen haben, dominieren jetzt der Finanz- und der Einzelhandelssektor die britische Wirtschaft. Sogenannte Unternehmens- und Finanzdienstleistungen machen heute etwa jeden fünften Arbeitsplatz im Vereinigten Königreich aus, verglichen beispielsweise mit etwa jedem zehnten im Jahr 1981. Die Statistiken lassen natürlich nicht die verheerende Serie von Angriffen des Kapitals auf die gesamte ArbeiterInnenklasse erkennen, die notwendig waren, bevor es zu dieser Situation kommen konnte. Die offiziellen Zahlen tendieren dazu, die Aufmerksamkeit lediglich auf den relativen Rückgang der Beschäftigung in der verarbeitenden Industrie zu lenken, aber der Triumph der New Economy beinhaltete viel mehr, als nur die Wiedereinstellung von Arbeiterinnen und Arbeitern oder sogar deren Umschulung auf eine andere Tätigkeit.
Viele Arbeiterinnen und Arbeiter, die arbeitslos wurden, wurden ermutigt, ein eigenes Unternehmen zu gründen, oder aber es gelang ihnen, eine Arbeit zu finden und als „Selbständige“ unter Vertrag genommen zu werden, wobei sie oft die gleiche Arbeit wie zuvor verrichteten. Anders gesagt: Sie mussten nun ihre Sozialversicherungen vollständig selber bezahlen und ihre eigenen Mittel und Wege finden, um die sinkende staatliche Rente zu ergänzen. Zwischen 1980 und 2001 (der letzten Volkszählung) stieg die Zahl der Selbständigen von 2,3 Millionen auf 3,4 Millionen, das sind 13 Prozent der werktätigen Bevölkerung! Interessanterweise ergab eine Studie für das DTI (Department of Trade and Industry), dass „Die Zunahme der Gesamtzahl der Unternehmen seit 1980 […] ähnlich [war] wie die Zunahme der Gesamtzahl der Selbständigen, ‚dies zeigt, dass der größte Teil des Wachstums in Ein- und Zwei-Personen-Unternehmen stattgefunden hat‘“ Dies allein ist schon ein Beleg für die Dominanz der bestehenden Monopole in der New Economy. Für Arbeiterinnen und Arbeiter, die „ihr eigenes Unternehmen“ gründen, ist dies ein prekäres Geschäft, da „etwa 10 Prozent aller für die Mehrwertsteuer registrierten neuen Unternehmen innerhalb eines Jahres scheitern und etwa 35 Prozent innerhalb von drei Jahren scheitern“ [1]
Dies bestätigt den Eindruck, dass für viele Arbeiterinnen und Arbeiter die Selbständigkeit weniger die dauerhafte Eingliederung in die Reihen des Kleinbürgertums bedeutet, sondern vielmehr das Abgleiten zwischen Selbstausbeutung und der Entwicklung zu noch prekärerer Lohnarbeit. (Zumal viele Selbständige nicht einmal im Traum daran denken, ein eigenes Unternehmen zu gründen). Dennoch ist ein bedeutender Teil des Proletariats „privatisiert“ und aus dem kollektiven Bezugsrahmen der ArbeiterInnenklasse losgelöst worden. Wenn Arbeiterinnen und Arbeiter nicht durch die völlige Schließung von Firmen oder Betrieben ihre Existenzgrundlage verloren, mussten sie sich einer erheblichen Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen unterwerfen, da ihre Chefs langjährige Vereinbarungen über alles, von der Rente bis zur Überstundenvergütung und der Struktur der Basisarbeitswoche, nicht einhielten.
Darüber hinaus haben die Privatisierung der öffentlichen Versorgungsbetriebe (Gas, Elektrizität, Telefon, Wasser) und der Rückzug des Staates aus den bis dahin geschützten Schwerindustrien (Stahl, Schiffbau, Kohle) die Zahl der Arbeitslosen weit über das Produktionsband der Fabriken hinaus ansteigen lassen. Bis Mitte der achtziger Jahre verzeichneten selbst die offiziellen Arbeitslosenzahlen mehr als drei Millionen. Viele dieser ArbeiterInnen waren Männer, deren Lohn auf dem in der Nachkriegszeit üblichen Lohnverhandlungskonzept der „family wage“ [2] basierte, die es gewohnt waren, sich als Versorger des Haushalts zu sehen, und die nie wieder eine Arbeit bekommen würden. Die Zahl der Beschäftigten in der Kohleindustrie zum Beispiel, ist von 220.000 zur Zeit des Bergarbeiterstreiks auf heute 7.000 zurückgegangen. Einem kürzlich erschienenen Bericht über die Fortschritte bei der wirtschaftlichen Erneuerung in den alten Kohlerevieren zufolge „sind sechzig Prozent der seit Anfang der 1980er Jahre abgebauten Kohlearbeitsplätze nun durch neue Arbeitsplätze für Männer im selben Gebiet ersetzt worden“. [3]
Das bedeutet, dass 40 Prozent – oder 90.000 solcher Arbeitsplätze – nicht ersetzt wurden. Diese Zahlen sagen uns auch nichts darüber aus, welche Art von neuen Arbeitsplätzen durch die verschiedenen Erneuerungsprogramme mit ihren Steuervergünstigungen und anderen Investitionsanreizen für Unternehmen geschaffen wurden. (Obwohl die Entstehung von Fachmarktzentren auf oder von Bulldozern plattgewalzten Industriegeländen einen gewissen Hinweis gibt). Was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass die ganze Idee der „family wage“ zusammen mit den Arbeitsplätzen in der Schwerindustrie, die ihren Kern bildeten, über Bord geworfen wurde. Diese Situation spiegelt sich in den höheren Beschäftigungsquoten für Frauen in der „New Economy“ wider. Da 53% aller Frauen, d.h. etwa 75% der Frauen im erwerbsfähigen Alter, heute Lohnarbeiterinnen sind, beträgt die geschlechtsspezifische Zusammensetzung der Erwerbsbevölkerung nur noch etwa fifty-fifty.
Selbst jetzt, mehr als dreißig Jahre nach dem Gesetz über die Lohngleichheit, besteht der Hauptvorteil für das Kapital bei der Beschäftigung von Frauen darin, dass ihre Arbeitskraft billiger ist. Die offizielle Linie zur Situation der weiblichen Arbeiterinnen lautet, dass sich das geschlechtsspezifische Lohngefälle verbessert. Nach Angaben des Office of National Statistics lag 2002 der durchschnittliche Stundenverdienst einer vollzeitbeschäftigten Frau im Vereinigten Königreich bei 82% des männlichen Durchschnitts. (Im Vergleich zu 74% im Jahr 1986) [4] Auch diese „Tatsache“ sagt jedoch nichts darüber aus, was mit dem durchschnittlichen männlichen Lohn (z.B. in Bezug auf die tatsächliche Kaufkraft) geschehen ist, während sie die Tatsache verschweigt, dass schlecht bezahlte weibliche Arbeiterinnen bei den 26% der Beschäftigten, die Teilzeit arbeiten, überwiegen.
Nichtsdestotrotz kommt für viele Sektoren der New Economy – wie z.B. die 375.000 Menschen, die in Callcentern arbeiten – die Anordnung „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ dem Kapital sehr entgegen, da Männer und Frauen einfach auf dem gleichen niedrigen Lohnniveau beschäftigt sind. Oder besser gesagt, die subtilen Unterschiede in den Lohnsätzen beruhen zunehmend auf Bewertungen der individuellen „Leistung“ und nicht mehr auf traditionellen Kategorien der Beschäftigungsdauer oder dem Anspruch auf einen höheren Lohnsatz für den männlichen Arbeiter. Heutzutage lebt die typische Familie nicht mehr hauptsächlich vom Lohn eines Alleinverdieners, sondern ist auf den kombinierten Lohn von Mann und Frau angewiesen. Wenn man sich dazu noch vor Augen hält, dass „britische ArbeiterInnen längere Arbeitszeiten und kürzere Ferien haben als jedes andere Land in Westeuropa“ [5], was sagt uns das über die Emanzipation der Frauen? Anstatt dass alle Arbeiterinnen und Arbeiter, sowohl Männer als auch Frauen, ein entspannteres Leben führen, da die Anzahl der Stunden, die sie für das Kapital gearbeitet haben, reduziert wurde, hat sich die Tendenz zu einer kürzeren Arbeitswoche in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten dramatisch umgekehrt.
Kurz gesagt, ohne hier auf die Einzelheiten eingehen zu können, gibt es zahlreiche Belege dafür, dass die wirtschaftliche „Umstrukturierung„, die in der New Economy eingeläutet wurde und die die Antwort des Kapitals auf seine eigene Rentabilitätskrise war, dazu geführt hat, dass die LohnarbeiterInnen ihre Arbeitskraft zu schlechteren Bedingungen als in der Zeit des Nachkriegswohlstands verkauft haben. Dies ist kein Argument für die ArbeiterInnen, neue Gewerkschaften zu gründen. Der zunehmende Wohlstand der ArbeiterInnenklasse in der Nachkriegszeit war nicht das Ergebnis gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht, sondern ergab sich vielmehr aus dem Zwang der Bosse, den Forderungen der ArbeiterInnen kontrollierte Grenzen zu setzen. Wir dürfen jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass diese Zeit dieser neuen Generation von ArbeiterInnen nur vom Hörensagen bekannt ist, eine Zeit, auf die die Medien gerne als eine Periode der zügellosen Gewerkschaftsmacht, der Produktionsstörungen und der Anarchie auf den Straßen zurückblicken. In diesem Zusammenhang müssen wir darauf achten, dass sich unsere Kritik an den Gewerkschaften und ihrer Verantwortung für die Niederlagen der ArbeiterInnen von der reaktionären kapitalistischen Presse abhebt, die die Gewerkschaften und die ArbeiterInnenklasse gerne als eine Einheit darstellt und jedes Zeichen des Widerstands der Arbeiterinnen und Arbeiter als Bedrohung und eine Rückkehr zur „Gewerkschaftsmacht“ der siebziger und achtziger Jahre verurteilt.
Der Niedergang der Gewerkschaften seit den späten 1970er Jahren, als 58 Prozent der ArbeiterInnen Gewerkschaftsmitglieder waren, bis heute, wo die Mitgliederzahl bei etwa 7,4 Millionen oder etwa 26,6 Prozent der Beschäftigten liegt, ist keineswegs abgeschlossen. [6] Die Gewerkschaften spielen immer noch ihre Rolle, die Interessen der ArbeiterInnen zu opfern, wenn sie für die Bosse akzeptable Bedingungen aushandeln, vor allem im öffentlichen, aber auch im privaten Sektor. Wenn ihre Rolle nicht stärker ins Gewicht fällt, dann deshalb, weil das Kapital jedenfalls im Moment über wirksamere Waffen verfügt, die die Arbeiterinnen und Arbeiter daran hindern, sich auf einen kollektiven Kampf einzulassen.
„Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein“ [7]
Es ist verlockend, die gegenwärtige Passivität der ArbeiterInnenklasse ganz mit dem Ausmaß der kapitalistischen Propaganda zu erklären, mit ihrer fortwährenden Behauptung, dass der Sozialismus (gemeint ist die alte Staatsindustrie) tot sei und der Kommunismus (gemeint ist ein stalinistischer Polizeistaat) keine gangbare Option darstelle und in jedem Fall zusammen mit der ArbeiterInnenklasse das Zeitliche gesegnet habe. Es gibt jedoch noch andere, mehr materielle Verbindungen, die die Zurückhaltung der gegenwärtigen Generation von LohnarbeiterInnen zum Kampf verstärken.
Da ist zunächst die Last der Schulden, die dem größeren Teil der ArbeiterInnenklasse um den Hals hängt. Mit Kreditaufnahmen gegen Grundschulden auf einem neuen Rekordhoch und einer persönlichen Verschuldung, die das Jahreseinkommen übersteigt, ist selbst die Aussicht auf einen einzigen Streiktag ein gewaltiger Schritt. Dann gibt es noch die nicht wirklich versteckte Reservearmee der Arbeitslosen. Es gab so viele Änderungen an der offiziellen, auf der Zahl der AntragstellerInnen basierenden Definition von „arbeitslos“, dass sogar der Staat selbst seinen eigenen Zahlen nicht glaubt. Heutzutage veröffentlicht sogar das „Office of National Statistics“ eine doppelte Version der Arbeitslosenquote: die erste basiert auf der Zahl der „AntragstellerInnen„, d.h. derjenigen, die alle bürokratischen Hürden auf sich genommen haben und denen es gelungen ist, sich für eine Leistung zu qualifizieren. Dies ist immer die niedrigste Zahl. Das zweite „international bevorzugte Maß der Arbeitslosigkeit“ [8] gibt angeblich die Gesamtzahl der Arbeitslosen an, und dies ist immer die höhere der beiden Zahlen. Zu Beginn des Jahres berichtete die Financial Times über den schnellsten vierteljährlichen (!) Anstieg der Arbeitslosigkeit in Großbritannien seit dreizehn Jahren, wobei die „bevorzugte“ Zahl bis Ende November 2005 bei 1,53 Millionen Arbeitslose lag. (Anstieg um 111.000 in drei Monaten.) Die Zahl der AntragstellerInnen stieg im Laufe des Jahres um mehr als 84.000 und lag im Dezember bei 909.100. Die Lücke zwischen der anderthalb Millionen, die offiziell als arbeitslos anerkannt wurden, und den 900.000, die Leistungen „beanspruchen“ (und nicht notwendigerweise beziehen), lässt erahnen, wie existenzbedrohend die Aussicht, arbeitslos zu werden, sein kann. Dennoch verschleiern diese Zahlen selbst das tatsächliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit.
Wenn man die „wirtschaftliche Inaktivität“ [9] unter den Personen im erwerbsfähigen Alter misst, dann ist die Zahl weitaus höher und wächst: von 7,8 Millionen im April 2004 auf 7,9 Millionen im Dezember 2005. Mit anderen Worten, mehr als zwanzig Prozent der Erwerbsbevölkerung sind „wirtschaftlich inaktiv“, darunter Studierende und Personen in Ausbildungsprogrammen und die viel zitierten rund 2,7 Millionen, die Leistungen für Arbeitsunfähigkeit (eng. Inactivity benefit) beziehen. Heute bereitet sich die Regierung darauf vor, Menschen, die Erwerbsunfähigkeitsleistungen beziehen, anzugreifen, aber sie ist sich nicht sicher, wie sie dabei vorgehen soll. In der Anfangszeit des Abbaus der Schwerindustrie wurde sie als Mittel zur Verschleierung des Ausmaßes benutzt, in dem ArbeiterInnen auf den Schrotthaufen geworfen worden waren, und sie erfüllt diese Funktion auch heute noch. Beispielsweise zählen ehemalige Kohlereviere immer noch zu den Gebieten mit der höchsten Inanspruchnahme von Erwerbsunfähigkeitsleistungen, insbesondere bei Männern und insbesondere bei Männern über fünfzig Jahren. Tatsächlich befinden sich 30 Prozent aller Arbeiterinnen und Arbeiter über fünfzig Jahre außerhalb einer bezahlten Beschäftigung und werden als „wirtschaftlich inaktiv“ eingestuft, ebenso wie eine wachsende Zahl junger Menschen, für die die Schulzeit nie zu enden scheint. 75% der 16-Jährigen, 66% der 17-Jährigen und 40% der 19-Jährigen befinden sich in Vollzeitausbildung. Weitere 20% der 17-Jährigen befinden sich in einer Art staatlichem Ausbildungsprogramm, so dass 10% in Vollzeit und 4% in Teilzeit arbeiten und 3% „etwas anderes machen“, so dass die offizielle Arbeitslosenquote der 17-Jährigen bei 6% liegt! Ähnliches gilt für die 19-Jährigen: 40% befinden sich in einer Vollzeitausbildung und 35% in Vollzeitbeschäftigung, doch die Arbeitslosenquote für diese Altersgruppe liegt bei 6%.
Die Ausgrenzung aus der Erwerbsbevölkerung erstreckt sich jedoch auf alle Altersgruppen und beide Geschlechter, aber während in den letzten zwei Jahrzehnten mehr Frauen eine Erwerbstätigkeit aufgenommen haben, ist ein wachsender Anteil der Männer zu den „wirtschaftlich inaktiven“ Personen hinzugekommen. Das Verschwinden ganzer Sektoren traditioneller Männerberufe spiegelt sich in der Tatsache wider, dass 2001 8% der Männer unter fünfzig Jahren im erwerbsfähigen Alter als „inaktiv“ eingestuft wurden. Mitte der 1970er Jahre lag dieser Anteil noch bei weniger als 1%. [10] Der vielleicht deutlichste Einzelindikator für das Ausmaß der Arbeitslosigkeit im Vereinigten Königreich ist der Prozentsatz der erwerbslosen Haushalte. Der Gesamtdurchschnitt liegt bei nicht weniger als 16 Prozent. Natürlich verbirgt diese Zahl regionale Unterschiede – von 23% in Nordirland bis zu 11% im Südosten – und verbirgt die Tatsache, dass die höchste Arbeitslosenquote in Großbritannien im Londoner Stadtbezirk Newham zu finden ist. Es geht hier jedoch darum, dass die Gefahr der Arbeitslosigkeit eine reale ist.
Hinzu kommt die Tatsache, dass immer mehr Arbeiterinnen und Arbeiter in die Schattenwirtschaft eintreten, die „zwischen 53 und 137 Milliarden Pfund pro Jahr ausmacht und 1,4 bis 3,6 Millionen ArbeiterInnen betreffen könnte“ [11]. Mit dem „Willkommenheißen“ von Hunderttausenden von ArbeitsmigrantInnen aus Osteuropa durch den Staat, deren eigentlicher Zweck im vergangenen Jahr in einer Rede des Chefs der Bank von England enthüllt wurde, der feststellte, dass „der Zustrom von Wanderarbeitern, insbesondere im vergangenen Jahr aus Osteuropa, wahrscheinlich zu einer Verringerung des Inflationsdrucks auf dem Arbeitsmarkt geführt hat“. Mit anderen Worten, die Löhne werden niedrig gehalten. In diesem Zusammenhang ist es nicht überraschend, dass die Arbeiterklasse nicht zu der „money militancy“ einer früheren Generation zurückgekehrt ist. Überraschend ist, dass das Kapital keinen umfassenderen Angriff auf Löhne und Bedingungen gestartet hat. Die Angriffe sind weniger direkt, da der Staat und die Bosse ständig an den Renten und Soziallöhnen zehren, während die Arbeiterinnen und Arbeiter heute ihre Kredite ausgeben und verlängern und hoffen, dass sich für die Zukunft etwas ergibt.
Diese Situation kann nicht unbegrenzt aufrechterhalten werden. Wenn der „riesige Hedge-Fonds“ – so beschrieb die Financial Times kürzlich die britische Wirtschaft [12] – schließlich zusammenbricht, wird dies massive Auswirkungen auf die ArbeiterInnenklasse haben, nicht nur in Form von Arbeitsplatzverlusten, sondern in Form des Zusammenbruchs einer ganzen konsumorientierten Lebensweise. Die Situation wird eine Antwort von der ArbeiterInnenklasse als Ganzes erfordern, und es wird nicht an reaktionären nationalistischen Parteien mangeln, die bereit sind, die ArbeiterInnen weiter auf den Weg der kapitalistischen Barbarei zu führen. Nur eine politische Organisation, die wirklich für die Interessen der ArbeiterInnen steht, wird diesen Kurs aufhalten können. Diese Interessen finden ihren Ausdruck im kommunistische Programm, der internationalen Solidarität für den Sturz des Kapitalismus und die Errichtung einer globalen Gemeinschaft, die direkt zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse produziert.( ER)
Nachtrag
Der obige Text wurde 2006 geschrieben. Beim erneuten Lesen dieses Textes fällt auf, wie sehr sich das Bild der ArbeiterInnenklasse in der selbsternannten Dienstleistungswirtschaft des Kapitalismus ähnelt. Nach Jahrzehnten der kapitalistischen Umstrukturierung angesichts der Probleme, die sich aus der fallenden Profitrate ergeben (Probleme, die keineswegs auf die Wirtschaft Großbritanniens beschränkt sind), gibt es nun erkennbare Konstanten im sozioökonomischen Profil der „umstrukturierten“ ArbeiterInnenklasse. Mit „Konstanten“ meinen wir nicht, dass die Umstände, unter denen ArbeiterInnen und Arbeiter ihr Leben führen, sich nicht verändern, sondern dass die revolutionäre Organisation sich der langfristigen Veränderungen der „proletarischen Verhältnisse“ bewusst sein muss, um ihre wechselseitigen Beziehungen mit der Klasse als Ganzes zu stärken.
Noch bemerkenswerter ist jedoch, dass sich der Zustand der heutigen ArbeiterInnenklasse seit dem Platzen der Finanzblase des Kapitalismus anscheinend so wenig verändert hat. Den Zentralbanken gelang es, einen katastrophalen wirtschaftlichen Zusammenbruch abzuwenden, nur um den Tag der Abrechnung zu verschieben. Inzwischen ist die ArbeiterInnenklasse im Konsumkapitalismus gefangen, selbst wenn sie in der Welt der „Austerität“ nach dem Zusammenbruch mit tausenden Kürzung von Dienstleistungen und Unterstützungen konfrontiert ist. In der Arbeitswelt haben sich viele der in dem Artikel angedeuteten Trends fortgesetzt oder sogar beschleunigt, was darauf hindeutet, dass die „New Economy“ des Kapitalismus alles andere als einen neuen Aufbruch des Wohlstands in einer Erholungsgesellschaft signalisiert, in der Roboter die meiste Arbeit verrichten.
Ohne den ganzen Artikel durchzugehen, lohnt es sich, einige der Veränderungen zu erwähnen, die in Großbritannien nach dem Zusammenbruch der von Sparmaßnahmen dominierten, „not so New Economy“ eingetreten sind. Auf der Ebene der Beschäftigung zum Beispiel zeigen die offiziellen Zahlen, dass der Prozentsatz der „arbeitslosen“ Haushalte, in denen niemand eine bezahlte Arbeit hat, in letzter Zeit zurückgegangen ist (auf nur (!) 14,3% von etwa 16% im obigen Text). Dies ist kein Zeichen wachsenden Wohlstands, sondern ein Zeichen zunehmender Verzweiflung der Menschen, denen staatliche Arbeitslosen- und Sozialleistungen verweigert werden. Es ist ein Prozess, der noch drakonischer geworden ist unter dem „Austeritäts“-Regime, das jetzt unter dem Namen „Universal Credit“ bekannt ist. Wie der Artikel hier zeigt, war der Staat bereits darauf eingestellt, die Kosten für den Unterhalt der Menschen zu senken, die in den Jahren der Deindustrialisierung arbeitslos geworden waren. Schon vor dem finanziellen Zusammenbruch war die Erwerbsunfähigkeitsleistung (Incapacity Benefit) in Gefahr. Es dauerte nicht lange, bis die Labour-Regierung sie abschaffte. Im Jahr 2008 wich die Erwerbsunfähigkeitsleistung der bedarfsgeprüften Beschäftigungs- und Unterstützungsbeihilfe (Employment and Support Allowance, ESA), begleitet von dem inzwischen berüchtigten Gesundheitstest, der als Work Capability Assessment bekannt ist, bei dem selbst unheilbar kranke Krankenhauspatienten für arbeitsfähig erklärt wurden. [13]
In ähnlicher Weise könnte ein Anstieg des Anteils der Selbständigen an der Erwerbsbevölkerung um etwa 2% als Zeichen einer gesunden kapitalistischen Wirtschaft gewertet werden. Bei genauem Hinsehen wird jedoch klar, dass die Zahl der 65-Jährigen und Älteren, die „selbständig“ sind, massiv zugenommen hat. Wir vermuten, dass dies nicht so sehr ein gesundes Zeichen für die Zahl der fitten und aktiven „Best Agers“ (Menschen über 50 Jahren) ist, sondern ein Indikator für die wachsende Zahl von Menschen ohne eine lebensfähige Rente. Wir vermuten dies umso mehr, als uns das Office for National Statistics mitteilt, dass etwa 60% der Kleinunternehmen aus einer Person bestehen (im Vergleich zu 10% im Jahr 2001) und 90% der Neugründungen nun innerhalb eines Jahres scheitern, im Vergleich zu etwa 10% im obigen Text. Tatsächlich könnte dieser Fluchtweg für prekär Beschäftigte seine Grenze erreicht haben, da die Zahl der „Selbständigen“ zu sinken beginnt. (Von einem Höchststand von 4,8 Millionen im Jahr 2017 auf 4,7 Millionen im vergangenen Jahr). Was die Bedingungen für den Verkauf von Arbeitskraft betrifft, brauchen wir nur die Gig Economy zu erwähnen, um daran zu erinnern, wie sehr sich diese in den letzten zehn Jahren verschlechtert hat. Heute sind mehr als 6 Millionen prekäre Arbeiterinnen und Arbeiter, die als Selbständige oder ZeitarbeiterInnen bezeichnet werden, nicht durch angeblich gesetzlich verankerte Rechte am Arbeitsplatz abgedeckt. [14]
Hinzu kommen die sich allgemein verschlechternden Beschäftigungsbedingungen in Unternehmen wie Amazon [15]; ganz zu schweigen von den 2 Milliarden unbezahlten Arbeitsstunden im letzten Jahr (laut Trades Union Congress); ganz zu schweigen von der wachsenden Zahl von ArbeiterInnen, die offiziell keinerlei bezahlte Arbeit verrichten und deren Löhne, gelinde gesagt, ungewiss sind: die so genannte „Schattenwirtschaft“ (die heute schätzungsweise rund 3,6 Millionen Arbeiter umfasst) oder die „informelle Wirtschaft“ (die schätzungsweise 10% des BIP ausmacht). Es ist daher nicht verwunderlich, dass trotz eines massiven Rückgangs der Mitgliedschaften in einer Gewerkschaft seit ihrem Höchststand von 58% der Arbeiterschaft in den späten 1970er Jahren die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in letzter Zeit auf etwa 23% gestiegen ist. Frauen sind inzwischen in Gewerkschaften in der Überzahl: ein Fakt, der möglicherweise mit der Tatsache zusammenhängt, dass 55% der am schlechtesten bezahlten ArbeiterInnen Frauen sind. In jedem Fall ist die Zwangsjacke der Gewerkschaft immer noch ein Faktor, mit dem in vielen Kämpfen der ArbeiterInnenklasse gerechnet werden muss, und Revolutionärinnen und Revolutionäre brauchen eine Strategie, die die ArbeiterInnnen ermutigt, sich von ihr zu befreien. [16]
Während die Financial Times über ein „solides Lohnwachstum“ berichtet, das die Reallöhne in Großbritannien auf ein Elfjahreshoch gebracht hat (14.8.19), muss dies durch die Tatsache abgemildert werden, dass z.B. die persönliche Verschuldung jetzt sechsmal schneller wächst als die Löhne, dass 9,6 Millionen Haushalte keinerlei Ersparnisse haben und dass in jedem Fall „die Realeinkommen immer noch etwa 4 Pfund niedriger sind als der Höchststand vor der Rezession“. Kein Wunder also, dass sich die Tendenz zu einer kürzeren Arbeitswoche in den letzten Jahren umgekehrt hat. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieses kurze Update über den Zustand „unserer“ lokalen ArbeiterInnenklasse in einer zunehmend prekären, stagnierenden Weltwirtschaft nur bestätigt, dass der Kapitalismus uns keine Zukunft bietet. Es steht außer Frage, dass die Verhältnisse des modernen Proletariats das bestätigen, was Engels über das Existenzrecht sozialistischer Theorien gesagt hat. Darüber hinaus werden unsere Untersuchungen über die sich verändernden Umstände der ArbeiterInnenklasse hoffentlich dazu dienen, unser Verständnis der Aussichten für die Entwicklung einer revolutionären Perspektive innerhalb der ArbeiterInnenklasse zu vertiefen. [17]
Fussnoten
[1] übersetzt aus einem TUC-Wirtschaftsbericht „Small Firms — Myths and Realities“, verfügbar auf der Website des Trade Union Congress
[2] Lohn der dem Mann als Alleinverdiener eines Haushalts ausgezahlt wurde und der ausreichen sollte, um die gesamte Familie und die Frau als – nicht lohnarbeitende – Haushaltskraft zu ernähren
[3] “Report on the work of Sheffield Hallam University’s Centre for Regional Economic and Social Research” im “Sheffield Star”, 04.03.05
[4] ‘The Jobs People Do’, Office of National Statistics (ONS)
[5] Siehe Website des ESRC (Economic and Social Research Council): Society Today. Einem anderen Bericht des TUC zufolge arbeiten 4 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter in Großbritannien regelmäßig 48 Stunden pro Woche.
[6] Die Zahl ist von 2003, ONS-Zahlen, zitiert vom ESRC ebd.
[7] MEW-Band 3 (Die Deutsche Ideologie) S. 27
[8] Laut der Financial Times in einem Artikel mit dem Titel „Unemployment’s fastest rise in 13 years“, 19.1.06.
[9] laut Office of National Statistics gilt man als „wirtschaftlich inaktiv“ (eng. Economic inactivity) wenn man in den letzten 4 Wochen keine Arbeit gesucht hat und/oder nicht in der Lage ist innerhalb der nächsten 2 Wochen eine Arbeit aufzunehmen
[10] Informationen von der ONS und der Financial Times, 21.6.01
[11] Professor Colin Talbot, ‘Black Economy Goes Far Beyond Illegal Immigrants’, University of Nottingham
[12] Martin Wolf, in einer Ausgabe über ‚New Britain‘, 18.9.06.
[13] Universal Credit – Universal Torment – Once More an Attack on the Conditions of the Whole Working Class leftcom.org
[14] The Gig Economy: Capitalism’s New Normal leftcom.org
[15] Amazon – A Modern Capitalist Microcosm leftcom.org
[16] Durham Teaching Assistants Fight On – Against Labour and their Unions www.leftcom.org/en/articles/2017-07-28/durham-teaching-assistants-fight-on-–-against-labour-and-their-unions Durham Teaching Assistants – Not Finished Yet? leftcom.org
[17] Thesen über die Rolle der KommunistInnen in den ökonomischen Kämpfen der ArbeiterInnenklasse leftcom.org
Quelle: leftcom.org… vom 20. Juli 2021
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitswelt, Neoliberalismus, Politische Ökonomie, Widerstand
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