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München: Amoklauf, Militarisierung und imperialistische Krokodilstränen

Eingereicht on 26. Juli 2016 – 9:18

Ein 18-Jähriger tötet neun Menschen und sich selbst in München. Er lief Amok. Doch in Deutschland geht es nicht um ihn, sondern um die innere Aufrüstung: Deutschland will Stück für Stück mit Frankreich nachziehen.

Oskar Huber. Am 22. Juli fand in München ein Amoklauf statt. Ein 18-Jähriger tötete neun Menschen und dann sich selbst am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ). Die Ermordeten waren fast alle sehr jung. Die Bevölkerung in München ist geschockt und traurig.

Der Täter war anscheinend ein Einzeltäter – und definitiv kein Geflüchteter, wie Polizei und Medien nicht aufhörten zu betonen. Er war in München geboren, seine Familie lebte seit den 1990er Jahren hier, er selbst hatte die deutsche und die iranische Staatsbürgerschaft. Er hatte ein Buch zum Thema „Amok“, viel mehr wissen wir nicht. Hinweise auf ein „religiöses oder politisches Motiv“ hat die Polizei nicht gefunden. Also schon mal kein IS-Anschlag.

Eine Nacht der Ungewissheit

Eigentlich ist es seltsam, das überhaupt zu betonen, denn Amokläufe in Deutschland werden meistens von Deutschen begangen und haben mit dem Islam nichts zu tun. Zum Beispiel die Tragödie von Winnenden vor sieben Jahren. Aber in der derzeitigen politischen Lage geht es nicht hauptsächlich um die furchtbare Tat, sondern es geht „ganz allgemein“ um den islamistischen Terror und die innere Aufrüstung Deutschlands – ob das nun etwas mit dem jungen Amokläufer zu tun hat oder nicht.

Während der Nacht gab es viele Spekulationen: Erst sprach auch die Polizei von mindestens drei Täter*innen, was auch den „Terrorfall“ über München veranlasste. Wahrscheinlich hatten sich in der Panik, die vom OEZ ausging, Gerüchte um Morde in Einkaufszentren auch am Stachus verbreitet. Sie wurden später ebenso dementiert wie Berichte von Schüssen am Odeonsplatz oder am Tollwood. Eine Meldung der Abendzeitung erwies sich auch als Fehlalarm. In den Stunden von 19 bis 2 Uhr aber herrschte ein Klima der Angst und des Chaos über München. Niemand wusste, was noch alles passieren könnte – die Pressekonferenz der Polizei wurde Mal um Mal bis 2 Uhr verschoben.

Münchner*innen zeigten derweil Solidarität und twitterten unter Hashtags wie #opendoor und #offenetür, um Menschen, die auf der Straße waren, zu sich nach Hause in Sicherheit zu holen. Service-Arbeiter*innen wurden trotzdem von ihren Chefs in die Hauptbahnhofgegend einbestellt, als es noch das Gerücht eines Anschlags am Hauptbahnhof gab.

Noch mehr Gerüchte gab es um die Motive des Täters. Die drei hauptsächlichen Hypothesen: Faschist, denn Breiviks feiger Anschlag in Norwegen jährte sich zum fünften Mal und in einem Video war vom mutmaßlichen Angreifer „Ich bin Deutscher“ zu hören. IS, weil dasselbe Video auch anders gedeutet werden konnte und die allgemeine politische Stimmung einen Terroranschlag für wahrscheinlich erklärte. Und Amokläufer, was sich schließlich bestätigte. Die neun Menschen sind tot, was auch immer das genaue Motiv des Mörders war. Ihnen und ihren Familien gehören unsere Trauer und Anteilnahme. Die bürgerliche Politik aber lässt die Opfer nicht ruhen, sondern missbraucht sie für ihre Strategien – darauf müssen wir antworten.

Testlauf der Militarisierung

Offenbar gab es bereits einen Ablaufplan für den „Terrorfall“, der umgesetzt wurde. Fast der ganze öffentliche Personennahverkehr wurde eine zeitlang gestoppt, der Hauptbahnhof evakuiert. Taxis fuhren nicht oder nur eingeschränkt. Helikopter kreisten tief über der Stadt. Insgesamt waren 2.300 Cops zur Stelle, neben Spezialeinheiten aus Bayern auch welche aus Baden-Württemberg und Hessen, die Anti-Terror-Truppe des Bundes „GSG 9“ und „Cobra“ aus Österreich. Die Münchner Tageszeitung tz hat auch ankommende Soldat*innen gesehen.

Mit Pressekritik über angebliche „Hysterie“, die jetzt allerorts in der bürgerlichen Presse anzufinden sei, lässt sich das Riesenaufgebot nicht erklären. Es ist vielmehr mit einer allgemeinen politischen Lage der Instabilität aufgrund imperialistischer Interventionen überall auf der Welt sowie der Unsicherheit und Entfremdung auch in den imperialistischen Kernländern verbunden. Es ist diese Krisenhaftigkeit, die auch ein relativ stabiles Land wie Deutschland 2015 mit einer tatsächlichen Terrorwelle um Pegida herum überzog, hunderte Brandanschläge und unzählbare Angriffe auf Migrant*innen gab es. Die AfD, die diesen Terror hoffähig machte, ließ durch den bekannten Neonazi-Freund Bystron aus Bayern schon mal verlauten, Migrant*innen sollten jetzt zurückgeführt werden.

„Wir tun alles, damit wir unseren Lebensstil weiterleben dürfen und der Rechtsstaat die Oberhand behält. Die Terroristen dürfen ihr Ziel nicht erreichen“, sagte indes Kanzleramtschef Peter Altmaier wenige Stunden nach den Schüssen, also noch bevor er wusste, worum es geht und dass es diesmal gar keinen Terroristen gab. Ihm geht es um einen „Lebensstil“, aber nicht unseren, sondern den des Kapitals und den von Bütteln wie Altmaier selbst.

Der Kanzleramtsminister verteidigt einen „Lebensstil“, der sich auf Gewalt und Unterdrückung weltweit und in Deutschland stützt, weshalb er auch sogleich einen Ausbau der Sicherheitsorgane forderte. Sicherheitsorgane, die bekanntlich mit dem tatsächlichen Terror der NSU eng verwoben waren. Uns wird das nicht sicherer machen.

Der Testlauf einer Militarisierung in Deutschland ist aber nicht auf ein einzelnes Ereignis beschränkt: Bei den letzten G8- und G7-Gipfeln in Heiligendamm und Garmisch wurde die Bundeswehr hinzugezogen. Für die Sicherheitskonferenzen in München sind immer wieder einige Soldat*innen zum Objektschutz zugegen. Als München mit einer leeren Terrorwarnung ins neue Jahr stolperte, war die Einsatzpolizei, die den Hauptbahnhof abriegelt, kaum von Militär zu unterscheiden. Wir erinnern uns an die Militarisierungen von Kiezen 2014 in Hamburg und Berlin. Frisch sind die Bilder der Bullenangriffe auf das Rigaer-Wohnprojekt in Berlin.

Wir wollen nicht der Polizei danken, wie es Merkel jetzt verlangt – dem rassistischen Apparat des Kapitals, der Migrant*innen tagtäglich am Münchner Hauptbahnhof tyrannisiert und Geflüchtete in Krieg, Verfolgung und Not abschiebt – wir sind froh, dass die meisten von ihnen wieder gehen. Cops sind Instrumente der Herrschenden. In Friedenszeiten erleben wir sie meist als Skalpell, eingesetzt gegen unterdrückte Teile der Gesellschaft und gegen linke Demos. Aber in Zeiten der Bonapartisierung imperialistischer Zentren können sie zum Breitschwert werden, wie in den USA gegen BlackLivesMatter oder in Frankreich mit dem Ausnahmezustand.

In jeder*m imperialistischen Führer*in steckt ein kleiner Bonaparte, dessen Aktualität von der Lage der Kämpfe abhängt. Auch in Merkel und Seehofer. Klammheimlich freut sich dieser kleine Bonaparte bei jeder Mordtat, die ihm die Möglichkeit zur Vorbereitung seiner viel größeren Mordtaten gibt. Seine zynischen Hoffnungen waren diesmal vergebens, doch in einer Welt der Kriege und Krisen wird er nicht lange warten müssen.

Krokodilstränen des Imperialismus

Schauerlich waren die Anteilnahme-Botschaften der imperialistischen Staaten USA und Frankreich, wissen wir doch, was ihre „Anteilnahme“ bedeutet: Militarisierung im Inneren, Interventionen im Nahen Osten und am Afrikanischen Kontinent. Also mehr Tote, mehr Terror. Sie gingen zum Zeitpunkt ihrer falschen Kondolenzen noch davon aus, es handle sich um einen Terroranschlag. So erklärte Hollande: „Der terroristische Anschlag der München getroffen und viele Menschen getötet hat, ist ein abscheulicher Akt mit dem Ziel, nach anderen Ländern auch in Deutschland Angst zu schüren.“ Angst schürt der französische Imperialismus selbst in Mali oder Syrien mit seiner blutigen Militärpräsenz.

Der Kriecher Tsipras, dem jede Gelegenheit zum Schleimen vor Merkel lieb ist, schreibt unterdessen, man dürfe „nicht zulassen, dass Gewalt zur Zukunft Europas wird.“ Rückendeckung für den EU-Hegemon Deutschland von einem gebrochenen Populisten, der Geflüchtete als einer der „Polizisten Europas“ mit Gewalt von den Grenzen hält und sie einsperrt.

Wen aber meinen diese Leute, wenn sie den islamistischen Terror an die Wand malen? Bei Würzburg ging erst von einer Woche ein mutmaßlich 17-jähriger afghanischer Geflüchteter auf Menschen im Zug los, wurde danach von der Polizei erschossen. Anscheinend wurde zuvor ein Verwandter von ihm in Afghanistan getötet. Die Tat des minderjährigen unbegleiteten Geflüchteten hätte es nie gegeben, wenn der Imperialismus nicht seit eineinhalb Jahrzehnten in Afghanistan Krieg führen müsste.

Schließlich durfte auch US-Präsident Obama nicht fehlen: „Unsere Herzen sind bei den Opfern. Deutschland ist einer unserer engsten Verbündeten.“, sagte er und bat „Hilfe“ an. Es ist der Präsident des Landes, dessen „Hilfe“ für eine halbe Millionen Tote allein im Irak verantwortlich ist. Für den nicht endenden Krieg in Afghanistan. Für den reaktionären Krieg in Syrien. Der Präsident, der mit Luftschlägen und Unterstützung für Reaktionär*innen ein Trümmerfeld aus der Region macht, Landstriche entvölkert und den IS selbst erst möglich gemacht hat.

Wir wollen unsere Opfer nicht von den Imperialist*innen Hollande, Obama und Merkel betrauern lassen. Ihre Tränen sind nicht echt. Es sind nur Vorboten der nächsten Massenmorde, die sie befehlen.

Quelle: www.klassegegenklasse.org…  vom 23. Juli 2016

 

 

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