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Die widersprüchliche Natur des italienischen M5S

Eingereicht on 7. Oktober 2016 – 11:11

Die Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle, M5S) wurde im September 2009 durch den Komikerstar Beppe Grillo gegründet. Wie steht es um dieses politische Phänomen,

das vor dem Hintergrund des starken Rückganges der Kämpfe und des Klassenbewusstseins einen grossen Teil seines Elektorates in der einfachen Bevölkerung gewinnen konnte?

Franco Turigliatto. Der Sieg des M5S in den Gemeindewahlen vom Juni 2016 in den zwei italienischen Symbolstädten, der Hauptstadt Rom und in der wichtigsten Industriestadt Italiens, Turin, mit seinen beiden jungen Kandidatinnen Virginia Raggi und Chiara Appendino hat zahlreiche Fragen über die politische Rolle und die Natur des M5S aufgeworfen

Die Gründer und die elektorale Dynamik

Die ersten Initiativen zum Aufbau des meetups «Amici di Beppe Grillo»[i] gehen auf 2005-2006 zurück. Es sind aber die zwei Mobilisierungstage des «Vaffanculo Day» [Geh-zum-Teufel-Tag] von 2007 und 2008 gegen die politische Elite – die sogenannte «Kaste» – , die die Bedingungen zur Gründung der Fünf-Sterne-Bewegung im September 2009 geschaffen haben.

Die ersten elektoralen Tests bei den Lokalwahlen verliefen bescheiden. Erst 2012 erringt der M5S in einigen Städten die ersten positiven Resultate, darunter in Genua und vor allem in der Provinzhauptstadt Parma, wo der M5S das Bürgermeisteramt eroberte. Dies ist dann der Beginn der grossen Wahlerfolge im Jahre 2013, wo er mit 25,56% der Stimmen (8´691´106) zur stärksten Partei aufstieg, gegen die 25,56 % des PD [Partito Democratico], der allerdings zusammen mit seinen verbündeten Kräften 29,18% der Stimmen erreichte und damit von dem Mehrheitsaufschlag für die Abgeordnetenkammer profitierte.

Bei den Europawahlen von 2014 erreichte der M5S 21,16% gegenüber dem Ausnahmeresultat des PD von 40,81% und der Forza Italia von Berlusconi, die einen starken Verlust (16,81%) hinnehmen musste. 2016 dann der Sieg in Rom und in Turin; verhaltener sind die Ergebnisse in Mailand und in Bologna und vor allem in Neapel, wo der bisherige Bürgermeister Luigi De Magistris, an der Spitze einer breiten Koalition der Linken mit der Bevölkerung im Amt bestätigt wurde.

Neue Umfragen bezüglich aktueller Wahlabsichten weisen auf einen annähernden Gleichstand des M5S, des PD und einer Einheitsliste der Rechten hin.

Zwei Männer haben das politische Projekt des M5S aufgebaut und definiert: einerseits der schillernde Komiker Beppe Grillo, der für seine Schmähtiraden gegen die politische Elite, die Korruption, die Umweltzerstörung bekannt ist und eine packende Wirkung auf ein breites Publikum hat. Andererseits der Manager Gianroberto Casaleggio, Eigentümer eines grossen Unternehmens, der Casaleggio Associati, das auf digitale Kommunikation und Marketing spezialisiert ist. Dieses hat denn auch die Bildung einer über das Internet zentralisierten und kontrollierten Organisation sichergestellt.

Der M5S ist eine äusserst vertikal geführte politische Organisation mit einer dominanten Rolle der beiden Führer. Der kürzliche Tod von Casaleggio hat an dieser Grundstruktur nichts verändert, da die Rolle des Vaters direkt vom Sohn übernommen worden ist; dieser führt heute auch die oben erwähnte Firma. Allerdings haben die Entwicklung und die Präsenz der Bewegung in den Institutionen das Gewicht der Führerinnen und Führer der parlamentarischen Gruppen in der Abgeordnetenkammer und im Senat gestärkt und auf nationaler Ebene wurde ein Führungsausschuss aus fünf Personen gebildet; Grillo behält sich aber weiterhin das letzte Wort vor.

Natur und Besonderheiten des M5S

Was sind die besonderen Merkmale dieser Bewegung? In einer alten marxistischen Terminologie könnte man aufgrund der Zusammensetzung ihrer Führungsgruppe, ihres politischen Programmes und der erklärten Zielen von einer kleinbürgerlichen Bewegung sprechen: Demokratisierung und Rationalisierung der Gesellschaft und des Funktionierens der Institutionen, hartes Durchgreifen gegen die Korruption und die Privilegien, Durchsetzen einer Transparenz des öffentlichen Handelns und eine Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger mithilfe des Internets. Das kapitalistische System kommt in keinerlei Form zur Sprache; lediglich seine Auswüchse und die Korruption seiner Verwalter werden thematisiert. Deshalb führt der M5S keine Kampagne gegen die vorherrschende neoliberale Wirtschaftspolitik und gegen die kapitalistische Austeritätspolitik. Seine zentrale Losung ist die Forderung nach Ehrlichkeit, und das wichtigste politische Thema ist der Kampf gegen die Privilegien der politischen Elite. Die Bewegung wird als «Reinigerin» und «Retterin» der Gesellschaft angesehen. Folgerichtig erklärt sich diese Bewegung weder als links noch als rechts, nicht nur, weil sie sich so versteht, sondern weil sie bewusst und geschickt immer wieder eine Mischung aus verschiedenen Sprachen einsetzt und Botschaften und Vorschläge vorbringt, die darauf ausgerichtet sind, linke und rechte Sympathien auf sich zu ziehen. Auf einigen Themen wie Umwelt, Verkehr, Bürgerrechten, Energie werden linke Inhalte vertreten und die Aktivistinnen und Aktivisten vom M5S beteiligen sich aktiv an den Mobilisierungen auf diesen Themen. Auf anderen Themen, etwa der Migration, den Rechten der Lohnabhängigen im öffentlichen Sektor, der Rolle der Gewerkschaften, werden rechte Positionen aufgenommen; so gibt es eine Menge von öffentlichen Äusserungen einiger seiner Exponentinnen und Exponenten mit klarer xenophober Ausrichtung, um die entpolitisierten Sektoren der breiten Bevölkerung oder dann der Rechten an sich zu binden.

Die Fähigkeit der Führungsgruppe besteht gerade darin, ein mehrdeutiges, aber glaubwürdiges Image zu schaffen. Mit dem Zusammenbruch des Klassenbewusstseins bei den Arbeitern und Arbeiterinnen wurde es möglich, an das durchschnittliche politische Bewusstsein von breiten Bevölkerungsschichten anzuknüpfen, die ihre Lebensbedingungen unerträglich finden und eine Veränderung wollen; da sie jedoch über keine Organisation ihrer Klasse und über keine kollektive Antwort verfügen, suchen sie die Veränderung im Umfeld der «Anti-Kasten» Kampagne des M5S.

Die stürmische Entwicklung dieser Bewegung wäre in der Tat nicht erklärbar ohne eine Berücksichtigung der Ereignisse des ersten Jahrzehntes dieses Jahrhunderts, den grossen Kämpfen der Arbeiterklasse und der sozialen Bewegungen, deren Niederlagen, das Scheitern der Mitte-Links-Regierung von Prodi (2006 – 2008) wie auch des Partito della Rifondazione comunista. All dies sind Ereignisse, die eine tiefe Desillusionierung und Demoralisierung in breiten Schichten der Arbeiterklasse und einen Zusammenbruch des Klassenbewusstseins selbst in seinen elementarsten Formen nach sich gezogen haben. Die Wirtschaftskrise von 2008 und die zerstörerische Austeritätspolitik haben diese Phänomene zum Äussersten getrieben: die Arbeiterklasse trat nicht mehr als politisches Subjekt auf.

Die Politik von Grillos Bewegung

Der M5S hat wohl einige Entscheidungen der Aussenpolitik und der militärischen Intervention der verschiedenen Regierungen kritisiert, ohne aber die Rolle Italiens als kapitalistische und imperialistische Macht zur Diskussion zu stellen. Hinsichtlich der Europäischen Union hat er je nach Umständen widersprüchliche Positionen eingenommen, die zwischen dem Vorschlag des Austritts aus dem Euro bis zu anderen, eher moderaten und reformistischen, Ideen bezüglich der Europäischen Institutionen hin und her schwanken. Die Zugehörigkeit zur selben Gruppe im Europäischen Parlament wie die UKIP von Farage ist Ausdruck der Widersprüchlichkeit der Partei von Grillo, ohne dass sie jedoch alle politischen Positionen mit der englischen extremen Rechten teilen müsste.

Der M5S ist ebenfalls eine stark institutionalistische Partei: sie führt demokratische Kämpfe im Parlament und bekämpft aktuell die institutionelle Gegenreform von Renzi, die die Verfassung von 1948 über den Haufen wirft. Der M5S versucht aber nicht, sein Vorgehen mit einer demokratischen Massenaktion und noch viel weniger mit einer aktiven Arbeiterbewegung zu verbinden. Umso weniger verfügt er über ein wirkliches Programm, das die dramatischen Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung nach Jahren der Austeritätspolitik thematisieren würde, allem voran die Fragen der Arbeit und der Prekarität.

Der M5S schlägt in der Tat als Ziel die Einführung weiterer Steuererleichterungen für die kleinen und die mittleren Unternehmen vor, die als Dreh- und Angelpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung angesehen werden; ferner zielt er ein unsicheres Einkommen – eine Art Almosen – an für diejenigen in der Bevölkerung, die ohne Arbeit sind. In seinem Programm findet sich keinerlei Zweifel an den neoliberalen Dogmen des Kapitalismus, keinerlei Notwendigkeit einer neuen, starken öffentlichen Intervention in die Wirtschaft, keinerlei allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit, keinerlei Verteidigung der kollektiven Arbeitsverträge. Dies ist kein Zufall angesichts seines klassenübergreifenden Charakters.

Seine Führungsgruppen entstammen den Mittelschichten und dem Kleinbürgertum, von Sozialarbeitern über Wirtschaftswissenschafter verschiedener Ausrichtung bis zu Freiberuflern. Die Basisaktivisten stammen aus verschiedenen Milieus; es sind Arbeiter und Arbeiterinnen aus selbständiger Arbeit oder Lohnabhängige, aus intellektuellen Bereichen, aber nicht nur. Ein Teil von ihnen sind Prekäre.

Ein viel geringerer Teil der Basismitglieder kommt aus dem industriellen Umfeld und aus der «traditionellen» Arbeiterklasse. Zahlreiche die Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Privatwirtschaft wie dem öffentlichen Bereich wählen jedoch den M5S, selbst einige Basisdelegierte der Gewerkschaften. Die letzten Gemeindewahlen haben die Fähigkeit der Bewegung von Grillo aufgezeigt, die Stimmen von bedeutenden Teilen der verarmten und marginalisierten Bevölkerung zu mobilisieren, die auf der Suche nach einer Alternative zu ihrer Situation sind.

Die innere Struktur und das Verhältnis zu anderen Kräften

Die innere Struktur ist mit dem Ziel aufgebaut worden, den beiden Führern die volle Kontrolle über die gesamte politische Organisation zu sichern; die Entscheide werden schnell online durch eine womöglich gesteuerte Abstimmung unter den Mitgliedern gefällt, ohne eine wirkliche, öffentliche Diskussion. Und so wird auch bei Ausschlüssen von denjenigen Mitgliedern verfahren, die als nicht konform mit den Grundsätzen der Organisation betrachtet werden, oder, im einfacheren Fall, von den offiziellen Positionen abweichen. Die Basisstruktur des M5S bestehen in den sogenannten meetups, mittels derer die Initiativen aufgezogen werden. Seltener werden direkte Versammlungen an der Basis durchgeführt; solche nehmen während Wahlkampagnen allerdings eine grössere Wichtigkeit ein.

Aus demokratischer Sicht erweist sich deshalb das innere Leben des M5S als sehr diskussionswürdig. Er ist ferner eine gegenüber anderen politischen Kräften tendenziell sektiererische Formation; für seine Mitglieder existiert nur ihre Bewegung; alle anderen sind Teil des alten Systems und gehören einer äusseren, «unreinen», Welt an. Der M5S fördert die Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger, aber nur im Rahmen seiner Methoden und sofern sie sich dabei seinen Formen unterordnen. Er nimmt nicht an, dass diese Teilnahme im Sinne einer Entwicklung gesellschaftlicher Autonomie strukturiert werden kann; daher misstraut er unabhängigen gesellschaftlichen Strukturen, die auf Eigeninitiative basieren.

Die Regierung in Städten wie Rom und Turin setzt den M5S einem starken Druck seiner politischen Gegner und grossen politischen und administrativen Problemen aus. Es wird wichtig sein, die sich daraus ergebenden Entwicklungen zu beobachten.

Dies gerade auch, weil der Erfolg der Bewegung von Grillo die vernichtende Niederlage und die Krise der Linken in unserem Land hervorhebt und einige Sektoren dazu treibt, ungerechtfertigte Illusionen über diese politische Formation zu hegen. Es liegt ausserhalb der Natur des M5S, auf die Entstehung der sozialen Massenbewegung hinzuarbeiten, die für den Kampf gegen die Politik der Unternehmer und ihrer Regierungen unverzichtbar ist.

Der M5S wird wie bis anhin versuchen, die Früchte der breiten Unzufriedenheit in der Bevölkerung auf der Ebene von Wahlen einzusammeln, indem er einige, aber nur einige der Untaten der Regierung anklagt, ohne jedoch den Markt oder die Regeln des Kapitalismus infrage zu stellen.

Es gibt keine Abkürzungen bei der Aufbauarbeit einer Massenbewegung der Arbeiterklasse und einer antikapitalistischen Klassenorganisation. Die Rolle des M5S ist nur eine Bestätigung dafür.

Quelle (des italienischen Originals und der französischen Übersetzung): anticapitalista.org… ; die Übertragung vom Italienischen ins Deutsche erfolgte durch die Redaktion maulwuerfe.ch

[i] http://www.beppegrillo.it/meetup/ Meetups sind Internet Applikationen, die wie Meetings funktionieren. Sie erlauben die Interaktion von geographisch verteilten Gruppen und Individuen und werden zentral aufgesetzt und moderiert.  [Anm. d. Ü]

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