Streitgespräch: «Ein Streik braucht jahrelange Arbeit»
Kaspar Surber. Als das Land stillstand: Ein Gespräch mit den GewerkschafterInnen Natascha Wey und Florian Keller und dem Historiker und WOZ-Autor Stefan Keller über das Streiken gestern und heute.
WOZ: Der Landesstreik von 1918 gilt als schwerste politische Krise in der Geschichte des Bundesstaats. Stefan Keller, was war er tatsächlich: ein Umsturzversuch, fast schon ein Bürgerkrieg oder am Ende doch nur ein Streik?
Stefan Keller: Er war ein ungewöhnlicher Streik. Ein politischer Massenstreik, der sich im Unterschied zu Branchenstreiks nicht auf den Arbeitsvertrag beschränkte, sondern auf die politischen Verhältnisse zielte. Unter den neun Forderungen zum Streik gab es solche, die den Arbeitsplatz betrafen, wie die nach der 48-Stunden-Woche, andere, wie das Frauenstimmrecht, waren politischer Natur. Kurz: Man hat versucht, eine politische Veränderung über das Mittel der Arbeitsverweigerung durchzusetzen.
In welcher gesellschaftlichen Situation befanden sich die Streikenden, dass sie gleich ein ganzes politisches Programm formulierten?
Stefan Keller: Im Ersten Weltkrieg haben die Leute in den Arbeiterquartieren oft gehungert, weil die Lebensmittel knapp und teuer waren. Die Löhne waren gering, die Kriegsgewinne hingegen gross, bei den Industriellen wie bei den Bauern. Die soziale Schere ging auseinander, gleichzeitig fühlte man sich als Arbeiter politisch ohnmächtig, als Arbeiterin erst recht. Das alles hat sich in diesem November zusammengeballt, auch vor einem internationalen Hintergrund. Zufälle und militärische Provokationen führten schliesslich zum Landesstreik.
Natascha Wey, interessiert Sie als jüngere Gewerkschafterin und Präsidentin der SP-Frauen der Landesstreik – oder ist er eine verstaubte Erinnerung?
Natascha Wey: Er inspiriert mich sehr. Die SP-Frauen, die letztes Jahr ihr Hundert-Jahr-Jubiläum feierten, gäbe es nicht ohne die damalige Frauenagitationskommission. Besonders wichtig finde ich die Erkenntnis, dass die Frauen in der Linken immer doppelt zu kämpfen hatten: gegen die ökonomische Situation und gegen das Patriarchat, auch in der Linken. An Figuren wie Rosa Bloch-Bollag lässt sich zeigen, dass die Frauen eine doppelte Überschreitung der Konventionen wagen mussten. Rosa Bloch-Bollag war Teil der Streikbewegung, stellte also ökonomisch die Machtfrage, und sprach gleichzeitig als erste Frau vor dem Zürcher Kantonsrat, ohne dass es ein Frauenstimmrecht gab. Ich kriege Gänsehaut, wenn ich daran denke, was das für einen Mut brauchte und was für eine Radikalität.
Stefan Keller: Und was für eine List! Die Frauen beriefen sich auf einen längst vergessenen Verfassungsartikel, laut dem Petitionäre vom Kantonsrat angehört werden konnten.
Natascha Wey: Mit ihren Regenschirmen haben die Frauen Einlass ins Parlament gefordert. Die Methode könnte man wieder einmal aufnehmen. Es regnet ja so oft an Demos.
Florian Keller, teilen Sie die historische Begeisterung der beiden?
Florian Keller: Das damals formulierte Programm wurde auf jeden Fall zum Jahrhundertprogramm der Gewerkschaften und der Linken in der Schweiz. Das ist das wahrscheinlich dickste Brett, das in der Schweizer Politik je gebohrt wurde, weil man an diesem Programm nie Abstriche gemacht hat, sondern bis heute an seiner Umsetzung gearbeitet hat. Wenn man gleiche Löhne für alle fordert, dann beruft man sich immer noch auf dieses Programm. Vielleicht hat es aber auch verhindert, dass man sich in den letzten hundert Jahren fundamentale Gedanken über ein neues Programm oder neue Programmpunkte machte.
Aus dem Heute betrachtet: Welcher Punkt fehlt?
Florian Keller: Das Megathema der Kinderbetreuung.
Natascha Wey: Das wollte ich auch gerade sagen: die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie und die unbezahlte Arbeit.
Stefan Keller: Die ökologischen Fragen fehlen natürlich auch, die sich heute mit einer grossen Dringlichkeit stellen.
Rückblickend war das damalige Programm höchst erfolgreich. Wie haben die Zeitgenossen den Landesstreik erlebt? Die Streikenden kapitulierten ja nach nur drei Tagen, um ein Blutbad durch die Armee zu verhindern.
Stefan Keller: Die Linke hat den Landesstreik nicht einfach als Niederlage empfunden. Es mag etwas Propaganda drinstecken, aber in den zeitgenössischen Dokumenten heisst es: Der Streik war ein Erfolg. Wir haben jetzt einmal gezeigt, was wir können. Wir können dieses Land stilllegen. Das hat es vorher nicht gegeben.
In der Gegenwart ist kein Landesstreik in Sicht, der das Land stilllegt. Geplant ist dafür ein Frauenstreik. Worum geht es?
Natascha Wey: Ein Streik bedeutet immer, sich in eine Verhandlungsposition zu bringen. Die Frauen in der Schweiz finden im Moment kaum Gehör, und das wollen wir mit dem Frauenstreik ändern. In einer anderen Form als 1918 geht es auch heute um ökonomische Fragen: nicht um Hunger, aber um die Altersarmut und die unbezahlte Arbeit. Ausserdem haben Frauen eine schlechtere Stellung auf dem Arbeitsmarkt und arbeiten oft in Branchen mit tiefen Löhnen. Teilzeitarbeit und Kinderbetreuung verunmöglichen es vielen Frauen, ökonomisch selbstständig zu sein. Aus politischer Sicht ist die Vertretung von Frauen in der Regierung und im Parlament virulent. Im Ständerat ist der Zustand pitoyabel. Und schliesslich ist die Gewaltfrage wichtiger geworden, gerade unter jüngeren Frauen: Sexistische Sprüche oder sexuelle Übergriffe werden nicht mehr einfach hingenommen.
Wie steht es um die interne Unterstützung in den Gewerkschaften für den Frauenstreik? Dominiert wie 1918 das Patriarchat?
Natascha Wey: Der Kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds findet erst Anfang Dezember statt, da wird man die Unterstützung bestimmt beschliessen. Für uns Frauen ist aber so klar, dass wir streiken wollen, da müssten wir eigentlich gar nicht fragen gehen. Aber wir brauchen Ressourcen.
Florian Keller: Bei uns in der Unia hat der Frauenstreik eine sehr hohe Priorität. Wir sind in der Region Zürich-Schaffhausen gerade daran, unseren Beitrag fürs nächste Jahr zu definieren, und wir werden sicher mehrere Leute Vollzeit dafür einsetzen. Der Frauenstreik wird dann erfolgreich sein, wenn er zu einer thematischen Sammlungsbewegung wird von Leuten, die Lohngleichheit wollen, bis zu solchen, die sich gegen die sexuelle Belästigung wehren.
Die Unia selbst kam wegen sexueller Belästigung in die Kritik. Was ist seither passiert?
Florian Keller: Wir haben viel gearbeitet und viel über Sexismen und Rassismen diskutiert. Die Zentrale hat ein Reglement überarbeitet, wie man mit sexuellen Belästigungen umgeht, es wird mehr in die Ausbildung von jungen Führungskräften investiert.
Natascha Wey: Gewerkschaften sind hierarchisch, weil sie durch klare Abläufe schlagkräftig werden, gleichzeitig führt dies zu Macht- und Ausbeutungsverhältnissen. Es bleibt für eine linke Institution eine Herausforderung, wirkungsvoll und emanzipatorisch zugleich zu sein. Nur wenn wir das erfüllen, sind wir auch ein Vorbild.
Um zurück zum Frauenstreik zu kommen: Wie muss man ihn sich vorstellen?
Natascha Wey: Es wird sicher kein klassischer Streik werden, denn typische Frauenberufe kann man ja nicht bestreiken: Man kann nicht die Spitäler schliessen oder aufhören, die Kinder zu betreuen. Da müssen wir uns neue Protestformen überlegen.
Florian Keller: Es wird eine niederschwellige, individuelle Beteiligungsmöglichkeit brauchen, damit möglichst viele Frauen an diesem Tag ihre Arbeit niederlegen können.
Florian Keller, Sie sind gerade daran, einen Streik der Bauarbeiter zu organisieren. Was ist die grösste Hürde, damit ein Streik überhaupt stattfindet?
Florian Keller: Ich muss etwas ausholen, denn es gibt verschiedene Streikformen. In Zürich legten wir diese Woche im Bau zum Beispiel einen Protesttag ein, um die Entschlossenheit der Bauarbeiter bei den Verhandlungen um den Landesmantelvertrag auszudrücken. Wir haben die betrieblichen Abläufe gestört, damit die Firmen die Planung umstellen müssen, etwa bei der Anlieferung von Beton. Eine weiter gehende Form des Streiks wäre es zu sagen: Wir treten jetzt in den Streik und kommen erst wieder zur Arbeit, wenn wir unsere Postulate umgesetzt sehen. Das verlangt den Leuten aber viel mehr ab. Es gibt immer zwei Umstände, die die Leute davon abhalten, Kampfmassnahmen zu ergreifen, um ihre Interessen durchzusetzen: Das sind die Angst und die Ohnmacht. Unsere Aufgabe ist es, damit einen Umgang zu finden.
Wie schaffen Sie Mut?
Florian Keller: Es geht um gegenseitige Verbindlichkeit zwischen den Gewerkschaften und den Beschäftigten: Hat man das Vertrauen, die Erfahrung, etwas zu erreichen? Gibt es gute Beispiele, die glaubhaft machen, es könnte funktionieren? Welcher Art und welchem Ausmass von Repression ist man ausgesetzt, wenn man sich beteiligt? Werden die anderen mitmachen? Das ist die grösste Frage: Werde ich nicht alleine sein? Um die Angst und die Ohnmacht zu überwinden, müssen wir eine tiefe Vertrauensbeziehung zu den Leuten haben. Das bedeutet jahrelange Arbeit. Ein Streik ist oft die Kumulation eines langen Prozesses.
In den letzten Jahren hat man den Eindruck, der Streik werde nicht mehr nur in den klassischen Branchen wie dem Bau als Kampfmittel angewandt. Neuerdings wird auch in Medienbetrieben gestreikt, bei der Nachrichtenagentur SDA etwa oder der Zeitung «Le Matin».
Stefan Keller: Ich war einige Jahre Präsident der Journalisten bei Syndicom. Wir haben nie geglaubt, dass ein Streik unter den individualisierten Journalisten möglich würde. Bei aller Begeisterung, dass es nun geklappt hat, muss man aber schon sehen: Es sind letztlich Verzweiflungsstreiks von Belegschaften, die ihre Jobs verlieren. Es ist gut und sehr wichtig, dass die kämpfen, aber es ist doch viel schwieriger, in einer ungekündigten Stellung bessere Arbeitsverhältnisse zu erstreiken.
Florian Keller: Ich stimme zu, dass sich bei defensiven Streiks in der Schweiz wieder eine Kultur etabliert. Das hat viel mit der Romandie zu tun, wo bei Entlassungen in der Industrie fast schon reflexartig gestreikt wird. Da machen auch die Besserverdienenden mit, die sogenannten White Collars. Ein offensiver Streik in ungekündigten Arbeitsverhältnissen ist nochmals eine ganz andere Geschichte.
Natascha Wey: In einer neoliberalen Arbeitswelt mit ihren ausdifferenzierten Berufen und häufigen Stellenwechseln ist es aber auch schwierig geworden, eine Solidaritätserfahrung hinzukriegen. Das macht die Gewerkschaftsarbeit heute zur Herausforderung.
Stefan Keller: Das war aber doch schon 1918 nicht anders. Die Leute wurden bei jeder kleinen Krise wieder entlassen.
Natascha Wey: Das stimmt, aber damals gehörte es eher zum Kulturverständnis, Teil einer Gewerkschaft zu sein.
Viele Beschäftigte, gerade Jüngere, verstehen sich heute als Ich-AG. Wie gewinnen Sie diese für ein gewerkschaftliches Engagement?
Natascha Wey: Wir versuchen beim VPOD, eine Antwort auf die extrem ausdifferenzierte Berufswelt zu geben. Eine Reinigungsmitarbeiterin hat andere Bedürfnisse als eine Lehrerin. Die eine muss darum kämpfen, dass ihr Lohn existenzsichernd ist. Die andere hat an sich einen guten Lohn, ihr geht es um andere Fragen. Die Bürokratie ist ein wahnsinnig grosses Thema. Die Leute in den Schulen, in der Verwaltung, in Dienstleistungsberufen haben das Gefühl, dass sie nicht mehr selbstbestimmt ihre Arbeit machen, sondern von einem allmächtigen BWL-Apparat kontrolliert werden. Ihnen geht es darum, dass sie eine gewisse Autonomie im Arbeitsverhältnis zurückgewinnen.
Florian Keller: Wir wollen erreichen, dass die Gewerkschaft nicht mehr als Stellvertretung wahrgenommen wird: dass man als Mitglied nicht einfach seinen Beitrag zahlt wie einen Ablass, und dann soll die Gewerkschaft kämpfen. Für uns als Gewerkschaft wiederum sollte nicht der Versicherungsgedanke im Vordergrund stehen, etwa die Garantie eines Rechtsschutzes. Zwei Drittel unserer finanziellen Ressourcen sollen vielmehr in die Bewegungsarbeit fliessen, und zwar über den Rayon des Arbeitsplatzes hinaus.
Wie wollen Sie das erreichen?
Florian Keller: Vielen Leuten fehlt im Alltag die Erfahrung, dass eine kollektive Organisation wirksam sein kann. Weil sie nie in einem Verein ihre Interessen wahrgenommen oder sich nie im Quartier gewehrt haben. In der Stadt Zürich und Umgebung arbeiten wir beispielsweise stark in der portugiesischen Community. Eines der grössten Probleme ist die Schule: Ihren Kindern wird viel zu häufig ADHS diagnostiziert und Ritalin verschrieben. Wenn wir ihnen in solchen Fragen Unterstützung bieten, dann vertrauen sie dem Instrument der kollektiven Aktion auch viel mehr, wenn wir sie später auf dem Bau oder in der Hotelreinigung antreffen.
Stefan Keller: Bei dieser Diskussion über die Gewerkschaft der Zukunft geht für mich etwas vergessen, dass sich die Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten massiv verändert haben. Als ich Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger politisiert wurde, waren die Gewerkschaften das Konservativste in der Linken überhaupt. Alte, finster guckende Männer, die jeder sozialen Bewegung mit Misstrauen begegneten. Das waren unsere Feinde damals! Die sklerotischen Gewerkschaften haben sich geöffnet, sie wurden wieder mobilisierungs- und streikfähig.
Die Gewerkschaftsbewegung steht vor einer wichtigen personellen Entscheidung: Paul Rechsteiner tritt nach zwanzig Jahren als Präsident zurück, Barbara Gysi und Pierre-Yves Maillard kandidieren für die Nachfolge. Was ist die wichtigste Aufgabe der neuen Präsidentin, des neuen Präsidenten?
Natascha Wey: Eine Herausforderung ist sicher, wie sich die Gewerkschaften, die grosse Unia und die kleinen wie der SEV, Syndicom und der VPOD, weiterentwickeln. Auf alle Fälle müssen alle neue Mitglieder gewinnen. Und da sind für mich die Frauenberufe schon die Zukunft: Die Dienstleistungsberufe, die Pflegeberufe, die müssen wir angehen.
Braucht es dazu eine Frau als Präsidentin?
Natascha Wey: Es ist schlicht glaubwürdiger. Ehrlich gesagt, ich will jetzt als Frau endlich eine Leaderin und bin nicht bereit, Konzessionen zu machen. Ich traue Barbara Gysi das Amt zu, das ist für mich keine Frage.
Stefan Keller: Ich bin auch Delegierter und kann wählen. Ich habe mich noch nicht entschieden. Ich werde die Person wählen, die mehr überzeugt in der Antwort auf die grossen gesellschaftlichen Herausforderungen, bei der Europafrage, bei der Migrationsfrage, aktuell bei den Menschenrechten. Letztlich ist die Wahl auch nicht so wichtig, über den grundsätzlichen Kurs gibt es wenig Streit.
Natascha Wey: Aber die Wahl hat einen hohen Symbolwert.
Florian Keller: Ich werde Barbara Gysi wählen. Ich finde auch, dass es keine inhaltliche Divergenz gibt. Aber es geht ums Symbol.
Quelle: woz.ch… vom 16. November 2018
Tags: Arbeiterbewegung, Frauenbewegung, Gewerkschaften, Landesstreik, Widerstand
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