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Genf: Insel des Widerstandes im Meer der Austeritätspolitik

Eingereicht on 20. Dezember 2015 – 12:58

Willi Eberle. Ist Genf die einzige Schweizer Insel des Widerstandes im öffentlichen Dienst gegen die Ausbeutungspolitik der Reichen an den Lohnabhängigen, den Alten und der Jugend?

Übertreiben wollen wir nicht, auch wenn die seit Jahren zu beobachtenden – schwachen – Kampfzyklen in der Schweiz auf die Romandie und das Tessin beschränkt bleiben und Genf bezüglich Kampfdichte einen Spitzenplatz einnimmt. Währenddessen aber gehen die Angriffe via einer an Tempo zunehmenden Austeritätspolitik überall weiter, auch wenn sie in Genf – aufgrund der sieben Tage Streik und der acht grösseren Demos – ins Stocken geraten ist. Was sind die Zusammenhänge?

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Am  10., 11. und 12. November 2015 traten die Angestellten des Kantons Genf in einen dreitägigen, gut befolgten Streik (siehe auf dieser Seite: Die Unternehmungssteuerreform und der Streik in Genf). In der Folge wurde an vier weiteren Tagen gestreikt, weil die Regierung nicht auf die Forderungen der Streikenden eintreten wollte. Diese ihrerseits wurden von einer breiten Öffentlichkeit in ihren Forderungen unterstützt, was sich unter anderem an den acht grösseren Manifestationen durch eine relativ hohe Beteiligung ablesen lässt.

An der ersten Manifestation nach dem Streik vom 10., 11. und 12. November beteiligten sich beispielsweise bis zu 10´000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Für den Kanton Genf arbeiten gegen 33´000 Staatsangestellte. Aufgrund von gesetzlichen Bestimmungen dürfen die Angestellten des Flughafens, in den Pflegeberufen, in den öffentlichen Verkehrsbetrieben und in anderen Bereichen nur beschränkt streiken, da sie eine Grundversorgung sicherstellen müssen.

Worum geht es?

Die Regierung des Kantons Genf, der Staatsrat, hat im Herbst ein Sparpaket vorgestellt, mit dem durch eine lineare Kürzung des Budgets um 1% ca. 80 Millionen Franken «gespart» werden sollen. Insbesondere sollen die Lohnkosten um 5% gekürzt, die Arbeitszeit auf 42 Wochenstunden verlängert und ein Einstellungsstopp («Personal Stop») erlassen werden. Als Begründung wurde, neben einer Verschuldung von 13 Milliarden Franken, die Verminderung der Steuereinnahmen aufgrund der vorgesehenen Umsetzung der – noch nicht einmal beschlossenen! – eidgenössischen Unternehmenssteuerreform III.

Genf gehört mit Zug und Zürich zu den Kantonen, die aufgrund ihrer guten Finanzlage und den hohen Steuereinnahmen weiterhin am meisten in den nationalen Finanzausgleich (NFA) bezahlen, obwohl seine Schuldenquote leicht über dem Schweizer-Durchschnitt von 48% liegt. Polemisch wurde von der Presse angeführt, dass Genf mit einer pro-Kopf-Verschuldung von 33’800 Franken schlimmer dastehe als der «Pleitestaat Griechenland» mit einer solchen von 29’500 Franken. Die Waffen (der Argumente) verraten den Gegner!

Genf hat über Jahrzehnte die multinationalen Konzerne und die Holdings im Rahmen des Steuerwettbewerbs mit besonders günstigen Steuertarifen angelockt. Diese müssten fortan im Rahmen der OECD-Regeln steuerlich gleichbehandelt werden wie die einheimischen Unternehmen. Dies veranlasst den Staatsrat, bereits jetzt in einer allgemeinen Senkung die Unternehmenssteuern auf einen Satz um die 13% zu senken – was ein internationaler «Rekord» darstellt. Dadurch würden die Steuern auch für einheimische Unternehmen um über 10% gesenkt! Dieses grosszügige Geschenk an die Reichen und Unternehmen muss natürlich von irgendjemandem bezahlt werden. Und dies sind – so die Meinung der Regierung und ihrer Sponsoren – die Staatsangestellten, die Jugendlichen und die Alten.

Die Sponsoren der Regierung stammen aus der regionalen Wirtschaft, dem Immobiliengeschäft, aus Eliteschulen, internationalen Konzernen und internationalen Organisationen, beispielsweise aus dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (siehe dazu auch die Hinweise in Genève: septième jour de grève de la fonction publique auf alencontre.org vom 15. Dezember 2015).

Zwischenhalt – Atempause oder Sieg?

In den üblichen Scharmützeln in den Medien, wo die Unternehmer und ihre Statthalter und Statthalterinnen in den Regierungen und Medien versuchen, Mobilisierungen herunterzuspielen, hat die Regierung die Teilnahme an den Streiks auf unter 5% beziffert, wobei sie später zugeben musste, dass es mindestens drei Wochen dauern dürfte, da genauere Angaben machen zu können. (Tribune de Genève vom 4. Dezember 2015). Demgegenüber sprechen die Organisatoren von einer sehr hohen Beteiligung.

Jedenfalls ist dieser Vorstoss der Genfer Regierung auf einen breiten – und heterogenen – Widerstand gestossen. Sowohl die linken Parteien wie auch der weit rechts politisierende Mouvement Citoyens Genevois (MCG) lehnen das Paket ab; im MCG sind einige Leute aus dem Polizeikorps organisiert, die teilweise selbst am Streik beteiligt waren. Der Budgetvorschlag der Regierung wurde am 18. Dezember im kantonalen Parlament mit grossem Mehr abgelehnt. Die über 2´000 Teilnehmenden an einer Manifestation vor dem Ratsgebäude jedenfalls hat dies gefreut.

Das Streikkomitee aus dem Genfer Gewerkschaftskartell und dem VPOD jedenfalls hat einen Tag zuvor eine Vereinbarung mit der Regierung geschlossen, mit der diese mit den Personalorganisationen das Gespräch sucht, um die offenen Fragen bis zum 21. März 2016 zu klären. Die Vollversammlung der Streikenden vom 16. Dezember hält weiterhin an den Forderungen fest, die Abbaumassnahmen zurückzunehmen. Dieser Kampf ist sicher noch nicht zu Ende, aber ein wichtiger Etappensieg ist errungen. Auch wegen der Verwirrung im bürgerlichen Lager, aber der Hauptgrund für diesen Etappensieg ist und bleibt, dass sich die Staatsangestellten selbst zur Wehr gesetzt haben!

Und dies ist in der Schweiz schon sehr viel! Wenn man bedenkt, dass in allen Kantonen und in den meisten Städten über die vergangene Periode ähnliche oder noch härtere Abbauprogramme ungehindert angelaufen sind, weitgehend ohne Gegenwehr! Ein entscheidender Grund, dass gerade in Genf der Widerstand aufflammt, besteht in einer gewissen Kampfbereitschaft der lokalen Gewerkschaftsführung gerade im öffentlichen Dienst, die über die vergangenen vier bis fünf Jahre mehrere harte und teilweise siegreiche Kämpfe angeführt hat. Erinnert seien an die teilweise verzweifelten Kämpfe am Genfer Flughafen und im Gesundheitsbereich.

Ansätze zu solcher Kampfbereitschaft gibt es auch beim VPOD Fribourg oder bei der Unia im Tessin. Diese Bereitschaft und Erfahrung fehlt an anderen Orten, insbesondere in der Deutschschweiz. Durch solche Kämpfe konnten sich mehrere Tausend Lohnabhängige im öffentlichen Dienst in Genf die wertvolle Erfahrung aneignen, dass kämpfen möglich, ja notwendig ist, um der immer schärfer rollenden Walze der Angriffe auf ihre Löhne, Arbeits- und Lebensbedingungen zumindest für eine gewisse Zeitspanne Dampf wegzunehmen. Man nehme sich ein Beispiel!

Vorwärts vom 15. Januar 2016

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